Schule als Projektionsraum

Rassismus

Publiziert: 2016

Input im Rahmen der Tagung „Ernstfall Schule“ der Evangelischen Akademie zu Berlin am 22. November 2016

 

Einleitung

Der Titel „Schule als Projektionsraum“ lädt dazu ein, Schule in Ihren Möglichkeiten zu entwerfen und seiner Phantasie freien Raum dabei zu lassen, sich auszumalen, was alles in der Schule stattfinden könnte und vielleicht auch passieren sollte. Ich möchte hier hingegen eine Perspektive einnehmen, Schule zunächst einmal nicht nur als Teil wünschenswerter Lösungen gesellschaftlicher Probleme, sondern vielmehr auch als Teil dieser Probleme anzusehen. Dabei will ich aber keineswegs ausschließlich den Spielverderber geben. Im Gegenteil werde auch ich zum Abschluss meines Beitrags Möglichkeiten benennen, wie sich Schule in positiver Weise entwerfen könnte. Dies kann aus meiner Sicht aber nur im Durchgang einer kritischen Analyse des bestehenden Zustands geschehen, denn sonst wird Schule bloß idealistisch als Reparaturbetrieb der Gesellschaft entworfen und ihre Verflechtung in die bestehenden Probleme bereits vorab de-thematisiert. Pädagogik und somit auch die Schulpädagogik zeigt ihre spezifische Eigenart darin, mit dem betörenden Likör bereits schon dazustehen, bevor überhaupt eine sachliche Analyse der Sorgen stattgefunden hat. Will sagen, die Lösungen stehen oftmals schon bereit, bevor die Probleme ganz und gar analysiert wurden. Aber welche Probleme sind das überhaupt, die hier in Rede stehen? Aus Sicht einer empirischen Schul- und Bildungsforschung, wie ich sie als Erziehungswissenschaftler vertrete, besteht das Problem darin, dass Schule offenbar nicht in der Lage zu sein scheint, bestehende soziale Ungleichheiten und bildungsbezogene Benachteiligungen nicht nur Einzelner, sondern ganzer gesellschaftlicher Gruppen auszugleichen und zu beheben. Im Gegenteil (re-)produziert sie diese. Bestehende soziale Ungleichheiten werden in ihren Praktiken und Prozessen nicht nur bestätigt, sondern auch in eigenlogischer Art erzeugt. Diskriminierungskritisch lässt sich sagen, dass Schule als Organisation offenbar nicht in der Lage zu sein scheint, ihr Klientel allesamt und in gleicher Weise mit der von ihm benötigten Dienstleistung zu versorgen.

Empirische Ergebnisse, wie sie uns beispielsweise seitens der Bildungssoziologie vorliegen, zeigen seit Jahrzehnten – und dies auch schon lange vor PISA – auf nahezu monotone Weise den signifikanten Zusammenhang von schulischem Erfolg und sozialer Zugehörigkeit in Deutschland. Auch der letzte Bildungsbericht zeichnet da kein anderes Bild. In Teilen ist die pädagogische Diskussion zur Erklärung dessen aber so weit fortgeschritten, dass es zu einer folgenreichen Umstellung gekommen ist und die mir auch damit etwas zu tun zu haben scheint, was ich mit De-thematisierung schulischer Probleme meine. Stattdessen nämlich der signifikante Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Zugehörigkeit angesichts eines sich als egalitär verstehenden Systems kritisch thematisiert wird, hat sich der Diskurs dahin verlagert, in der korrelativen Beziehung zweier statistischer Größen – Bildungserfolg und sozialer Status – eine kausale Erklärung zu sehen. Bei kaum einem anderen Zusammenhang wird dies deutlicher als bei der „statistischen Kunstfigur“ Migrationshintergrund (F.-O. Radtke). Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind dieser Logik zufolge weniger bildungserfolgreich, weil sie einen Migrationshintergrund haben. Zumeist wird diese statistische Vokabel mit mangelnden Deutschkenntnissen, benachteiligenden Milieus, fremder Kultur oder Religionszugehörigkeit, fehlender Bildungsaspiration, kurzum mangelnder Passung zum schulischen System assoziiert. Die Gründe, wenn man so will, für den mangelnden Bildungserfolg liegen diesen Erklärungen zufolge also in der Umwelt des schulischen Systems und nicht etwa in dessen Zentrum.

