Modul 3 – Einheit 3
Es war einmal… – Wie Geschichten entstehen
Hintergrundwissen für Anwender*innen:
Jeder Mensch nimmt die Welt durch einen eigenen Filter wahr, geprägt von persönlichen Erfahrungen, Gefühlen, Werten und Perspektiven. In pädagogischen Kontexten ist es daher wichtig, zu verdeutlichen, dass „Wahrheit“ keine objektive Realität ist, sondern durch den Blickwinkel des Betrachtenden gefärbt wird.
Die folgende Einheit stellt einen Dreischritt dar: Die TN arbeiten zunächst mit der Geschichte „Der Vorfall“, eine spielerische Annäherung an das Zustandekommen unterschiedlicher Geschichten. Sie werden sich anschließend mit der Entstehung der vier Evangelien widmen und zum Abschluss einen synoptischen Vergleich der Passionsgeschichten vornehmen. Nach den ersten beiden Schritten sollten die TN ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen teilen, und deuten können, welche Unterschiede sich in den Erzählungen bilden, da jede Person auf unterschiedliche Details und Aspekte achtet.
Für diese Einheit ist es wichtig zu verstehen, dass Menschen nicht nur erzählen, was sie gesehen haben, sondern vor allem das, was ihnen persönlich am wichtigsten ist und was sie betonen möchte. Ebenso haben auch die Evangelisten die Geschichten über Jesus erzählt, um bestimmte Aspekte seines Lebens hervorzuheben (z.B. Jesu göttliche Natur, seine Barmherzigkeit, seine Erfüllung der jüdischen Tradition). Dies lässt sich gut an die Lebenswelt der TN andocken: Gerüchte, Missverständnisse und unterschiedliche Versionen von Ereignissen kommen ständig im Alltag vor. Die TN sollten erkennen, dass es normal ist, dass verschiedene Personen dieselbe Geschichte unterschiedlich wahrnehmen und erzählen. Durch die Sensibilisierung für subjektive Prägungen und die Entstehung von Geschichten sowie auf Grundlage des bisher erworbenen Wissens über die historischen und sozialen Umstände zur Zeit der Kreuzigung Jesu können die Unterschiede zwischen den Evangelien in dieser Einheit nun besser verstanden werden.
Es ist wichtig, die zentralen Punkte zusammenzufassen und die Jugendlichen dazu anzuregen, unterschiedliche Perspektiven in Geschichten im Alltag zu erkennen, sei es in Nachrichten, Erzählungen oder im Umgang mit anderen.
Im Abschluss sollten die wesentlichen Ergebnisse der Diskussion hervorgehoben werden, wobei die Vielfalt der Perspektiven in den Evangelien betont wird. Zudem sollte zur Reflexion über die verschiedenen Rollen von Charakteren in biblischen Erzählungen angeregt werden, um die Bedeutung von Perspektive für das Verständnis von Geschichten zu verdeutlichen.
Weiterführendes Material:
In ihrem Text „Die Passionsgeschichte ohne Verschwörung erzählen“ fasst Katharina von Kellenbach sehr nachvollziehbar und prägnant sowohl die historische Situation der Kreuzigung als auch die der Entstehung der Evangelien zusammen und macht deutlich wo antisemitische Fallstricke in Rezeption und Auslegung der Passionsgeschichten liegen.
Ziel
Ziel dieser Einheit ist es, dass die TN die Entstehung, Zielgruppen und zentralen Botschaften der vier Evangelien verstehen und deren Zusammenhänge erkennen. Sie sollen begreifen, dass Ereignisse von verschiedenen Menschen unterschiedlich wahrgenommen und erzählt werden können, und verstehen, dass die Evangelien als narrative Berichte mit spezifischen Absichten und Perspektiven verfasst wurden, nicht als objektive historische Tatsachen. Die TN sollen die Passionsgeschichten der Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes miteinander vergleichen, wobei der Schwerpunkt auf der Analyse der Rolle von Judas und seiner Darstellung in den verschiedenen Evangelien liegt.
