Störung hat Vorrang

Christliche Antisemitismuskritik als religionspädagogische Praxis

Antisemitismus

Publiziert: 2022

Diese Broschüre wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus, den Projekten DisKursLab sowie Bildstörungen an der Evangelischen Akademie zu Berlin, dem Antisemitismusbeauftragten der EKD und dem Netzwerk narrt herausgegeben.

Die vollständige Broschüre inklusive Bildmaterial und Kopiervorlagen liegt derzeit (nur) als pdf vor und kann über den obigen Button abgerufen werden. Eine gedruckte Version wird es bald auch geben.

Vorwort: Störung hat Vorrang – Von der Notwendigkeit christlicher Antisemitismuskritik

Kaum ein Mensch versteht sich heute normalerweise dezidiert und offen als Antisemit oder als antisemitisch.1 Gleichwohl stellen wir fest, dass bestimmte antijüdische oder antisemitische Bilder besonders in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie an die Oberfläche kommen. Viele kirchliche Stellungnahmen machen dabei sehr deutlich, dass Antisemitismus als Sünde verstanden werden muss. Gleichzeitig scheint uns das Verständnis dafür zu fehlen, wie wir als Kirche, in Theologie und Religionspädagogik doch immer noch Bilder tradieren, die von der Negativfolie des Judentums das eigene Positive sich zuschreiben. Und wir stellen fest, dass in den säkularen Varianten des Antisemitismus eine christliche Stereotypisierung weiterlebt, ohne dass dieser Ursprung bewusst ist oder reflektiert wird.

»Schwerlich aber ist die religiöse Feindschaft, die für zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb, ganz erloschen. […] Religion ward als Kulturgut eingegliedert, nicht aufgehoben.«2

Nach Horkheimer und Adorno fand eine Veränderung der Rolle von christlicher Religion statt, doch die Relevanz religiöser Motive im Antisemitismus bleibt bestehen. Fast könnten wir das Bild des Schachautomaten von Walter Benjamin gegen seine Intention lesen und uns die Theologie, »die ja bekanntlich klein und hässlich ist«, als Zwerg im Inneren des Automaten dem säkularen Antisemitismus den Arm führend vorstellen.3 Das erfordert aus unserer Perspektive christlich motivierte und grundierte Antworten, die sich mit dieser kultur- und religionsgeschichtlichen Konstellation auseinandersetzen und Verantwortung übernehmen. Denn für die christliche Theologie gilt, dass die Bearbeitung des Antisemitismus zentral ist für die schmerzhafte Aufarbeitung eigener Gewalttraditionen, für ein Akzeptieren der Ambivalenzen im Glauben und für den Verzicht auf christliche Identitätsbildung durch immer wieder auch gewaltförmige Abund Ausgrenzung gegen »die Juden«. Abwehr von Ambivalenzen, Identitätsbildung durch Ausgrenzung gerade im Bereich des Nationalen sind auch im säkularen Antisemitismus virulent. Hier hilft die klassische begriffliche und historische Trennung von Antisemitismus und christlichem Antijudaismus nicht recht weiter. Für eine Analyse dieser Art von Antisemitismus hilft die verstörende Einsicht, die die Kritische Theorie schon 1944 formulierte: »Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten,drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Ihr Gelüste ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis. Den Juden, mit dieser ihrer Schuld beladen, als Herrscher verhöhnt, schlagen sie ans Kreuz, endlos das Opfer wiederholend, an dessen Kraft sie nicht glauben können.«4

Diese Projektions- und Delegationsmechanismen gilt es zu durchbrechen, denn sie machen sich destruktive Bilder vom Anderen, um das Eigene zu idealisieren. In christlicher Tradition wird solches als Sünde bezeichnet. Sie führen zu einer Dualisierung der Weltsicht. Im Vergleich mit den antisemitischem Bildern von den hartherzigen, rachsüchtigen, gesetzlichen, lieblosen, frauenverachtenden, kriegerischen Juden können sich Christ*innen zugewandt, liebevoll, solidarisch, aufgeklärt und progressiv fühlen. Unsicherheiten, Zweifel, innere Abgründe und Ambivalenzen werden ausgelagert und auf das jüdische Gegenüber projiziert. Juden und Judentum werden zu Ventilen eines idealisierten Selbstbildes. Das »Gerücht über den Juden« (Adorno) überbrückt damit auch ideologische Widersprüche und verbindet unterschiedliche politische Lager, was dann z. B. bei der Be- und Verurteilung israelischer Politik nicht selten ans Tageslicht kommt.