Zeitgleich haben sich mit den bildungspolitischen Debatten „post-PISA“ zahlreiche pädagogische Programmatiken entwickelt, die Unterschiedlichkeit oder auch Differenz der schulischen Klientel zum Thema machen. So sind zahlreiche Entwürfe entstanden, die von Heterogenität, Inklusion, Diversität oder auch Interkulturalität und Interreligiosität sprechen. Mit diesen zwar ganz unterschiedlich gelagerten Pädagogiken geht insgesamt jedoch ein Wissen über und um Differenz einher, von dem bislang empirisch überhaupt noch nicht auszumachen ist, wie diese mit den Mechanismen der (Re)produktion sozialer Ungleichheit interagieren. Wenn also Lehrkräfte auf ein Wissen über und um Differenz zurückgreifen, welches sind dann die Effekte, die dies Wissen hervorruft?

Von diesem Problemaufriss ausgehend, möchte ich im Folgenden der Phantasie faszinierender Ansätze und Entwürfe zunächst mit dem Realismus eines empirisch Forschenden begegnen. Meine Perspektive auf Schule möchte ich gern in drei Schritten vorstellen und dabei auf unterschiedliche Bereiche eingehen. Zunächst komme ich darauf zu sprechen, was ich unter Schul- und Bildungsforschung verstehe. Dabei steht die Erforschung des pädagogischen Handelns im Zentrum, das ich in einem zweiten Schritt mit Hilfe der pädagogischen Professionstheorie auffassen möchte. Mit ihr lässt sich zeigen, dass Pädagogen angesichts widersprüchlicher Anforderungen Ihren Beruf tagtäglich meistern müssen, indem sie die Widersprüche, die mit ihrer Tätigkeit verbunden sind, situativ miteinander vermitteln, ohne sie systematisch auflösen zu können. Zum Abschluss werde ich dann eine diskriminierungstheoretische und rassismuskritische Perspektive einnehmen, die mir erlaubt, einige für mich entscheidende Punkte hervorzuheben, wie eine reflexive und diskriminierungssensible Schule möglich werden könnte.

Wenn ich von Schul- und Bildungsforschung spreche, dann meine ich in Bezug auf meine Arbeit keine empirische Bildungsforschung, wie sie sich im Kontext von PISA entwickelt hat, denn ich führe keine Kompetenztests durch, sondern betreibe das, was sich rekonstruktive Forschung nennt. Diese ist im öffentlichen Diskurs eher marginalisiert. Sie versucht durch Sinn verstehende, in einer weiten Bedeutung also hermeneutische, Prozesse auf den Begriff zu bringen, was sich in der Schule empirisch zeigt. Sie versucht zu rekonstruieren, wie es in ihr zugeht. Bei dieser Art der Rekonstruktion geht es allerdings weniger um den subjektiven Sinn, den die an schulischer Praxis beteiligten Akteure mit ihrer Praxis verbinden als vielmehr um den objektiven Sinn der sozialen Situation. Was dort tatsächlich in alltäglicher Praxis passiert, ist Gegenstand meiner Untersuchungen und weniger das, was die Akteure damit beabsichtigt haben. Dabei nehme ich eine spezifische Forschungshaltung zu den schulischen Praktiken ein, die der Ethnologe Clifford Geertz mit der Frage: „what the hell is going on here?“ für die Ethnographie treffend beschrieben hat. Das bedeutet, dass ich mir das, was passiert, so anschaue, als wäre ich ein gänzlich Uninformierter. Diese Haltung einer künstlichen Naivität ist in Bezug auf Schule nicht ganz so einfach einzunehmen, aber trotzdem geboten, denn Schule ist sozusagen bis zur Unkenntlichkeit bekannt. Wir alle sind schulisch sozialisiert und haben über diese Sozialisationsprozesse enorm viel Wissen angehäuft und damit meine ich hier nicht fachliches Wissen, sondern Institutionenwissen. Dieses Wissen über die Regeln der Institution und ihrer Praktiken kommt uns ganz selbstverständlich vor. Aber gerade diese unhinterfragte Selbstverständlichkeit hat ihre Tücken. Denn so halten wir vieles selbstverständlich für gültig, was in Wahrheit Resultat geschichtlicher, sozialer und politischer Prozesse ist, die sich eben in der Institution niederschlagen. Die Institution ist letztlich die geronnene Praxis dieser Prozesse.

