Für Volk und Abendland!
Wie viel Religion verträgt Demokratie?

Rassismus

Publiziert: 2015

Vortrag am 20. März 2015 in Waren/Müritz

Einleitung

Wie viel Religion verträgt die Demokratie? Noch vor ein paar Jahren, hätte sich diese Frage, jedenfalls in Ostdeutschland,  nicht gerade nahegelegt. Doch jetzt scheint die Religion in die Gesellschaft zurückzukehren – und das auf höchst gefährliche Weise. Nahezu täglich hören wir von Gotteskriegern, die die Lizenz zum Töten aus ihren heiligen Schriften herauslesen. Doch Religion ist eben nicht gleich Religion.

Brisant wird es, wenn hervortritt, welche praktischen Konsequenzen die Religion für die Lebensführung hat. Bei den Religionskriegen, die heute ausgefochten werden, handelt es sich in Wirklichkeit ja doch um Kulturkriege, um die Durchsetzung oder Abwehr von Lebensformen und Gesellschaftsformationen, um moralische Ordnungen, um Werte und Normen. Die Auseinandersetzung geht nicht um theologische und philosophische Begründungen der Existenz Gottes. Auf dem Spiel stehen die Reichweite und die Grenzen der menschlichen Freiheit. Allerdings auch der Religionsfreiheit! Die Religionsfrage greift mitten ins Leben, weil sie sich tatsächlich auf engste berührt mit der Frage, wie wir eigentlich leben wollen, was uns unbedingt wichtig ist, und wie wir mit dem uns Fremden, dem religiös Fremden und dem kulturell Fremden, umgehen wollen.

Soziologen haben festgestellt, dass die Teilnehmer an den Pegida-Demonstrationen weit überwiegend einerseits jung, männlich und konfessionslos sind, andererseits keine Muslime aus der Nähe kennen. Doch sie demonstrieren, um gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ zu protestieren. Jung, männlich, konfessionslos, ohne jeden Bezug zu gelebter Religion, sei sie christlich oder muslimisch, aber dann gegen „Islamisierung“ protestierend: Kann deutlicher auf der Hand liegen, dass sich hier eine ebenso religiöse wie kulturelle Verunsicherung, ja, eine komplette geistige Desorientierung Ausdruck verschafft? Man nimmt die Muslime zwar nur von Ferne wahr, aber was man dabei doch sieht und wovor man Angst bekommt, ist, dass es offensichtlich Muslime sind, die im Glauben an die Größe ihres Gottes zum Äußersten bereit sind. Man selbst hingegen weiß nicht, wohin man gehört, was dem eigenen Leben einen höheren Sinn gibt, für welche Ziele eigentlich zu leben sich lohnt.

Der ehemalige Bischof der evangelischen Kirche in Sachsen-Anhalt, Axel Noack, hat in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung von der Mehrheit der Ostdeutschen, die ja keiner Kirche mehr angehören, behauptet, sie hätten nicht nur Gott vergessen, sondern vergessen, dass sie Gott vergessen haben. Ich konnte dieser Behauptung schon damals nicht zustimmen. Gewiss, die Menschen in der Tradition der atheistischen Propaganda der DDR hatten vergessen, wie in der Kirche von Gott geredet wird. Dafür sind sie schon zu lange nicht mehr dort gewesen. Nicht aber konnten sie übersehen, dass der Sozialismus und die Partei, die immer recht hat, eine weltanschaulich orientierende Gewissheit gaben. Jetzt, nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, war und ist da eine Leerstelle, keine Größe in Sicht, die die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft sichert und Gewissheit über die Bestimmung des eigenen Lebens gibt. Welche Größe könnte das sein? Deutschland, Europa, das Christentum, die Kirche?

Religion ist das, was Menschen ihre sie weltanschaulich orientierende Gewissheit gibt, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen. Religion ist das, was Menschen das Gefühl gibt, dass ihr Leben einen Sinn hat und sie wissen, wozu sie auf der Welt sind. Religion ist das, woran Menschen ihr Herz hängen. Erst wenn man es so sieht wird, im Ausgang von einem solch weiten Religionsbegriff, wird verständlich, dass die Religionen in allen geschichtlichen Zivilisationen und auch in der heutigen Weltgesellschaft eine ebenso wichtige wie gefährliche Sinnorientierungsmacht darstellen.[1]