Einen weiteren anspruchsvollen Aspekt der notwendigen Auseinandersetzung mit dem christlichen Antisemitismus betont die katholische Alttestamentlerin Irmtraud Fischer: »Die andere Seite ist freilich die Bringschuld jener neueren akademischen Theologie, der es zwar gelungen ist, ihre Sensibilität für antijüdische Argumentationen bis in offizielle kirchliche Dokumente hinein durchzusetzen, die aber offenkundig bis jetzt nicht in der Lage war, dies auch in der breiten Öffentlichkeit entsprechend zu kommunizieren. Auch (wenn) in einem Klima, das christlicher Theologie in den Medien keine große Relevanz mehr zugesteht […], (so) wäre doch eine stärkere kulturwissenschaftliche Orientierung akademischer Theologie ein erster Ansatz, die Verankerung der Theologie im gesamtuniversitären Diskurs zu gewährleisten und damit auch ihr Anliegen, gegen Antijudaismus und Antisemitismus anzukämpfen, deutlicher im akademischen Disput zu vermitteln.«5

Dieser Aspekt macht darauf aufmerksam, dass Theologie und Kirche zu den vordersten Kämpfer*innen gegen Antisemitismus gehören müssten und dabei auch eine spezifische Rolle im akademischen Diskurs finden könnten.
Leider sind weder der kulturwissenschaftliche Blick noch das nötige Wissen und eine Sensibilität für die eigenen antijudaistischen und antisemitischen Abgründe in der akademischen Theologie und Religionspädagogik ausgeprägt genug, um diese Rolle einzunehmen. Daher müsste sich einerseits die Theologie, im eigenen Interesse und aufgrund ihrer Verantwortung für die säkulare Gesellschaft, ihrer judenfeindlichen Geschichte und deren Ursachen zuwenden, andererseits sich die Antisemitismusforschung zum besseren Verständnis des Phänomens auch theologischen Fragen öffnen.6

Dann würde sichtbar, dass der säkulare Antisemitismus in gewisser Weise fast »gnadenlos« christlich grundiert ist und erst dann wissenschaftlich zu erfassen wäre, wenn die Forschung dies in den Blick nimmt. Dieser Forschungsaufgabe und damit auch einer wahrhaftigeren, nicht auf Negativstereotypisierungen angewiesenen Theologie und Glaubenspraxis dienen die antisemitismuskritischen Projekte der Evangelischen Akademie zu Berlin und ihre theologischen und religionspädagogischen Unternehmungen, welche in dieser Broschüre in Auszügen zu Wort kommen. Denn trotz der Selbstkritik der akademischen Theologie und auch der Religionspädagogik gibt es nach wie vor Ignoranz und Unsensibilität in der Forschung, was sich dann in den Religions-, Ethik- und Geschichtsschulbüchern widerspiegelt, in welchen eine Legion von idealisierten Selbstbildern zu finden ist. Das bedeutet nicht notwendig, dass die Autor*innen dieser Bilder Antisemit*innen sind, aber es zeigt mehr als deutlich, wie tief eingeschrieben die Mechanismen sind, die in der vorliegenden Broschüre näher beschrieben werden sollen. Das Anliegen der Broschüre ist deshalb zu stören, jedoch nicht zum Selbstzweck, indem nur dekonstruiert und kritisiert wird, sondern um Konstruktives entgegenzusetzen. Neue Selbstbilder braucht das Land, solche, die Ambivalenzen nicht in Aggression gegen das jüdische Gegenüber auflösen. Diese Selbstbilder sind auch für Genderthemen und Rassismuskritik fruchtbar zu machen, weil dort ähnliche Projektions- und Delegationssmechanismen virulent sind. Wir versuchen daher, neue Selbstbilder, die nicht auf Abspaltungen und Negativzuschreibungen angewiesen sind, anhand von konkreten biblischen Bildern, antisemitismuskritischen Religionsschulbuchelementen und Materialien zu präsentieren und damit exemplarisch zum besseren Selbst-, Bibel- und Weltverständnis anzuregen.