Ablauf
Der Vorfall
- Die Einheit startet mit einem Gedankenexperiment. Die TN schließen die Augen und es wird mit folgender Frage eingeleitet: „Stellt euch vor, ihr seid auf einer Klassenfahrt oder einem Ausflug. Ihr erlebt einen Vorfall: jemand verliert etwas Wichtiges. Denkt für einen Moment daran, was für euch in einer solchen Situation am wichtigsten wäre.“
- Die TN öffnen die Augen und in einem kurzen Blitzlicht werden die Eindrücke/Antworten gesammelt.
- Es folgt die Erklärung für den Grund des kleinen Experiments: „Das, worauf wir uns fokussieren, wie wir ein Ereignis erleben, hängt von vielen Dingen ab: von unseren Gefühlen, unserem Hintergrund, unserer Beziehung zu anderen Menschen. Jetzt wollen wir uns mit dieser Idee näher beschäftigen.“
- Die TN werden in vier Gruppen eingeteilt und jede Gruppe erhält eine Version der Geschichte „Der Vorfall“ (s. Material).
Arbeitsauftrag: Überlegt euch, wie ihr die Geschichte den anderen erzählen möchtet. Versetzt euch in die Hauptfigur: Wie fühlt sie sich? Welche Ängste, Wünsche und Motive stehen im Vordergrund? Arbeitet nun eine Version der Geschichte heraus, die ihr vortragen könnt.
- Jede Gruppe präsentiert ihre Version der Geschichte im Plenum, je nach Vorliebe und Spaßfaktor gerne ausgeschmückt und lebhaft.
- Gemeinsame Reflexion im Plenum mit folgenden Diskussionsfragen:
Hinweis: Die TN sollten im Gespräch erkennen, dass es sich um verschiedene Versionen derselben Geschichte handelt, dass es kein „wahr“ oder „falsch“ gibt und dass es quasi unmöglich ist, eine Geschichte zu erzählen „wie sie wirklich war“. Jede Nacherzählung ist immer von dem geprägt, wie wir sie hören, was das persönlich mit uns macht, welche Aspekte für uns relevant sind.
- Was habt ihr in den verschiedenen Geschichten beobachtet?
- Wie unterscheiden sich die Erzählungen voneinander, obwohl sie auf dem gleichen Ereignis basieren?
- Was hat die Wahrnehmung der Personen beeinflusst? Waren es ihre Emotionen, ihre Rolle in der Gruppe oder ihre Absichten?
- Was ist „wahr“/“wirklich passiert“?
- Welche Funktion hat die Art der Erzählung für die erzählende Person?
Hinweis: Hier kann es hilfreich sein, den TN einen Rückbezug in ihre eigene Lebenswelt anzubieten: Wann und warum erzählst du ausgewählte Aspekte einer Geschichte und bestimmte Aspekte nicht? Was teilst du von dir, was nicht? Welche Geschichten lassen sich leichter erzählen als andere aus deinem Alltag?
Methode
– Gruppenarbeit; „szenisches Spiel“
– Plenumsdiskussion
Material
Ablauf
Die Evangelien
- Kurzer Einstiegsimpuls mit Erklärung der vier Evangelien (Markus, Matthäus, Lukas, Johannes), ihrer Unterschiede in Bezug auf Entstehung, Zielgruppen und zentrale Themen. Dabei sollte eine Visualisierung des Impulses stattfinden.
Hinweis: Eine Vorlage, wie diese Visualisierung aussehen könnte, s. Material.
- Die TN werden in vier Gruppen eingeteilt, wobei jede Gruppe eines der Evangelien repräsentiert. Die Gruppen bekommen jeweils ein „Evangelien-Dossier“ (s. Material) mit den wichtigsten Informationen zu ihrem Evangelium, z.B. Autor, Entstehungszeit, Zielgruppe und zentrale Themen.
Arbeitsauftrag:
Entwerft ein kurzes Theaterstück oder eine Performance (ca. 3 Minuten), in denen ihr die wichtigsten Merkmale eures Evangeliums vermittelt. Dabei solltet ihr folgende Anforderungen erfüllen: a) Stellt einen wichtigen Moment, aus dem Leben Jesu dar, der die Perspektive des Evangeliums widerspiegelt; b) Arbeitet in die Szene eine Interaktion zwischen Jesu und anderen Personen (Jünger*innen, Pharisäer*innen, Bürger*innen) ein; c) Erklärt die Intention des Evangelisten (Warum wurde das Evangelium geschrieben und welche Botschaft wollte er damit vermitteln?)