Die moderne Situation, manche sagen auch, die postmoderne Situation, ist zugleich dadurch gekennzeichnet, dass die Religion als weltanschaulich orientierende Gewissheit nicht nur in den religiösen Gemeinschaften vorkommt. Sie kann vielmehr alles und jedes mit mächtigen Bindungskräften und aufs Ganze gehenden Handlungsenergien versehen, so auch politische Bewegungen oder pseudopolitische Bewegungen.[2] Jedes Lebensinteresse kann mit unbedingter Bedeutsamkeit aufgeladen werden. An alles können Menschen total ihr Herz hängen. So entstehen auch die Ideologien: Der Kommunismus und der Sozialismus, der Kapitalismus und der Konsumismus, der Nationalismus und der Fremdenhass. Das alles kann sich mit Bewegungen verbinden, die religiösen Charakter annehmen.

Der Furor des Anspruch aufs Unbedingte tritt uns vor Augen, wenn wir feststellen müssen, dass die Religion zur Legitimation dessen benutzt werden kann, dass Menschen zur Waffe greifen, aber diese ein vollkommen reines Gewissenhaben, weil sie im höheren, göttlichen Auftrag handeln. Man macht es sich zu leicht, wenn man von einer Instrumentalisierung der Religion für politische Absichten spricht. Denn die Menschen die sich aus religiösen Motiven sogar töten, glauben ja wirklich, im Auftrag ihres Gottes zu handeln. Jede Form von religiösem Fundamentalismus, so muss man sagen, beruft sich auf unerschütterliche Fundamente, unbedingte Prinzipien, die nicht mehr in Frage gestellt werden. Jeder Fundamentalismus, auch ein solcher, der wie eine politische Bewegung aussieht, arbeitet gewissermaßen mit Religion, brauchte letzte, nicht mehr weiter befragbare, nicht mehr diskutierbare Letztgewissheiten und Grundüberzeugungen.

Das genau ist es, was Religion so gefährlich macht. In Gottes Namen werden die größten Untaten begangen. In Gottes Namen geschehen freilich ebenso die bewundernswertesten Wohltaten. Die Ambivalenz der Religion sowie die Vieldeutigkeit der Rede auch von Gott und seinem Willen, dürfen uns dennoch nicht zu dem Schluss veranlassen, dass es besser wäre, man würde die Religion abschaffen bzw. dafür sorgen, dass die Menschen ohne Religion auskommen. Die Religion lässt sich gar nicht abschaffen. Auch dort, wo Menschen behaupten, sie hätten nichts mit Religion zu tun, stoßen wir auf letzte Grundüberzeugungen, haben Menschen ihre Werte, die sie für absolut verbindlich erachten. Die Frage, ob die Menschen an Gott glauben, ist gar nicht so entscheidend dafür, ob sie Religion haben oder nicht. Es gibt so viel Religion ohne den Glauben an Gott.

Die Religion abzuschaffen, sie durch Wissenschaft ersetzen zu wollen, durch rationale Aufklärung zu bekämpfen oder auch nur einen nüchternen Wirklichkeitssinn an ihre Stelle treten zu lassen, ist keine Lösung. Denn wir Menschen können ohne aufs Ganze gehende, ohne weltanschaulich orientierende Gewissheit nicht leben. Wir brauchen eine ideelle Basis und soziale Zugehörigkeiten, aus denen uns die Gewissheit zuwächst, dass wir in die Welt passen, dass unser Leben einen Sinn hat, dass wir letztlich nicht vergeblich leben. Im Grunde gibt sich niemand damit schon ganz zufrieden, dass das, was dem eigenen Leben Bedeutsamkeit gibt, nur von relativem Wert ist, und sei dies die Familie, die Gesundheit oder das Haus im Grünen. Alles, woran ein Mensch sein Herz hängt, hat nur dann wirklich einen Wert, wenn dadurch das Ganze eines Lebens einen Sinn bekommt. Und in eben diesem Ausgriff auf das Ganze wohnt das religiöse Moment unweigerlich inne.