Die biblischen Geschichten, die wir anders erzählen wollen, haben wir an der Evangelischen Akademie zu Berlin mit dem Projekt Bildstörungen als antisemitismuskritische Bibelauslegungen beschrieben. Wir hoffen, mit unseren Texten und Materialien auf diese Weise der Verantwortung für eine zeitgemäße Antisemitismuskritik gerecht zu werden. Dazu sind Texte ausgewählt, deren antijüdische Rezeption in den gegenwärtigen antisemitischen Topoi wirksam ist und deren Rückführung auf ihre biblischen Ursprünge eine nicht auf Negativbilder ausgerichtete Interpretation ermöglichen soll. Einige dieser Negativbilder finden sich immer noch, und leider auch nicht selten, in unseren Religionsschulbüchern. In einem zweiten Schritt gehen wir in der Broschüre deshalb verbliebenen antijüdischen Spuren nach, nicht um Verlage oder Autor*innen zu überführen, sondern um ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Veränderung dieser Bestände voranzubringen.

Im Rahmen des Netzwerks narrt sind wir auch mit Verlagsvertreter*innen und kirchlich Verantwortlichen in konstruktivem Gespräch. In einem dritten Schritt präsentieren wir die schon erwähnten Materialien, entwickelt durch das Projekt DisKursLab an der Evangelischen Akademie zu Berlin, und wollen Jugendliche mit auf eine Reise nehmen, hin zu einem besseren Verständnis der Herkunft jener negativen Stereotypisierungen in der kirchlichen Rezeption von Verrat, Judas, Hohepriestern und jüdischen Beteiligten. Der inhaltliche Bogen der Broschüre endet damit gleichsam didaktisch, um Bildungspraxis zu inspirieren und die strukturelle biblische Mehrdeutigkeit pädagogisch lebendig umzusetzen. Denn solche altneuen biblischen Erzählungen sind in unserer Gegenwart dringend notwendig.

1 Siehe hierfür das Beispiel einer »positiven« Besetzung des Antisemitismus bei Otto Dibelius (1928): »Ich habe mich trotz des schlechten Klangs den das Wort angenommen hat immer als guten Antisemiten verstanden. Gott segne unsere Osterbotschaft.« Zitiert bei Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen Schwiegen, Berlin 1993, 44.

2 Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, »Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung« (1944), in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1998, 177–217, hier 185.

3 Vgl. Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften Bd. 1–2, Frankfurt a. M. 1980, 691.

4 Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, ebd. 177.

5 Irmtraud Fischer, »… immer noch bei ›alttestamentarischer Grausamkeit und Rache‹… Die Achtsamkeit gegenüber Antijudaismus in der Theologie hat ein Kommunikationsproblem«, in: Sara Han; Anja Middelbeck-Varwick; Markus Thurau (Hg.): Bibel – Israel – Sprache. Studien zur jüdisch-christlichen Begegnung. Festschrift für Rainer Kampling, Münster 2018, 305–312, hier 312.

6 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Klaus Holz, der im modernen Antisemitismus eine Rekombination von Säkularem und Religiösem sieht: »Luthers Abweg. Die evangelische Kirche stellt sich dem Judenhass des Wittenberger Reformators. Für die unselige Geschichte, wie der Protestantismus völkisch wurde, bleibt sie blind«, in: Die Zeit 49, 2016.

Das Projekt Bildstörungen: Antisemitismuskritische Bibelauslegung (Katharina von Kellenbach)

Der Name des Projektes »Bildstörungen« an der Evangelischen Akademie zu Berlin ist Programm: Es will die Zerrbilder von Juden und Judentum »stören« und »entstören«. Vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung finanziert, arbeitet das Projekt an der Schnittstelle von säkularer und christlicher Judenfeindlichkeit. Wie im Vorwort erwähnt: Zeitgenössischer Antisemitismus baut auf christlichen Interpretationen der Bibel auf. Karikaturen vom heuchlerischen Pharisäer, dem Erwählungsdünkel Israels, der Verschwörung jüdischer Eliten, der alttestamentarischen Rache usw. kommen aus der Bibel und sind tief im kulturellen Wissensspeicher der europäischen Zivilisation verankert. Diese Bilder sind rhetorisch effektiv und flexibel. Sie passen sich den jeweiligen protestantischen oder katholischen, progressiven oder konservativen Befindlichkeiten und Bedürfnissen an. Im Folgenden sollen drei diskursive Felder umrissen werden, in denen antijüdische Argumente bevorzugt auftauchen. Diese Systematisierung erklärt nicht jedes einzelne Stereotyp, aber sie sensibilisiert für bestimmte Argumentationsmuster, in denen gehäuft und immer wieder neu antisemitische Bilder produziert werden. Diese Argumentationsmuster müssen mit einer antisemitismuskritischen Hermeneutik belegt werden.