Empirie heißt in diesem Zusammenhang also nicht, aus einzelnen Beobachtungen, aus identisch gesetzten Fällen, allgemeine Schlüsse zu ziehen, sondern aus der konkreten Praxis, aus dem einzelnen Fall – der stets als einmalig gilt – dialektisch das Allgemeine zu erschließen und über kontrastive Vergleiche Fälle maximaler und minimaler Verschiedenheit einander gegenüberzustellen. Allgemeines und Besonderes kommen im Einzelfall zusammen: Im einzelnen Fall gibt es Unvergleichbares, schlichtweg Individuelles, aber eben auch vergleichbare, allgemeine Dimensionen, wie sie in allen Fällen zu Tage treten. Beispielsweise kann eine einzelne Unterrichtsstunde als Einzelfall von Unterricht gelten. Sie enthält schlichtweg Besonderes, wie sie umgekehrt auch das Allgemeine der sozialen Praxis Unterricht enthält. Praktiker*innen, die pädagogisch tätig sind, haben überwiegend dazu spontan einen intuitiven Zugang. Nicht jede Unterrichtssituation ist vorherzusehen, sondern eben individuell, aber auch nicht gänzlich neu. Wäre dem nämlich nicht so, dann ließe sich niemals auf etwas, das erprobt oder gelernt wurde, zurückgreifen, um zu handeln. Man stünde ständig vor gänzlich Neuem und pädagogische Vermittlung wäre somit schlicht nicht zu planen. Und dennoch bleibt auch bei bester Vorbereitung und Planung stets eine Unsicherheit zurück, die nicht zuletzt daraus resultiert, dass wir es in pädagogischen Tätigkeiten mit einem nicht determinierten Geschehen und deswegen auch mit einem nicht technologisierbaren Beruf zu tun haben. Ungewissheit ist daher das Proprium unseres pädagogischen Berufes. Darauf werde ich noch einmal zurückkommen.

Gegenläufiges

Zuvor aber noch zu den Ergebnissen meiner Forschungen. In Bezug auf positive oder ideelle Entwürfe von Schule sind sie zumeist desillusionierend und als kritisch zu bezeichnen. Sie zeichnen nach, was passiert, und nicht das, was sein sollte. Dabei zeigt sich, wie das pädagogisch zumeist Idealisierte sich an den gegebenen Bedingungen der Schule, den rechtlichen, curricularen, sozialen und zeiträumlichen Vorgaben, bricht. Doch entsteht durch diesen Bruch etwas Neues. Es entstehen Handlungen, die schulische Akteure (Lehrkräfte, Eltern, Schüler*innen) mit sozialem Sinn versehen. Sie fassen dabei die Vorgaben auf, verstehen und interpretieren sie, und bringen sie mit ihrer Pädagogik z.B. hinsichtlich ihrer Vorstellungen von Didaktik, Erziehung, Lernen und Bildung zusammen. Wenn man das nun wissenssoziologisch auffasst, lässt sich sagen, dass das Wissen um schulische Bedingungen und das Wissen um Pädagogik von den Akteuren zueinander in Beziehung gesetzt, sprich: miteinander vermittelt wird. Auf einen Begriff gebracht, lässt sich hier auch von der Eigenlogik pädagogischen Handelns sprechen.