Wo man die Religion und die religiöse Gemeinschaft, den Glauben und die Kirche abschaffen wollte, wo man sie bekämpft hat, dort ist immer anderes an deren Stelle trat, das dann mit absoluter Bedeutung und autoritativer Wahrheitsmacht aufgeladen wurde. So wurde auch die Wissenschaft zur Weltanschauung, an die es zu glauben galt. So wurde die Nation oder die Partei, der Sozialismus oder der Kapitalismus zur einer unabdingbare Gefolgschaft verlangenden Ideologie. Das alles ist in der jüngeren Geschichte vorgekommen. Und das alles kommt auch heute wieder vor. Es kommt in der Wissenschaft vor, wenn, wie durch den Evolutionsbiologen Richard Dawkins[3], im Namen wissenschaftlicher Rationalität zu einem neuen Atheismus aufgerufen wird. Es kommt auch von Seiten der Religionen und religiösen Bewegungen vor. Es kommt auf Seiten politischer Parteien und Bewegungen vor und dies keineswegs nur im Kontext des Islam. Immer wird Religion zu einer gefährlichen, totalitären Macht, wenn die weltanschaulich orientierende Gewissheit, die sie stiftet, wenn der Sinn, den sie dem Leben gibt, mit politischen Programmen, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, mit religiösen Dogmen und Lehren oder auch nur mit zwar schönen und bekömmlichen, aber doch vergänglichen und endlichen Dingen direkt identifiziert wird.

Religion realisiert sich nur dann als eine gute, lebensdienliche Reaktion auf die Welt, wenn wir zugleich zu unterscheiden lernen, zwischen Bedingtem und Unbedingten, Vorletztem und Letztem. Worauf religiöser Glaube sich bezieht kann nicht etwas in der Welt sein, sondern muss die Welt im Ganzen sein. Auf den Sinn des Ganzen setzt der religiöse Glaube sein Vertrauen. In der Kirche reden wir deshalb von Gott in seiner Unterschiedenheit von der Welt, reden wir Gott dem Schöpfer, der die Welt als Ganze in seinen Händen hält, ermutigen wir zu der Lebenssinngewissheit, die aus dem Vertrauen darauf erwächst, dass Gott nicht fahren lässt die Werke seiner Hände.

Ich finde es deshalb etwas schwierig, Religion zu quantifizieren, um dann zu fragen, wie viel Religion verträgt die Demokratie. Angemessener finde ich es, zu fragen: Welche Religion verträgt die Demokratie, oder noch besser, welche Religion braucht die Demokratie?

Doch bevor ich auf diese Frage noch näher eingehe, will ich mich noch mit der Frage beschäftigen, ob die Religion den Glauben an Gott braucht. Recht viel Aufmerksamkeit hat zuletzt der amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin mit seinem Buch über die „Religion ohne Gott“[4] gefunden. Darauf will ich noch kurz eingehen.

[1] Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München 2013.

[2] Vgl. Wilhelm Gräb, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002.

[3] Richard Dawkins, Der Gotteswahn, 2007.

[4] Ronald Dworkin, Religion ohne Gott, 2014.

2. Gute und schlechte Religion

Der Rechtsphilosoph Dworkin bezeichnet sich als frommen Atheisten. Er bekennt sich dazu, dass für ihn kein Gott existiert, kein höheres, mit Allmacht ausgestattetes Wesen. Er bekennt sich aber ebenso zu seinem Glauben an unbedingt gültige Werte, wie die unverletzliche Würde jedes Menschen, und zu seinem Glauben daran, dass dem Leben ein Sinn innewohnt.

„Religion“, so Dworkin, „ist eine sehr grundlegende, spezifische und umfassende Weltsicht, die besagt, dass ein inhärenter, objektiver Wert alles durchdringt, dass das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten, dass das menschlichen Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat.“[1]

Der Glaube daran, dass das menschliche Leben, das Leben jedes einzelnen Menschen, einen unendlichen Wert in sich selbst trägt, dass es einen Sinn hat und das Universum, also die Welt im Ganzen, eine verstehbar Ordnung, davon überzeugt zu sein, ist für Dworkin Religion. Dabei sieht man, es sind positive Werte, die er mit Religion verbindet, eine lebensdienliche Einstellung zur Welt, die Achtung vor der unverletzlichen Würde jedes Menschen, das Vertrauen in den Sinns des Daseins. Gute Religion, so kann man mit Dworkin sagen, ist eine aufs Ganze gehendes Lebenssinnvertrauen, das sich aber nicht mit dem Glauben an einen personalen Gott verbinden muss. Auch Menschen, die an keinen personalen Gott als Weltschöpfer glauben, können von der Geschöpflichkeit alles Lebens und von seinem unbedingten Sinn überzeugt sein. Im Gegenteil, eine Religion ohne Gott kann sogar besser sein als eine Religion mit Gott. Denn eine Religion mit Gott tendiert leicht zur Unterwerfung unter einen fremden Willen, bzw. unter einen Willen, der als Gottes Wille von den religiösen Anführern ausgegeben wird. Dann werden die guten Werte nicht mehr aus dem Willen zum Tun des Guten befolgt, sondern weil Gott sie gebietet, in der Erwartung göttlicher Belohnung oder aus Angst vor dem göttlichen Strafgericht.