(1) Zunächst betrifft das Schulddiskurse, in denen nach Schuldigen gesucht und Verschwörungen vermutet werden. Juden und Israel wurden jahrhundertelang mit Kollektivschuld belegt, und das wirkt auch heute im säkularen Raum in Form von jüdischen Weltverschwörungsmythen weiter. In den Passionsgeschichten der Evangelien werden die jüdischen Eliten, aber auch das ganze jüdische Volk mit Justizmord und Gottesmord belastet. Dieser Schuldvorwurf hat sich politisiert und in der europäischen Neuzeit säkularisiert, sodass es vielen Menschen plausibel erscheint, dass jüdische Individuen und Netzwerke hinter Missständen und Katastrophen wie Pest, Krieg, Kapitalismus, Kolonialismus, Sklavenhandeln, Pandemie stecken.

(2) Das zweite große Argumentationsfeld arbeitet mit dualistischen Gegenüberstellungen, mit welchen die Welt in Gut und Böse, hell und dunkel (cf. Rassismus) aufgeteilt wird und die sich auch in den theologischen »Antithesen « von Freiheit und Gesetz, Liebe und Vergeltung, Neu und Alt, Paulus und Saulus manifestieren. Auch progressive Bewegungen wie Befreiungstheologie, feministische und schwarze Theologie sind in ihrer Kritik der Kolonialherrschaft, des Patriarchats und des Rassismus anfällig für vereinfachende Gegenüberstellungen und Argumentationsweisen. Judenfeindlichen Traditionen folgend, werden auch in diesen neuen theologischen Entwürfen Juden auf die Seite der Gegner gestellt und die jeweiligen Attribute und Eigenschaften der Gegner auf »das Judentum« projiziert. Juden stehen dann paradigmatisch für Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Sklaverei etc.

(3) Im dritten rhetorischen Feld enterbt das Neue das Alte, wobei dem »Jüdischen « immer das angeeignet wird, was man selber abschaffen will und überwunden glaubt: Opferkult, Blutsrituale, Stammesreligion, Vergeltungskriege, Gesetzlichkeit, Patriarchat. Die »guten« Traditionen (Schöpfung, Exodus, Propheten, Kabbala) werden enteignet und zur eigenen christlichen Identität und Tradition gemacht. Was zurückbleibt, eine gesetzesstarre, leblose, performative Hülle, hat ihre Daseinsberechtigung verloren. Begriffe wie die »jüdisch-christlichen Zivilisation« reduzieren das Judentum auf die Wurzel und Vorgeschichte des Christentums, als Wurzel ist die jüdische Tradition im Erdreich verborgen, jeglicher Vitalität und Fruchtbarkeit beraubt. Nur das Neue hat Gültigkeit, das Alte, das sich dem Messias und der Reform widersetzte, ist verworfen und verliert jegliches theologisches Existenzrecht. Dass es dennoch florierende jüdische Gemeinden in der Welt gibt, wird dann zur Irritation christlicher Heilsgewissheiten. Die Vortragsreihe »Antisemitismuskritische Bibelauslegungen« will neue Verständnismöglichkeiten entwickeln und Interpretationsalternativen popularisieren. Drei Beispiele aus der Reihe sind in diesem Band mitaufgenommen und sollen die kreative und konstruktive Seite einer antisemitismuskritischen Lesepraxis aufzeigen.

Die »Erwählung« ist ein solches Konzept. Denn dass Gott eine bestimmte Gruppe, das Volk Israel, erwählt haben soll, ist und bleibt anstößig. Die Lehre des »erwählten Volkes« hat, gerade auch in Zeiten des wiedererstarkenden Nationalismus und Rassismus, eine höchst problematische Rezeptionsgeschichte. In seinem Beitrag vergleicht Rainer Kessler diese Erwählung mit der Speisewahl im Restaurant oder einem Schuhkauf im Schuhladen: Wer die Pizza wählt, hat die Spaghetti nicht verworfen, wer einen Wanderschuh braucht, verachtet den Stöckelschuh nicht. Jede Wahl hängt von Sinn und Zweck, Auftrag und Aufgabe ab. 5. Mose 7,6–11 erklärt dann auch, warum Gott das »kleinste« und »schwächste Volk« aussucht: Um zu demonstrieren, dass dieser unsichtbare Gott gegen die Götter und Mächte der Großreiche Ägyptens und Babyloniens (und später Roms) den Willen zur Gerechtigkeit, Menschenwürde und sozialem Frieden aufbringen und durchsetzen kann.
Dieser Erwählungsgedanke wurde auch von Christengemeinden übernommen, die sich als Ohnmächtige und Ausgestoßene berufen fühlten, die Macht eines Gekreuzigten in der Welt zu verkünden. Erwählung, so argumentiert Kessler, bedeutete nicht Privileg und Begünstigung, sondern Auftrag und Verpflichtung.