In meinen, aber auch anderen vergleichbaren Forschungen wird gezeigt, wie gesellschaftliche soziale Ungleichheit in schulischen Prozessen (re-)produziert wird, wie Kultur als Zuschreibung an schulischen Identitätsentwürfen diskursiv (mit)arbeitet oder wie durch Differenzpädagogiken (z.B. interkulturelle Pädagogik) eher Differenzen (also zugeschriebene Unterschiede zwischen Schüler*innen in Bezug auf Kultur und Herkunft) dramatisiert statt entdramatisiert werden. Auf welche Weise es geschieht, dass „Migrationsandere“ (Paul Mecheril) als solche allererst durch schulische Praktiken erzeugt werden und wie statt Offenheit zugelassen eher Geschlossenheit obsiegt; Grenzen also mehr gezogen statt verschoben oder geöffnet werden. In Bezug auf Kultur z.B. lässt sich sagen, dass kulturelle Unterschiede zumeist aus dem Zusammenhang von Zuschreibungen und Normalitätserwartungen aus der Praxis der Akteure resultieren. Kultur meint hier ein Ensemble von Zeichen und eine Praxis, in der diese Zeichen je spezifisch von den beteiligten Akteuren zur Beschreibung ihrer Wirklichkeit genutzt werden. Kultur verstehe ich also nicht als eine wesentliche Eigenschaft von Menschen, sondern als eine Beobachtungskategorie. Sie entsteht im Auge des Betrachters.

Wenn ich mich positiv auf Schule beziehe, tue ich dies zumeist mit Blick auf eine kasuistische Hochschulbildung im Lehramt. Ich suche dort nach Möglichkeiten, Forschung und professionelles Lernen miteinander zu verknüpfen. Gelernt wird am Fall. Wir sitzen gemeinsam mit den Studierenden über Transkripten, die aus audiovisuellen Aufnahmen oder verschrifteten Beobachtungen der schulischen Praxis stammen und versuchen diese zu verstehen – versuchen eben ihren objektiven Sinn zu rekonstruieren. Der Prozess dieser Art des universitären Lernens läuft dabei genauso ab, wie die Praxis in der Forschung. Dementsprechend sollen die angehenden Lehrkräfte an Praxis herangeführt werden, ohne die wissenschaftliche Distanz dazu preisgeben zu müssen. Es handelt sich also nicht um forschendes Lernen, sondern um ein Lernen durch Forschung. Dies läuft zwar nicht ohne Widerstände seitens der Studierenden ab, weil einer Be- und Verfremdung der Praxis zumeist mit Skepsis begegnet wird. Denn die Studierenden möchten überwiegend gern möglichst früh in ihrem Studium selbst als Akteur praktisch tätig werden. Damit verbinden sie Sicherheit. Das kasuistische Studium bringt sie aber zunächst in die Situation, sich zwar mit Praxis zu beschäftigen, dies aber im Medium eines Protokolltextes zu tun und dabei zwangsläufig in Distanz zur pädagogischen Praxis zu gehen. Damit verlieren sie vorübergehend an Sicherheit, weil durch die Lektüre Gewohntes in Frage gestellt wird. Doch nach einer Weile, so ist zumindest auch meine Erfahrung, entsteht auf ihrer Seite ein Verständnis für diese Art des Vorgehens und sie entschlüsseln die Bedeutung dieser Auseinandersetzung mit pädagogischer Praxis mit großem Gewinn für sich.

Wie lässt sich mit in der Struktur pädagogischen Handelns verankerten Widersprüchen umgehen?

