Interreligiöse Kompetenz fördern

Lernen an einer interreligiösen Begegnungssituation

 

Diskriminierung

Dieser Beitrag ist entstanden im Rahmen des Forschungsprojekts REVIER, gefördert durch ein Heisenberg-Stipendium und eine Sachbeihilfe der DFG.

Einleitung

Wer fachspezifische Kompetenz fördern will, muss sich zunächst überlegen, in welchen Anwendungssituationen eine solche Kompetenz überhaupt benötigt wird. Das gilt für alle Schulfächer, auch für den Religions- oder Ethikunterricht. In welchen Situationen also – innerhalb, vor allem aber außerhalb der Schule – benötigen Schülerinnen und Schüler in der Gegenwart und in der Zukunft interreligiöse Kompetenz?

Die Antwort liegt nahe: Schülerinnen und Schüler leben in religiös vielfältigen Gemeinwesen, in religiös vielfältigen Kiezen, Städten, Dörfern, Staaten, einer religiös vielfältigen Welt. Deshalb begegnen sie im Alltag Menschen, die anderen Religionen angehören oder mit anderen Weltanschauungen auf die Welt schauen. Das kann bereichernd sein, aber auch zu Missverständnissen und Konflikten führen. Interreligiöse Kompetenz soll sowohl ermöglichen, Bereicherungen zu erfahren und von anderen zu lernen, als auch Konflikte konstruktiv und im demokratischen Rahmen auszutragen. Denn Anwendungssituationen gibt es in großer Zahl: Eine neue Moschee soll gebaut werden, und die zukünftigen Nachbarn debattieren leidenschaftlich darüber. Eine Schülerin betet in der Pause, und einige Lehrkräfte befürchten eine islamistische Radikalisierung. Jemand ist
christlich erzogen worden, findet nun aber auch den Buddhismus attraktiv. In den Nachrichten wird von Kämpfen zwischen Christen und Muslimen irgendwo in der Welt berichtet, und ein Schüler fragt die Religionslehrerin, was ‚wir‘ von ‚denen‘ zu befürchten hätten.

Interreligiöse Begegnungssituationen als Anwendungssituationen

Einige Unterrichtsreihen, vor allem zum Islam, sind so aufgebaut, als sei die wahrscheinlichste Anwendungssituation für Wissen über diese Religion, dass man bei einer Quiz-Show zwischen vier Antwortvorgaben wählen muss. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: In vielen Fällen ist das ja schon ein großer Lernzuwachs, wenn Schülerinnen und Schüler so etwas nach einer Unterrichtsreihe zum Islam wissen. Mir scheint aber, wir sollten anspruchsvoller sein: Es ist kein Selbstzweck, religionskundliche Kenntnisse zu haben, über welche Religion auch immer. Stattdessen sollten Schülerinnen und Schüler lernen, in interreligiösen Begegnungssituationen kompetent handeln zu können. Dazu benötigen sie auch Kenntnisse, aber eben noch einiges mehr – vor allem ein Verständnis dafür, dass Menschen alle Situationen vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen, ihres Wissens, ihrer Weltsichten und ihrer Überzeugungen deuten, wobei immer auch mehr oder weniger starke Gefühle eine Rolle spielen. Da verschiedene Menschen verschiedene Erfahrungen gemacht und verschiedenes Wissen erworben haben, deuten und erleben sie ein und dieselbe Situation unterschiedlich. Und diese Differenzen im Deuten und Erleben lassen sich nicht dadurch aufheben, dass jemand kommt,
‚objektives‘ Wissen vermittelt und so die Interagierenden ‚gleich‘ macht. Ein Beispiel soll das verdeutlichen.

Als Muslim ein Weihnachtslied singen

In einem Forschungsprojekt in Berlin untersuche ich, wie Jugendliche aus unterschiedlichen Religionen mit religiösen Unterschieden und religiöser Vielfalt umgehen. Ein 17-jähriger Berliner Muslim, der sich selbst das Pseudonym ‚Jerome‘ ausgesucht hat, erzählt, wie im Musikunterricht ein Weihnachtslied gesungen wird. Ein Mitschüler, neu in der Klasse, habe ihn provozieren wollen: Er „hat mich angesehen und hat gesagt: ‚Jesus Christus ist geboren‘, also provozierend. Also nach dem Motto, Jesus Christus ist im Christentum. Siehst du?“

Hier geht es erst einmal nicht darum, ob jemand recht hat oder nicht: Natürlich, Jesus Christus hat etwas mit dem Christentum zu tun. Aber das ist ja nicht der Punkt. Um diese Situation zu verstehen, muss man rekonstruieren, was hier für die beiden Jugendlichen geschieht.