Claudia Janssen kritisiert in ihrem Beitrag die christliche Überlegenheitshermeneutik, mit der die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel oft erzählt wird. Und damit stellt sie sich der Frage, wie man Jesus denn dann beschreiben soll, wenn er nicht schon als Zwölfjähriger immer alles besser weiß als seine jüdischen Lehrer und Diskussionspartner. Wenn Jesus »nur« ein Jude aus Nazareth war, was bedeutet dann seine Gottessohnschaft und Einzigartigkeit. Antisemitismuskritik rührt an die Wurzeln christlichen Selbstverständnisses. In der Auseinandersetzung mit dem jüdischen Gegenüber schärft sich die christliche Botschaft. Und ohne die traditionelle Brille der Verachtung erscheint diese Botschaft wieder neu und in einem frischen Licht.

Katharina von Kellenbach beschäftigt sich mit den Schulddynamiken der Passionsgeschichte, die sich in der Neuzeit säkularisieren und als Verschwörungsszenarien äußern. Denn für diesen Justizmord werden die jüdischen Obrigkeiten und das jüdische Volk verantwortlich gemacht, obwohl das Kreuz eine römische Hinrichtungsmethode war. Sie argumentiert, dass die Evangelien nicht als historische Berichterstattung gelesen werden dürfen, sondern als Glaubenszeugnisse einer im römischen Reich verfolgten Gemeinschaft, die an den auferstandenen Gekreuzigten glaubt. Sie erläutert die theologischen und politischen Gründe, die dazu führen, dass die jüdischen Priester als Hauptverantwortliche für die Kreuzigung dargestellt werden, während Pontius Pilatus seine eigene und die Unschuld Jesu mehrmals betont. Es gibt weder Augenzeugenberichte, denn die Jünger mussten draußen bleiben, noch schriftliche Dokumente für die Verhöre und Verhandlungen, weshalb die Passionsgeschichte nicht als historischer Tatsachenbericht gelesen werden sollte. Die Evangelien wurden nach der katastrophalen Niederlage Judäas durch das römische Imperium und die Zerstörung des Tempels in Jerusalem verfasst. Nach diesem Krieg (66–70 n. Chr.) standen alle Juden und Christus-Anhänger unter Verdacht, Sympathisanten jüdischer »Terroristen« und Rebellen zu sein. Es war lebensgefährlich, in dieser Situation zu bekennen: »Ich glaube an Jesus Christus … geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben«, sich also zum Glauben an einen von Rom zum Tode verurteilten Aufständischen zu bekennen. Deshalb besteht Pilatus auf der Unschuld Jesu, deshalb wird die Verantwortung für seine Kreuzigung von Rom nach Jerusalem verschoben. Deshalb steht neben dem politischen Urteil (INRI – König der Juden) auch eine religiöse Anklage auf Blasphemie. Jesus von Nazareth hat zu Lebzeiten nichts gesagt oder getan, was diesen Vorwurf erklären könnte. Aber die Evangelisten sehen sich vierzig Jahre später dem Vorwurf ausgesetzt, sie vergöttlichten einen Menschensohn. Darauf liefern die Evangelien eine narrative und theologische Antwort.

Neben diesen politischen Schuldverschiebungen in den Evangelien gibt es eine Opfermystik, die Schuldprojektionen freisetzt. Wo es ein Opfer gibt, gibt es auch Täter. Die Unschuld des Lamm Gottes lenkt den Blick auf die Schuld derer, die sein Leiden verursachen. Das sind traditionellerweise zwei Gruppen: Erstens die sündige Christenheit, die betet: »mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa«; zweitens die Juden, die beten: »sein Blut komme über uns und unsere Kinder« (Mt 27,25). Das Opfer des Unschuldigen am Kreuzerlöst die einen und verdammt die anderen. Wie löst man diese antisemitische Verstrickung der Kreuzestheologie auf?