Gelernt soll derart etwas über das pädagogische Handeln, das ich aus Sicht einer bestimmten Professionstheorie zu fassen suche. Diese strukturtheoretische Auffassung von pädagogischer Professionalität sieht den Lehrberuf widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzt. Im Zusammenhang mit dem, was uns hier interessiert, also Fragen der Einwanderungsgesellschaft (ich würde sagen: Migrationsgesellschaft), bedeutet dies z.B., auf eine zumeist zunehmend als kulturell, sozial, religiös charakterisierte Verschiedenheit von Schüler*innen eingehen zu sollen oder zu müssen – z. B. durch Inklusion oder Differenzierung sowie Interkulturalität oder Interreligiosität. Diesem pädagogischen Appell steht allerdings eine Struktur des Schulsystems entgegen, das in seiner Organisation auf Homogenität ausgerichtet ist. So basiert das Unterrichten in Jahrgangsklassen, ja, die gegliederte Struktur äußerer Differenzierung (Drei- oder Viergliedrigkeit) auf der Annahme einer je gemeinsamen Ähnlichkeit in den Voraussetzungen der Schüler*innen; zumeist hinsichtlich ihrer Lernvoraussetzzungen und entwicklungspsychologischer Voraussetzungen. – An dieser Stelle sei ein kurzer Exkurs gestattet: Diese Annahmen lassen sich soziologisch als soziale verstehen; d.h., wenn Lernen Resultat aus Umwelten ist, dann ist das Erlernte und damit auch die Art und Weise zu lernen, bereits ein Resultat aus den sozialen Kontexten, in denen die Schüler*innen aufwachsen. Und das bedeutet aber auch: das Vertraut-sein mit den in der Schule zu lernenden Kulturtechniken ist Resultat sozialer Umwelten. Die Schule behandelt jedoch alle und muss alle Kinder gleichbehandeln, als gebe es diese Differenzen nicht und darüber entsteht Differenz. (Die Grundschule ist der Ort, an dem zumeist noch alle zusammenkommen, doch erhalten wir auch hier aus der empirischen Forschung irritierende Hinwiese einer zunehmenden Segregation). Lernen ist zum überwiegenden Teil sozial und nicht natürlich. Begabung und Talent sind aus dieser Sicht pädagogische Konstruktionen, sich Unterschiede zu erklären, indem in die Natur verlegt wird, was eigentlich Resultat sozialer Umwelten ist; nämlich was und wie jemand in welcher Zeit, die ihm dafür zur Verfügung stand, gelernt hat.

Professionstheoretisch gesprochen, handelt es sich bei dem zuvor angesprochenen Widerspruch um denjenigen von Gleichheit und Differenz oder, in eine andere Terminologie übersetzt, um das antinomische Verhältnis von Heterogenität und Homogenität. Beide Prinzipien sind in der schulischen Praxis sozusagen am Werk. Zum einen müssen Schüler*innen gleichbehandelt werden, zum anderen soll eine Lehrkraft auf deren Verschiedenheit eingehen. Was lässt sich aber aus einem solchen Dilemma lernen für die Lehramtspraxis und für die schulische Praxis? Müssen solche widersprüchlichen Anforderungen nicht vor allem dazu führen, dass Praxis kollabiert, also zusammenbricht und mit ihr das gesamte schulische Geschäft? Wenn dies nicht geschieht, welches sind aber dann die geeigneten Strategien und Taktiken im Umgang damit? Muss sich die Lehrkraft auf die eine oder andere Seite schlagen, also ihre Handlungen entweder am Prinzip der Gleichheit oder an Verschiedenheit ausrichten? Bzw. – anderer Fluchtpunkt – den Mittelweg suchen? Der dann aber umgekehrt wiederum in Gefahr und in der Not vielleicht auch den Tod bringt?