Ist die Wahrnehmung richtig, dass der Mitschüler provozieren will, dann könnte das so gemeint sein: Wir singen ein Weihnachtslied, hier in Deutschland ist also das Christentum die maßgebliche Religion. ‚Jerome‘ erkennt das an, sei es aus Schwäche oder aus Unwissenheit, wenn er das Lied mitsingt. Der nicht-muslimische Schüler empfindet vielleicht ein Gefühl von Überlegenheit. Er sieht sich darin durch den Lehrplan bestätigt, der eben keine islamischen Gesänge enthält, sondern Liedgut der ‚Leitkultur‘. Möglicherweise ist der Adressat dieser Provokation aber auch gar nicht der muslimische Mitschüler, sondern der nicht-muslimische Rest der Klasse. Es könnte sein, dass hier jemand versucht, durch Ausgrenzung eines Anderen (eines durch ihn zum Anderen Gemachten) seine Zugehörigkeit zur Mehrheit unter Beweis zu stellen.

Wie ‚Jerome‘ darauf reagiert, ist in diesem Moment noch  nicht ausgemacht: Er könnte die Provokation ignorieren, er könnte darauf eingehen und zurückschießen: ‚Was geht mich euer Jesus an‘? Er könnte sich getroffen fühlen und verletzt zurückziehen. Und er hätte noch viele andere mögliche Optionen.

Im Religionsunterricht mit einer Oberstufen-Klasse habe ich in Rollenspielen solche Optionen durchspielen lassen. Die meisten Rollenspiele verliefen so: Entweder hat ‚Jerome‘ versucht, sich zu verteidigen (‚Greif meine Religion nicht an!‘), woraufhin der nicht-muslimische Mitschüler dem Islam und den Muslimen immer weitere Vorwürfe macht (‚Terroristen‘, ‚ihr integriert euch nicht!‘). Oder ‚Jerome‘ weist den Mitschüler zurecht, der daraufhin einen Rückzieher macht (‚So habe ich das doch gar nicht gemeint‘). Noch im Rollenspiel wurden dann den Personen Fragen gestellt, warum sie gerade so reagieren, was sie sich dabei denken, was sie dabei fühlen. Damit sollten die Schülerinnen und Schüler angeregt werden, sich intensiver mit möglichen Gründen und Kontexten der dargestellten Handlungsweisen auseinanderzusetzen. Im folgenden
Unterrichtsgespräch ging es darum, die Wahrscheinlichkeit solcher und die Möglichkeit anderer Fortführungen der kleinen Situation im Musikunterricht einzuschätzen.

Dann bekam die Klasse die Fortsetzung des Interviews: „Und ich, ich fand’s erst mal lustig. Wenn der wüsste, dass Jesus Christus ein wichtiger Prophet bei uns ist. Da habe ich es ihm ein bisschen näher gebracht und gesagt: Hey, na klar, finde ich sogar super,  dass wir darüber singen! Das ist ein Prophet und der hat vieles gebracht. Die Bibel selber gehört ja zu den Büchern Gottes. Also im Islam jetzt. …
Das habe ich ihm dann näher gebracht, und der wurde dann schlauer danach. Und ich glaube, der wird so was bei anderen nicht noch mal machen, weil er jetzt weiß, Jesus Christus spielt auch ‚ne Rolle im Islam.“

‚Jerome‘ reagiert also ganz anders, als es die Schülerinnen und Schüler meiner Klasse erwarten. Besonders bemerkenswert ist seine abgeklärte Reaktion im Kontext des gesamten Interviews. Denn zuvor hatte er von verschiedenen Situationen in der Schule berichtet, in denen sich Mitschüler und Lehrer über den Islam lustig machen. Darauf schien ‚Jerome‘ so zu reagieren, dass er sich zurückzieht. ‚Jerome‘ sagt, er habe die Erfahrung gemacht, dass es für ihn als Muslim noch unangenehmer werde, wenn er versuche, seine Religion zu verteidigen.