Katharina von Kellenbach schlägt vor, die Passionsgeschichte nicht durch Jom Kippur – dem Versöhnungstag im Herbst – zu lesen und daraus eine Geschichte von Schuld und Sühne zu machen. Sondern durch Pessach im Frühjahr – das Fest der Befreiung aus der ägyptischen Versklavung. Wenn Jesus im Johannesevangelium als »Lamm Gottes« bezeichnet wird, dann darf das nicht mit einem Sündenbock verwechselt werden. Ein Sündenbock wird in die Wüste geschickt und niemals verzehrt. Das Lamm Gottes, allerdings, schützt und ernährt. Sein Blut kennzeichnet die Häuser, deren Einwohner aufbrechen wollen in ein verheißenes Land – auf eine ungewisse Reise durch die Wüste. Dieses Lamm ist der Leib, von dem sich eine neue Bundesgemeinschaft ernährt. In dieser Geschichte geht es nicht um Schuld und Vergebung, sondern um Versklavung und Befreiung.

Die drei vorgestellten Beispiele zeigen Alternativen auf, die in den Blick kommen, wenn die Brille der Verachtung abgelegt wird. So wollen wir mit der Veröffentlichung der Vorträge anregen, diese alternativen Auslegungen auch in Schulbücher und den Unterricht aufzunehmen, damit sich eine selbstbewusste und eigenständige Christenlehre entwickeln kann, die sich ihrer Verbundenheit mit den jüdischen Auslegungstraditionen der Tora bewusst ist. Nicht zuletzt soll auch für andere Schulfächern und pädagogische Kontexte als den Religionsunterricht die Reflexion der religiösen Bestände und Themen des säkularen Antisemitismus sichtbar gemacht werden. Die Vorträge der antisemitismuskritischen Bibelauslegungen können in der Mediathek der Evangelischen Akademie zu Berlin aufgerufen werden.

Informationen zu zukünftigen Vorträgen, die jeden zweiten Donnerstag im Monat auf Zoom stattfinden, und zur kostenlosen Anmeldung finden auf der Veranstaltungsseite der Evangelischen Akademie.

Das auserwählte Volk (Rainer Kessler)

Der Text: 5. Moses 7, 6–11

6 Denn du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. 7 Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, 8 sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat der HERR euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. 9 So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, 10 und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen. 11 So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust.

Klischees bilden, um es mit einer Metapher auszudrücken, so etwas wie einen Müllberg, einen Schutthaufen, der in 2000 Jahren angehäuft worden ist und in 2000 Jahren auch immer festgetreten wurde. Wenn Sie sich das bildlich vor Augen halten: So ein Schuttberg, der 2000 Jahre lang aufgehäuft und festgetreten worden ist, lässt sich nicht so einfach auflockern und abtragen, nicht in zwei Jahren, und auch nicht in 20 Jahren; ich wäre froh, wenn er in 200 Jahren aufgelockert und abgetragen worden wäre. Wenn man diesen Schuttberg dann etwas lockert und durchwühlt, stößt man auf die einzelnen Elemente, die ihn bilden. Und man stößt dabei immer wieder auf ein Element, das Thema meines  heutigen Vortrags.
Es ist die Vorstellung, dass das Judentum das erwählte Volk ist, wie das ja im Alten Testament, auch im eingangs zitierten Text, formuliert wird. Und in der christlichen Wahrnehmung dieses Vorstellungskomplexes heißt das dann: Die Jüdinnen und Juden halten sich für das von Gott erwählte Volk, das heißt sie halten sich für etwas Besseres, sie überheben sich über die anderen, sie sehen die anderen als minderwertig an, sie sehen die anderen vielleicht sogar als verworfen an.
Ich will nur zwei Zitate bringen, um zu belegen, dass das tatsächlich in der Theologiegeschichte immer und immer wieder formuliert wurde. Das erste Zitat stammt aus der Hetz- und Hassschrift von Martin Luther Von den Juden und ihren Lügen 1543, einer seiner spätesten Schriften. Er schreibt darin:

»Sie (die Juden) haben einen Grund, darauf pochen und trotzen sie über die Maßen hoch: sie seien nämlich von den höchsten Leuten auf Erden geboren, von Abraham, Sara, Isaak, Rebekka, Jakob und von den zwölf Patriarchen usf., von dem heiligen Volk Israel, wie das S. Paulus Röm 9,5 auch bekennt und ausspricht: … ›Sie sind aus den Vätern, aus welchen Christus usw.‹, und wie er selbst, Christus, Joh 4,22 [sagt]: ›Aus den Juden kommt das Heil.‹ Daher rühmen sie sich, die Edelsten, ja die allein edlen Menschen auf Erden [zu sein]; wir, die Gojim, die Heiden, sind gegen sie und in ihren Augen keine Menschen, sondern kaum wert, von ihnen als arme Würmer eingeschätzt zu werden. Denn wir sind nicht ihres hohen, edlen Geblüts, Stammes, Geburt und Herkommens.«