Die Antwort auf diese Fragen ist einfach zu geben, doch zeigt sich gleichermaßen damit aber auch, wie schwierig pädagogische Praxis zu meistern ist. Die schulische Empirie macht deutlich, dass die Widersprüche nicht aufgelöst werden können, sie hingegen je situativ ausgehandelt werden müssen. Das macht den Lehrberuf so unfassbar anstrengend, denn Praxis wird damit zu etwas stets Unsicherem. Das Handlungsrepertoire der Lehrkräfte nimmt zwar zu und festigt sich in Routinen, doch bleibt stets die Ungewissheit, ob sich die nächste pädagogische Situation wieder so lösen lässt, wie ähnliche Situationen zuvor. Kein Bereich pädagogischen Handelns ist davon ausgenommen. Es betrifft die didaktische Vermittlung fachlicher Inhalte genauso, wie Fragen der Erziehung oder der Bildung. Ist also der Lehrberuf nicht eigentlich eine unmögliche Aufgabe, wie Siegmund Freud es charakterisiert hat? Aus Sicht der strukturalistischen Professionstheorie lautet die Antwort: Nein. Er ist zwar durch permanente Unsicherheit gekennzeichnet, aber deswegen praktisch nicht unmöglich. Denn nichts spricht systematisch dagegen, sich der Widersprüche bewusst zu sein und die eigene Praxis zum Thema zu machen; sie zu reflektieren. In der Annahme struktureller Antinomien steckt etwas Entscheidendes für den Lehrberuf. Die Professionalität des Lehrberufs liegt für die Lehrkräfte in einem aufgeklärten und reflexiven Umgang mit den antinomischen Anforderungen. Aufgeklärt wäre ein Umgang von Lehrer*innen mit den Antinomien dann, wenn Ihnen die Unsicherheit ihres Berufes vor Augen steht und sie eingedenk dessen ihrer Tätigkeit nachgehen. Zwar ist es auch durchaus immer möglich, aufgrund der widersprüchlichen Anforderungen situativ zu scheitern, doch lässt sich dieses Scheitern auf reflektierendem Weg im Nachhinein erklären. Das heißt aber keineswegs, dass Scheitern der Normalfall pädagogischer Praxis wäre.

Die gegenteilige Auffassung zu dieser Professionstheorie bildet der kompetenzorientierte Professionsansatz. Ihm zufolge gilt die Lehrkraft hauptsächlich als Expertin für Fragen der Vermittlung von Stoff im Unterricht, die durch den kontinuierlichen Kompetenzzuwachs professioneller wird. Professionalisierte Lehrer*innen würden nicht nur selbst immer kompetenter in der Ausübung ihrer Tätigkeit, so die Vertreter*innen dieses Ansatzes, sondern steigerten auf diesem Wege auch stetig das Kompetenzniveau ihrer Schüler*innen. Dieses Modell pädagogischen Handelns hat meiner Auffassung nach mehrere Schwächen. Zwei davon will ich kurz andeuten. Das Modell geht erstens stets von Kompetenzzuwächsen aus und kann somit nicht befriedigend erklären, wie es dazu kommen kann, dass diese ausbleiben; wenn also Rückschritte im Kompetenzzuwachs gemacht werden. Mein Verdacht ist hier, dass ein Scheitern insgeheim auf die mangelnden Kompetenzen der Lehrkraft zurückgeführt wird. Durch diese Perspektive werden die Probleme schulischer Vermittlung jedoch lediglich individualisiert und pädagogisches Scheitern auf das Versagen von Lehrkräften zurückgeführt. Eng damit hängt zweitens zusammen, die pädagogischen Tätigkeiten auf die Vermittlung von Stoff zu reduzieren. Sicherlich ist es so, dass die prominenteste Aufgabe von Schule darin besteht, in die für das eigene Leben notwendigen Kulturtechniken einzuführen und diese zu vermitteln, doch ist die schulische Vermittlungstätigkeit immer auch zugleich eine soziale Situation. Keine Vermittlung ohne Sozialität. Die soziale Situation pädagogischer Praxis wird aber in der Kompetenztheorie pädagogischer Professionalität nahezu vollständig ausgeblendet.

Gegenüber einer an der stetigen Steigerung von Kompetenzen orientierten Vorstellung des Berufes nimmt die strukturtheoretische Auffassung die Lehrkräfte individuell in Schutz. Denn im Unterschied von strukturell bedingtem Scheitern und individuellem Versagen geht es meiner Auffassung nach um einen Unterschied ums Ganze. Wenn eine Lehrkraft scheitert, dann liegt dies überwiegend eben nicht an ihrem individuellen Versagen, sondern resultiert vielmehr aus einem strukturbedingt stets möglichen Scheitern, weil es sich um widersprüchliche Anforderungen handelt, die nicht aufzulösen und deren Probleme nicht im Sinne einer Technologie zu lösen sind. Deshalb ist es so entscheidend, auch den angehenden Lehrkräften zu zeigen, wie die antinomische Struktur ihres zukünftigen Berufes aussieht.