Die Ambivalenz, die Vieldeutigkeit der Rede von Gott und seinem Willen, ist für Dworkin ein zusätzliches Argument dafür, dass ein religiöser Glaube ohne Gott besser sein kann als ein Glaube mit Gott. Dworkin berührt sich übrigens eng mit einer Auffassung, die z.B. auch schon der Theologe Friedrich Schleiermacher in der Folge der Erkenntniskritik Kants und in der Aufnahme romantischen Denkens in seiner Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“, 1799, geäußert hatte. Auch Schleiermacher beschrieb die Religion nicht als Glaube an Gott, sondern verwendete Ausdrücke wie die, dass sie „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ oder die „Anschauung des Universums“ sei.

Ich denke, dass Dworkins Auffassung von der Vorzüglichkeit einer Religion ohne Gott bedenkenswert ist. Religion muss nach ihrer Lebensdienlichkeit beurteilt werden, danach, welche Werte sie verbindlich macht und worin sie den Sinn des Lebens sieht. Eine Religion muss dem Menschen, der sie hat, gut tun und sie muss sich im menschlichen Zusammenleben als förderlich erweisen. Ob eine Religion gut ist und gut tut, ist allerdings nicht immer leicht zu entscheiden.

Gerade was über Gott gesagt wird, kann in höchst unterschiedlicher Weise in die Begründung menschlichen Handelns Eingang finden. Es kann aus dem Glauben daran, dass Gott Liebe ist, auch der Befehl zum Mord an den Ungläubigen abgeleitet werden. Vorstellungen von einem strafenden, den Sündern und Ungläubigen zornigen Gott können Menschen in ein negatives Selbstverhältnis führen und zu unmenschlichen Handlungen befähigen. Im Umgang mit religiösen Symbolsprachen ist höchste Vorsicht geboten. Immer gilt es darauf zu sehen, welche menschlichen Interessen, welche Machtansprüche, welche Erfahrungen bei der Auslegung der Gottesrede im Spiel sind.

Die gelebte Religion braucht religiöse Bildung. Religiöse Bildung kann zu einer kritischen Selbstreflexion im Blick auf die je eigenen Grundüberzeugungen befähigen sowie einem besseren Verständnis der immer vieldeutigen religiösen Symbolsprachen, damit auch der Rede von Gott uns seinem Willen führen.

Es gibt gute und schlechte Religion. Aber es gibt nach meiner Auffassung nicht keine Religion, es gibt keine Menschen ohne Religion, keine Gesellschaft ohne Religion, letztlich auch keinen Menschen ohne Gott. Dann jedenfalls, wenn wir Gott so verstehen, wie Martin Luther ihn im großen Katechismus verstanden hat. Denn danach ist dein Gott das, woran du dein Herz hängst, was dir unbedingt wichtig ist, worauf du im Leben und im Sterben dein Vertrauen setzt. Das ist dein Gott bzw. das ist deine Religion.

Die mir gestellte Frage, „Wie viel Religion verträgt die Demokratie“ würde ich also gerne umformulieren in die Frage, „Welche Religion verträgt die Demokratie bzw. braucht die Demokratie“?

Die Antwort auf diese Frage muss und wird immer positionell ausfallen. Ich versuche sie im Folgenden aus der Perspektive von Christentum und Kirche zu formulieren, versuche zu sagen, was Christentum und Kirche für die Religion der Menschen und die Religion in der Gesellschaft tun und tun können, um die Demokratie, eine freiheitliche und den Wert des Lebens schützende Gesellschaft zu fördern.