Und dann etwas weiter:

»Sie haben solchen giftigen Hass gegen die Gojim [Heiden] von Jugend auf von ihren Eltern und Rabbinen eingesogen und saugen [ihn] noch in sich ohne Unterlaß … sie müssen so bleiben und verderben, wenn Gott nicht sonderlich hohe Wunder tut.«1

Nur die Juden also halten sich nach Luthers Meinung für Menschen, sie halten die anderen für Nichtmenschen, für Untermenschen, für »Würmer«, wie er sagt, und das sei ihnen so eingesogen, dass höchstens ein Eingriff Gottes das überhaupt noch irgendwie abwenden könnte. Solche Meinungen ziehen sich durch alle Epochen der Theologiegeschichte, schon lange vor Luther, aber auch nach Luthers Spätschrift Von den Juden und ihren Lügen.

Ich will noch ein Zitat bringen, von keinem Lutheraner, sondern von einem Reformierten, auch von keinem Deutschen, sondern von einem Schweizer, nämlich dem früheren Berner Alttestamentler Max Haller (1879–1949). Dieser hat 1925 einen Kommentar zum Buch Ester geschrieben, dem alttestamentlichen Buch, in dem erzählt wird, wie der persische oberste Minister ein Pogrom an den Juden initiieren will, und die jüdische Königin Ester, die Frau des persischen Königs Ahasver, durch ihr mutiges Eintreten dies verhindert und bewirkt, dass die Juden das Recht auf Gegenwehr erhalten. Max Haller spricht in diesem Kommentar, der in der Schriftenreihe Schriften des Alten Testaments erschienen ist, einer Reihe, die nahezu jeder evangelische Pfarrer auf seinem Schreibtisch hatte, von der »Rachsucht der Juden«:

»Diese Rachsucht erklärt sich aus der Lage der Juden in der Zerstreuung. Durch ihre Religion … von den Völkern innerlich und äußerlich getrennt, unter denen sie doch leben müssen, fordern sie den Haß und die Todfeindschaft, durch ihren Reichtum die Habsucht, und durch ihre politische Ohnmacht die Gewalttätigkeit ihrer Umgebung heraus.«

Das heißt, die Juden sind selber Schuld an ihrem Geschick. Durch ihren Reichtum fordern sie die Habsucht der Völker heraus. Durch ihre Ohnmacht fordern sie die Gewalttätigkeit heraus.

Und dann folgt der Satz: »Für dieses Judentum ist nur der Jude der Mensch.«

Das ist genau das, was Luther auch gesagt hat: Nur die Juden halten sich selbst für Menschen. Doch dann überbietet Haller das noch mit dem Satz: »Der Jude ist sich selbst zum Gott geworden.«2

Was die höchste Gotteslästerung, die man sich im Judentum überhaupt vorstellen kann, darstellt, wird hier den Juden selbst zugeschrieben. Nun stützt sich diese antijüdische Auslegung auf Texte, die tatsächlich von der Erwählung Israels als Volk Gottes sprechen. Im Alten Testament sind das nicht sehr viele, aber sehr prominente Texte. Der eine steht im fünften Buch Mose, also im Deuteronomium, im 7. Kapitel, und ist oben in der revidierten Luther-Übersetzung von 2017 abgedruckt.

Ich will nur ein paar Worte zu diesem Text sagen. An prominenter Stelle, gleich am Anfang, kommt zweimal das Wort »erwählen« vor. »Erwählen« ist ein Wort, das wir im Deutschen praktisch nicht benutzen. Es ist ein Wort der religiösen Sondersprache. Der Duden schreibt dazu: »gehoben«, also gehobene Sprache. Wenn ich recht sehe, kommt es eigentlich nur im Zusammenhang mit der Vorstellung der Erwählung des Volkes Israel oder anderen Erwählungsvorstellungen dieser Art vor. Diese Sonderbedeutung ist eine Entwicklung, die das Wort im Deutschen genommen hat. Im Hebräischen steht das Alltagswort, das wir sonst mit »wählen« oder »auswählen« wiedergeben.