Antidiskriminierung und Rassismuskritik

Auf das antinomische Verhältnis von Gleichheit und Differenz möchte ich abschließend einen weiteren gegenüber dem bereits Entwickelten etwas anders gelagerten Blick werfen. Damit komme ich zur dritten Perspektive, in der ich mich auf Antidiskriminierung und Antirassismus beziehen möchte. Dabei komme ich auch auf die Schule als Projektionsraum zu sprechen. Vorausschicken möchte ich deswegen: Schule hat in ihrer Stellung zur Gesellschaft eine Doppelstellung. Einerseits ist sie Ort der (Re)produktion gesellschaftlicher Strukturen (z.B. sozialer Ungleichheit), in dem sie Funktionen der Selektion und Allokation erfüllt. Andererseits ist sie derjenige Ort, wo komprimiert soviel Neues entsteht und entstehen kann, wie sonst an kaum einem anderen Ort. Nicht zuletzt deshalb wird sie zum Ort des Imaginären, des Spekulativen, also zum Projektionsraum. Sie geht also weder ganz in ihren gesellschaftlichen Funktionen auf, noch ist sie eine tabula rasa für die Phantasie und ihr folgende (pädagogische) Entwürfe. Sie gehorcht durch diese Doppelstellung einer spezifischen Eigenlogik, die ich Ihnen versucht habe, aus Sicht der strukturalistischen Professionstheorie zuvor darzulegen.

Homogenitätsannahme als Hindernis einer prozessorientierten Schulbildung

Innerhalb dieser Eigenlogik spielt das Imaginäre auf unterschiedlichen Ebenen eine Rolle. So gehen, wie bereits gesagt, in die Schule Homogenitätsannahmen ein. Diese spielen auch im Zusammenhang mit dem Widerspruch von Gleichheit und Differenz eine Rolle. Die Schule folgt einer nationalstaatlichen Vorstellung von Homogenität, die aus ihrer Entstehungsgeschichte resultiert und sie bis heute nicht loslässt. Seitdem ist sie mit Ausschlüssen verbunden. Ein historisches Beispiel: So ist die Einführung der deutschen Sprache zur Schaffung eines „einheitlichen“ Schulsystems in Preußen mit dem Ausschluss der polnischen Sprache, die zu der Zeit Bestandteil gelebter Mehrsprachigkeit war, verbunden. Die Nation ist sozusagen das Paradebeispiel für die Imagination einer homogenen Gemeinschaft, die auf geglaubter Ähnlichkeit der Gesellschaftsmitglieder basiert. Gleichheit nimmt hier die Gestalt von Einheit an. Hieraus resultieren Zuschreibungen und Zugehörigkeitslogiken, die zwischen dem Eigenen und dem Anderen („wir“ und „sie“) unterscheiden. Die für uns im Zusammenhang der Tagung entscheidende Askription (Zuschreibung) ist die religiöse Zugehörigkeit zur sogenannten „Religion der Anderen“ (Thomas-Olalde/ Mecheril) – zum Islam. Solche, aber auch weitere natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten und symbolischen Zuschreibungen strukturieren das Imaginäre der Gesellschaft und damit auch das Imaginäre der Schule. Und dies zeitigt ganz praktische Effekte.