Ich gehe dabei, wie gesagt, davon aus, dass die Religion in der Gesellschaft überaus präsent ist, dass alle Menschen irgendwie religiös sind, auch wenn sie sich zum Atheismus bekennen oder behaupten, dass sie mit Religion nichts am Hut hätten. Diese Religion, also die weltanschaulichen Grundüberzeugungen und Sinngewissheiten der Menschen, ist allerdings in der Gesellschaft auf höchst vielgestaltige, ambivalente und gefährliche Weise präsent. Deswegen ist es die Aufgabe von Theologie und Kirche, zu zeigen, was die christliche Religion und die Kirche, die für den christlichen Glauben einsteht zur Entwicklung einer Religion, die einer demokratischen Gesellschaft zuträglich ist, tun können. Was die Demokratie braucht, das sind Menschen mit einer aufgeklärten, selbstkritischen, gleichwohl aber zu einem tiefen Vertrauen in die Güte und den Sinn des Lebens befähigenden Religion. Ich bin überzeugt, dass unsere Kirchen zur Bildung einer solchen Religion viel beitragen können und tatsächlich viel beitragen.

[1] A.a.O. 11.

3. Warum gute Religion demokratiefähig macht und wie Kirche und Gemeinde zu solch guter Religion verhelfen können

a) Die Menschen in ihrem Subjektsein, auch religiösen Subjektsein stärken

Demokratiefördernd können Kirchen und Gemeinden sein, wenn sie sich nicht von der Gesellschaft abgrenzen, sondern Kirche und Gemeinde in und mit der Gesellschaft zu sein sich bemühen. Dann drehen Kirche und Gemeinde sich nicht um sich selbst, sondern sie kümmern sich um die Probleme des Gemeinwesens vor Ort. Dann wollen sie die Menschen nicht eingemeinden, dann geht es ihnen nicht um die Stärkung der Kirche und das Wachstum der Gemeinde, sondern um die Menschen und ihre reale soziale, materielle und kulturelle Situation. Dann wollen sie den Menschen zu einer tragfähigen weltanschaulichen Gewissheit verhelfen, Orientierung für Leben geben. Dann wollen sie die Menschen vor allem als kritische, selbstbewusste, auch religionskritische Bürger stärken. Dann wollen sie religiös aufklärend wirken, die je eigene religiös-weltanschauliche Position klären helfen, sie bewusst machen und in den kritischen Diskurs ziehen. Wichtig ist ihnen, zur je eigenen, persönlichen Glaubensauffassung zu ermutigen, zu deren kritischer Reflexion anzuhalten.

b) Zur Anerkennung anderer in ihrem Andersseins, auch in ihrem religiösen Anderssein befähigen

Unsere Kirchen haben immer noch ein Problem damit, zu ihrer Offenheit zu stehen. Dabei folgt aus der bedingungslosen Anerkennung durch Gott, wie Jesus sie gelebt hat, die Freiheit zur Anerkennung der anderen in ihrem Anderssein, religiösen, kulturellen und politischen Anderssein. Christlicher Glaube kann und will pluralismusfähig machen. Pluralismusfähigkeit wiederum ist eine wichtige Voraussetzung für Demokratiefähigkeit, das Aushalten von Differenzen, von Unterschieden, von Konflikten, die aus Pluralismus notwendigerweise erwachsen. Unsere Kirchen zeichnen sich zwar dadurch aus, dass sie unterschiedliche Formen der Frömmigkeit akzeptieren und die Selbständigkeit im Glauben und Leben fördern, aber sie machen politisch zu wenig daraus und sind sich vielfach auch nicht einig darüber, dass Pluralismusoffenheit und Konfliktfähigkeit der rechte Weg ist, auf den es die Kirche auch in Zukunft zu steuern gilt.

Trotz Mitgliederverlusten sind unsere Kirchen gerade aufgrund ihrer Offenheit, ihrer Toleranz und ihres sozialdiakonischen Engagements gesellschaftlich enorm präsent. Aber sie haben zu oft und zu verbreitet kein gutes Gewissen dabei, jedenfalls nicht, was ihre Offenheit und Toleranz anbelangt – aber auch die Diakonie, vor allem die politische Diakonie, das Engagement für das Gemeinwesen, werden häufig verdächtigt, die geistliche Mitte der Gemeinde in Wort und Sakrament zu verfehlen. Gerade die kerngemeindlich Engagierten tun häufig so, als müsste in der Kirche und vor allem  bei denen, die ihr enger verbunden sind, der Glaube eindeutiger sein, die Botschaft klarer und die spirituelle Dimension christlichen Lebens offensichtlicher. Die Kirchen stehen schlicht nicht energisch genug zu der von ihnen faktisch praktizierten Offenheit, Reflexivität, Toleranz und gesellschaftsöffentlichen, diakonischen Verpflichtung.