Hinweis: Um die Kreativität zu fördern, können sie Requisiten oder Kostüme verwenden.
- Die Gruppen führen ihre Szenen vor. Nach jeder Aufführung können die Zusehenden Fragen stellen.
- Abschließende Auswertungs- und Reflexionsrunde unter folgenden Diskussionsfragen:
- Was hat euch an der Erarbeitung eurer Szenen gefallen?
- Welches Evangelium hat euch am meisten angesprochen und warum?
- Wie unterschiedlich war die Sichtweise auf Jesus in den verschiedenen Szenen?
- Wie beeinflussen die unterschiedlichen Perspektiven in den Evangelien die Botschaft Jesu und wie trägt diese Vielfalt zur Theologie des Neuen Testaments bei?
- Falls nicht vorher von den TN selbst schon eingebracht – Rückbindung an „Der Vorfall“: Erinnert euch an die erste Übung zurück. Wie beeinflusst das, was ihr dort erfahren/gelernt hat, euren Blick auf die Evangelisten und ihren Blick auf Jesus?
Methode
– Szenisches Spiel
Material
Ablauf
Passionsgeschichten-Puzzle:
- Kurzer Einstiegsimpuls mit Erklärung der Passionsgeschichten und der Rolle des Judas in diesen Erzählungen. Dabei ist es wichtig zu erklären, dass Judas in allen Evangelien eine zentrale Figur ist, deren Darstellung jedoch variiert.
- Die TN werden in vier Gruppen eingeteilt, wobei jede Gruppe eine der Passionsgeschichten repräsentiert: (Markus [Mk 14-15], Matthäus [Mt 26-27], Lukas [Lk 22-23], Johannes [Joh 18-19]). Die Gruppen bekommen einen Abschnitt der Passionsgeschichte mit Fokus auf die Szenen, in denen Judas erwähnt wird (s. Material).
Arbeitsauftrag:
Lest die Passionsgeschichte und markiert die Stellen, an denen Judas erwähnt wird. Analysiert den Text anschließend unter folgenden Fragestellungen und erstellt abschließend eine Zusammenfassung eurer Ergebnisse:
- Welche Beweggründe hat Judas in dieser Erzählung?
- Wie wird Judas sowohl von Jesus als auch von anderen Charakteren dargestellt?
- Welche Emotionen und Reaktionen werden mit der Figur Judas in Verbindung gebracht?
- In welcher Weise unterscheidet sich die Darstellung von Judas in diesem Evangelium im Vergleich zu den anderen Evangelien?
- Wie reagiert Jesus auf die Verhaftenden?
- Welche Bedeutung hat der Kuss in dieser Geschichte?
- Die Ergebnisse der Gruppenarbeit werden im Plenum präsentiert. Anschließend werden die wichtigsten Punkte an der Tafel/der Flipchart visualisiert, um eine Übersicht über die unterschiedlichen Darstellungen von Judas zu erstellen.
- Plenumsdiskussion unter folgenden Fragestellungen:
- Wie unterscheiden sich die Darstellungen von Judas in den verschiedenen Evangelien?
- Was könnte der Grund für diese Unterschiede sein?
- Welche Emotionen werden mit Judas‘ Verrat verbunden, und wie könnten diese die Leser*innen beeinflussen?
- Inwiefern könnte die Darstellung von Judas das Verständnis der Passionsgeschichte beeinflussen?
- Wie ist die Reaktionen von Jesus auf Judas‘ Handeln in den einzelnen Evangelien und was sagt dies über die Beziehung zwischen Jesus und Judas aus?
- Falls nicht vorher von den TN selbst schon eingebracht – Rückbindung an „Der Vorfall“ & „Die Evangelien“: Erinnert euch an die vorherigen Übungen zurück. Wie beeinflusst das, was ihr dort erfahren/gelernt hat, euren Blick auf die Evangelisten und ihren Blick auf Jesus und Judas?
Methode
– Gruppenarbeit
– Plenumsdiskussion