Antisemitismus als politische Theologie

Typologien und Welterklärungsmuster

Antisemitismus

Publiziert: 2017

epd-Dokumentation 17/2017

Bericht zur Tagung der Evangelischen Akademie zu Berlin, 24. bis 26. Januar 2017

Vorwort

In der bundesdeutschen und europäischen Antisemitismusforschung spielen Theologie und Kirchengeschichte kaum eine Rolle. Sowohl die Wurzeln des säkularen Antisemitismus wie auch Teile seiner Gegenwart sind aber christlich religiös bestimmt. Deshalb kommen unter Absehung dieser Bestimmung zentrale Motive, die zum Verstehen von Antisemitismus beitragen könnten, nicht in den Blick.
Für die christliche Theologie gilt, dass die Bearbeitung des Antisemitismus zentral ist für die Aufarbeitung
eigener Gewalttraditionen, für ein Akzeptieren der Ambivalenzen im Glauben und für den Verzicht auf christliche Identitätsbildung durch immer wieder auch gewaltförmige Ab- und Ausgrenzung. Abwehr von Ambivalenzen, Identitätsbildung durch Ausgrenzung gerade im Bereich des Nationalen sind auch im
säkularen Antisemitismus virulent. Die Antisemitismusforschung müsste sich zum besseren Verstehen theologischen Fragen öffnen.1 Dann würde sichtbar, dass der säkulare Antisemitismus, fast ließe sich sagen, »gnadenlos« christlich grundiert ist und erst dann wohl adäquat zu bearbeiten wäre.

Im 20. Jahrhundert haben Horkheimer/Adorno diesen Zusammenhang wohl am deutlichsten gesehen und
zum Ausdruck gebracht: »Schwerlich aber ist die religiöse Feindschaft, die für zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb, ganz erloschen. Eher bezeugt der Eifer, mit dem der Antisemitismus seine religiöse Tradition verleugnet, daß sie ihm insgeheim nicht weniger tief innewohnt als dem Glaubenseifer
früher einmal die profane Idiosynkrasie. Religion ward als Kulturgut eingegliedert, nicht aufgehoben.«2

Es findet also eine Veränderung der Rolle von christlicher Religion statt, doch die Relevanz religiöser Motive im Antisemitismus bleibt bestehen, ihr Movens wird transponiert. Auch wenn der Nationalismus Ähnlichkei-ten mit jener religiösen Leidenschaft aufweist und in vielen Fällen gerade im deutschen Protestantismus mit Religion verbunden wird, gebärden er und der säkulare Antisemitismus sich zunächst antireligiös. Fast könn-ten wir das Bild des Schachautomaten von Walter Benjamin gegen seine Intention lesen und die Theologie, »die ja bekanntlich klein und hässlich ist«, dem säkularen Antisemitismus den Arm führend uns vorstellen. Wie diese Beziehung im Einzelnen zu beschreiben ist und das Einschreiben des Religiösen in den sogenannten säkularen Antisemitis-mus vor sich ging, das versuchten die Vortragenden auf einer Tagung der Evangelischen Akademie zu Berlin unter dem etwas provozierenden Titel »Antisemitismus als politische Theologie« im Rahmen eines fünfjährigen Projektes der Evangelischen Akademien in Deutschland Antisemitismus und Protestantismus. Verstrickungen, Beiträge, Lern-prozesse« zu sondieren. 
Kontrovers blieb dieser Titel bis zum Schluss der Tagung, verweist er doch auf zwei völlig verschiedene Her-künfte. Zum einen auf Carl Schmitt und seine auf einer dualen Struktur von Freund und Feind aufbauenden politischen Theologie und zum anderen auf die aus der Innerlichkeit sich lösen wollende politische Theologie von Johann Baptist Metz und Jürgen Moltmann, um nur zwei Vertreter eines kritischen und gesellschaftlich aktiven Christentums zu nennen. Die Veranstalter*innen kamen am Ende zu dem Schluss, dass gerade wegen der Assoziation zu Carl Schmitt der Titel seine Stärke hat, aber recht eigentlich vielleicht von politischer Religion hätte gesprochen werden müssen.

Dr. Christian Staffa, Berlin, April 2017

Anmerkungen:
1 vgl. dazu auch Klaus Holz, der im moder-nen Antisemitismus eine Rekombination von Säkularem und Religiösem sieht: Luthers Abweg. Die evangelische Kirche stellt sich dem Judenhass des Wittenberger Reforma-tors. Für die unselige Geschichte, wie der Protestantismus völkisch wurde, bleibt sie blind, in: Die Zeit, 24. November 2016,  
S. 49.
2 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung, in: Dies., Dialektik der Aufklä-rung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt am Main 1998, S. 177 – S. 217, hier 185.