Im Musikunterricht aber gelingt es ihm, das Heft des Handelns in die Hand zu bekommen. Denn in dieser Situation ist er der offensichtlich Überlegene; sein Mitschüler beweist, dass er keine Ahnung hat. Und, was noch wichtiger zu sein scheint: ‚Jerome‘ kann seinen Mitschüler verblüffen, denn der hatte nicht damit gerechnet, dass ‚Jerome‘ durchaus einen positiven Bezug zu Jesus hat. Sonst hören ‚Jeromes‘ Mitschüler ihm nicht zu, aber nun gelingt es ihm, seinem Mitschüler etwas näher zu bringen, ihn „schlauer“ zu machen und zu erziehen: „Und ich glaube, der wird so was bei anderen nicht noch mal machen“.

Im meinem Unterricht geschah etwas ähnliches: Das Erstaunen der Schülerinnen und Schüler über die für sie unerwartete Reaktion von ‚Jerome‘ ermöglicht einen Lernprozess, in dem vorgefasste Bilder vom Islam  hinterfragt werden können. Im weiteren Unterrichtsverlauf konnte dann zunächst generalisierend erarbeitet werden, was eine interreligiöse Begegnungssituation ausmacht, in der unterschiedliche Beteiligte eine Situation unterschiedlich deuten. Dazu bietet es sich an, das jeweilige Verständnis von Jesus, Islam und Christentum zu benennen und das Ergebnis in einem Schaubild zu visualisieren: Während für ‚Jerome‘ Jesus ein Prophet im Koran ist, ist Jesus für den Mitschüler ausschließlich eine Gestalt des Christentums. ‚Jeromes‘ Mitschüler hat ein eher negatives Verhältnis zum Islam und vermutlich ein eher positives oder neutrales zum Christentum, ‚Jerome‘ hat ein positives Verhältnis zum Islam und zum Christentum – wobei sein Mitschüler erwartet, dass ‚Jerome‘ das Christentum ablehnen müsste.

Indem man solche unterschiedlichen Deutungen expliziert, werden Charakteristika auch anderer interreligiöser Begegnungssituationen deutlich. In der Beschäftigung mit weiteren interreligiösen Situationen, möglicherweise auch solchen, die die Schülerinnen und Schüler selbst erlebt haben, lässt sich die Fähigkeit zur Interpretation interreligiöser Begegnungssituationen weiter einüben.

Außerdem sind nun zahlreiche Möglichkeiten zur Fortsetzungen des Unterrichts vorbereitet:

– Es kann weiteres Wissen über den Islam und das Christentum erarbeitet werden, ausgehend von Fragen wie diesen: Wie genau wird Jesus im Islam gesehen, wie im Christentum (Prophetie im Islam; Jesus im Koran; Trinität und Christologie im Christentum)? Warum kommt Jesus im Islam vor, aber nicht Mohammed im Christentum (die historische Entwicklung der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam)?
– Die Klasse kann eine interreligiöse Weihnachtsfeier planen, in der die Geburt Jesu mit Texten aus Christentum und Islam gefeiert und gedeutet wird. Um eine solche Feier zu gestalten, kann weiter recherchiert  werden: Gibt es Lieder, Erzählungen, vielleicht auch Gebete, die während der Feier vorkommen können, ohne dass jemand in seinen religiösen oder nicht-religiösen Gefühlen verletzt wird? Welche Möglichkeiten der
Beteiligung könnten eingeräumt werden (gemeinsames Gebet, respektvolle Anwesenheit während eines Gebets)?
– Zugehörigkeiten und Mechanismen der Ausgrenzung können (auch durch Inszenierung) reflektiert werden. ‚Jerome‘ nimmt ja eine Verschiebung der Grenzziehung vor, die sein Mitschüler zu fixieren versucht. Das könnte man inszenieren: Ein elastisches Band trennt Muslime und Christen, so das Konzept des Mitschülers. ‚Jerome‘ nimmt dieses Band und zieht es so auch über die Gruppe der Muslime, dass eine neue Gruppe derer entsteht, für die Gott und Jesus eine wichtige Rolle spielen. (Und damit werden dann möglicherweise wieder Andere ausgegrenzt.) In welchen Situationen sind eigentlich für wen religiöse und andere Zugehörigkeiten von Bedeutung – und in welchen nicht? Wem fühlt man sich aus welchen Gründen und unter welchen Voraussetzungen verbunden? Wie geht man mit denen um, die bei einer bestimmten Grenzziehung nicht zur eigenen Gruppe gehören?