Imaginierte Homogenität steht angesichts weltmigrationsgesellschaftlicher Verhältnisse zu recht in Frage. Das macht sie so angreifbar und deswegen reagieren – nicht allein, aber auch – reaktionäre Kräfte mit Ausschluss und othering-Prozessen, die den Anderen als Anderen in seiner Nicht-Zugehörigkeit erst erschaffen (im Sinne einer sozialen Konstruktion). Die nächste Stufe ist diejenige, in die Natur der Anderen zu verlegen, anders zu sein. Die kritische Soziologie spricht in diesem Zusammenhang von der Naturalisierung sozialer Verhältnisse. Dieser Logik zufolge liegt es dann eben in der „Natur oder Kultur der Muslimen“ z.B. nicht schulbildungserfolgreich zu sein. Damit wird nicht bloß der Effekt zur Ursache erklärt. Liegt eine solche naturalisierende Begründung sozialer Unterschiede vor, muss von Kulturrassismus oder antimuslimischen Rassismus gesprochen werden. Diese resultieren aus machtvollen Zuschreibungen und Imaginationen sowie Normalitätserwartungen, die sich auf alle diejenigen, die davon wahrgenommen und zugeschrieben abweichen, negativ auswirkt. Dies erzeugt Rassismuserfahrung und Vulnerabilität. Keineswegs resultieren diese bloß aus individuellen Vorurteile, sondern aus Effekten von Zuschreibungen, die ihre diskriminierende Kraft und ausschließenden Charakter dadurch gewinnen, dass sie sozial geteilte Vorstellungen sind. Vorurteile haben alle Gesellschaftsmitglieder – mehr oder weniger ausgeprägt. Sie erhalten ihre Wirkmächtigkeit aber erst durch ihre soziale Anschlussfähigkeit, die wiederum dadurch soziale Ausschlüsse produziert. Das Eigene konstituiert sich sozusagen über den Ausschluss der Anderen. Das Imaginäre ist durch solche Logiken strukturiert und wirkt sich strukturierend auf die gesellschaftliche und die schulische Praxis aus.

Aus einer diskriminierungstheoretischen Perspektive lässt sich also festhalten, dass durch die Annahme von Gleichheit Differenzen produziert werden, indem die angenommene Gleichheit gar keine universale, sondern bei näherer Betrachtung eben bloß eine partikulare ist. Auf die Schule bezogen muss deswegen danach gefragt werden, wie in pädagogischen Institutionen Differenzen ihrer Klientel erzeugt werden; d.h., wie diese Unterscheidungen praktisch und wie sie für schulische Entscheidungen (z. B. versetzt, nicht-versetzt) und ihre Legitimation (mehr oder weniger begabt, mehr oder weniger geleistet) genutzt werden. Diese Prozesse, über die wir in der empirischen Schulforschung leider immer noch viel zu wenig wissen, wären dann im Zusammenhang bildungsbezogener Ungleichheiten zu diskutieren. Darin besteht in Zukunft eine prominente Aufgabe für die erziehungswissenschaftliche Schul- und Bildungsforschung.

Schule als Verstehensort sozialer Konstruktionen

Eine andere Imagination ist diejenige, dass diese Prozesse in der Schule reflektiert werden können. Schulische Unterscheidungspraktiken wären zum Thema zu machen und das eigene Verstrickt- und Involviert-sein darin aufzuklären. Hieran könnte eine realistische und kritische Lehrer*innenbildung anschließen, die allerdings gewillt sein müsste, sich über die eigene Praxis hinsichtlich des dort kommunizierten Wissens über und um Differenz aufzuklären, und gleichwohl dadurch ihre imaginative Kraft nicht aufzugeben bräuchte. Denn Kritik zeigt das Bestehende in seiner Kontingenz. Von Ungewissheit im Sinne der Auffassung eines nicht technologisierbaren pädagogischen Berufs auszugehen, wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer reflexiven Selbstthematisierung. Dabei wäre jedoch des Öfteren einzuräumen, über Expertise und Kompetenz gerade nicht zu verfügen bzw. dem strukturellen Risiko ausgesetzt zu sein, sie zu verlieren und stattdessen die Widersprüche des Lehrberufs offensiv ins Zentrum zu stellen. Der schulische Gebrauch des Wissens über und um Differenz wäre zum Thema zu machen.

Weiterführende Literatur

  • Geier, Thomas (2016): Schule. In: Mecheril, Paul (Hg.): „Handbuch Migrationspädagogik“, Weinheim: Beltz. S. 433-448.
  • Geier, Thomas (2016): Reflexivität und Fallarbeit. – Skizze zur pädagogischen Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern in der Migrationsgesellschaft. In: Karakaşoğlu, Yasemin/ Mecheril, Paul/ Doğmuş, Aysun (Hg.): „Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft“, Wiesbaden: VS-Springer. S. 179-196.