Geboten ist die offensive Verteidigung der christlichen Freiheit und der christlichen Verpflichtung zum Wohlwollen gegenüber jedermann, insbesondere den sozial Benachteiligten, den Kranken, Alten und Schwachen gegenüber. Geboten ist ebenso die Achtung der Freiheit der anderen zum religiösen Anderssein. Es müssen nicht alle auf dieselbe Weise ihr Christsein verstehen und leben. Es müssen schon gar nicht alle Christen werden. Mit der Moderne sind wir in das Zeitalter der religiösen Bewegungen und damit der Individualisierung und Pluralisierung der Formen religiösen Lebens, der Globalisierung und damit auch der Begegnung der Weltreligionen eingetreten. Gerade diese Begegnung der Religionen braucht nichts so dringlich als den liberalen Geist der Anerkennung der anderen in ihrem Anderssein. Hier liegt heute die größte Herausforderung für die gesellschaftsöffentliche Wirksamkeit der Kirche.

Eine liberale Kirche lässt unterschiedlichen Ausprägungen des Christlichen in sich selber zu. Die Grenzen zieht sie erst dort, wo die Freiheit, die sie gewährt, zur Bestreitung und Ausschaltung der Freiheit anderer genutzt werden will. Dass eifernde Fundamentalisten eben dazu neigen, wissen wir und sehen sie daher auch als Gefährdung einer offenen Kirche an. Wo im Namen religiöser Autorität politische oder moralische Geltungsansprüche nicht nur geltend gemacht, sondern unmittelbar an der Gewissensentscheidung der Individuen und ihren Partizipationsmöglichkeiten vorbei, zur Durchsetzung gebracht werden, ist die christliche Freiheit verletzt. Dort bedroht die Religion aber auch die Demokratie.

Zulauf und noch stärker die mediale Aufmerksamkeit finden heute zwar gerade diejenigen fundamentalistischen Gruppierungen und freikirchlichen Gemeinden, die auf harte Abgrenzungen setzen und ihren Mitgliedern klare Entscheidungen und normative Verbindlichkeiten abfordern. Hierzulande sind solche Gemeinden dennoch nicht sonderlich repräsentativ und lediglich regional mit großen Zahlen erfolgreich. Nur eine Minderheit selbst unter denen, die religiös besonders aktiv sind, wird von charismatisch allzu überschwänglichen, fundamentalistisch allzu sehr auf Abgrenzung bedachten oder allzu traditionsfixierten Gemeinden angezogen.

Offenheit und Pluralismusfreundlichkeit mussten unsere Kirchen nach 1945 allererst lernen. Sie haben darin bis heute noch nicht ausgelernt. Immer noch ist nicht allen in der Kirche klar, dass in unserer Gesellschaft Religionsfreiheit herrscht und den Individuen das Recht zusteht, ihre religiösen Zugehörigkeitsverhältnisse zu wählen. Menschen haben in einer demokratischen Gesellschaft geradezu die Pflicht, auch in religiösen Dingen, also in den Angelegenheiten ihrer Grundüberzeugungen, sich selbstbestimmt zu verhalten. Sie sind allerdings auch auskunftspflichtig und damit zur kritischen Selbstreflexion ihrer Position angehalten.

c) Eine Halt gebende und im Leben orientierende Gemeinschaft sein

Kirche muss auch Gemeinschaft ermöglichen, die die einzelnen in ihrem Selbstsein und ihrer Glaubensposition stärkt. Menschen müssen sich in der Gemeinde und als Gemeinde zusammenfinden können. Sofern christliche Gemeinde sich selbst recht versteht, ist sie aber nicht sich selbst genug, sondern wirkt wiederum nach außen, in das Ganze der Kirche und in die Gesellschaft hinein. Ohne die aktiven Kernzellen in unseren Gemeinden kann die Kirche aber nicht als eine in das Ganze der Gesellschaft hinein wirksame Kirche fortbestehen. Umgekehrt gilt: Nur wenn die Kerngemeinden davor bewahrt bleiben, sich selbst schon für die Erfüllung des kirchlichen Auftrags zu halten, kann die christliche Freiheit, die das Evangelium schenkt, wirklich frei bleiben. Der christliche Glaube verhilft Menschen zu innerer Festigkeit. Wer aus unbedingtem Sinnvertrauen lebt und nicht mehr meint, das Leben aus eigener Kraft sichern zu müssen, kann sich für andere einsetzen. Wo Kirche und Gemeinden zu solchem Glauben verhelfen, wirken sie auf demokratieförderliche Weise in die Gesellschaft hinein.