Wir wählen oder wählen ständig aus. Im Lokal schauen Sie in die Speisekarte, dann kommt die Bedienung und fragt: »Haben Sie schon gewählt?« Und dann sagen Sie: »Ich nehme die Pizza Margherita.« Wenn Sie Schuhe brauchen, lassen Sie sich im Laden etliche vorlegen und wählen diejenigen aus, die zu Ihren Bedürfnissen am besten passen, ob das nun Wanderschuhe oder Tanzschuhe oder Schuhe für sonst einen Zweck sind. Jeder Spielleiter und jede Trainerin müssen am Wochenende auswählen. Beim Fußball dürfen nur elf aufs Feld, und für die Mannschaft müssen elf Jungen oder Mädchen ausgewählt werden.

Wählen impliziert in keinem dieser Fälle das, was dem Judentum mit der Vorstellung des »erwählten Volkes« immer wieder unterstellt wird: Dass damit das Nicht-Gewählte das Verworfene sei. Wenn ich bei der Bestellung die Pizza gewählt habe, dann habe ich keineswegs die Spaghetti verworfen. Das nächste Mal bestelle ich mir vielleicht Spaghetti. Wählen hängt damit zusammen, dass ein bestimmter Zweck erreicht werden soll. Dazu wähle ich etwas aus.

Wenn das auch für Gottes Wahl gilt, dann müssen wir fragen, wozu hat er das Volk Israel ausgewählt. Dazu gibt unser Text Auskunft. Er macht dazu drei Aussagen.

Die erste Aussage ist: Gott wählt nicht das größte und mächtigste Volk aus, sondern das kleinste. Er wählt nicht, unter damaligen Bedingungen, die Ägypter oder die Assyrer oder die Babylonier zu seinem Volk, sondern er wählt das Volk, das hier im Text als »das kleinste« bezeichnet wird. Und warum tut er das? Gott tut das, um seine Macht zur Befreiung zu zeigen. Ich lese noch einmal diesen Abschnitt:

»Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, 8 sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat der HERR euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten.«

Gott steht auf Seite der Unterdrückten, und deshalb wählt er das schwächste aller Völker aus, um es zu seinem Volk zu machen. In der positiven Rezeption dieses Textes haben sich immer die Unterdrückten in diese Tradition hineingestellt. Am markantesten ist das bei den Spirituals, den geistlichen Liedern der afroamerikanischen Sklavinnen und Sklaven in Amerika: »When Israel Was in Egypt Land«. Das ist die Tradition, in die die Unterdrückten sich hineinstellen. Sie sind, wie Israel, in der Unterdrückung, und sie hoffen auf einen Mose, der sie aus dieser Unterdrückung befreit. Gott erwählt also gerade nicht die Stärksten, um das durchzusetzen, was er vorhat, sondern er wählt die Schwächsten, um zu zeigen, dass er der Gott der Befreiung ist, der auf Seite der Schwachen und der Opfer steht.

Die zweite Aussage hängt eng damit zusammen: Gott wählt dieses Volk, um an ihm zu zeigen, dass er mehr ist als die Vergöttlichung dessen, was wir in der Welt sowieso vorfinden. In der alten Welt hatte alles, was es gab, seine Gottheit. Es gab einen Gott des Krieges, einen Gott des Todes, eine Göttin der Liebe usw. Selbst kleinere Phänomene wie Quellen waren durch Nymphen vertreten; im Grunde war die ganze Welt irgendwie göttlich. Jan Assmann bezeichnet deshalb diese Religion sehr passend nicht als Polytheismus, als Vielgötterei, sondern als Kosmotheismus, was bedeutet, dass jedem Phänomen im Kosmos eine Gottheit zugeordnet ist. Das ist uns nicht ganz unbekannt. Auch wir haben unsere Götter; heute ist, zum Beispiel, das Geld eine der mächtigsten Gottheiten in unserer Gesellschaft. Geld regiert die Welt, sagt man, mit Geld kann man alles kaufen, Geld ist allmächtig, Geld ist unendlich, es gibt keine Grenze des Geldes, man kann immer mehr davon machen, Geld ist überall drin. Es gibt auch kleinere Götter, den Fußballgott. Doch genug davon.

In seiner Geschichte mit Israel zeigt Gott, dass er mehr ist als die Vergöttlichung dessen, was wir in der Welt vorfinden. Wäre er das, dann würde er wahrscheinlich das stärkste Volk zu seinem Volk erwählen. Aber er ist genau anders, er wählt das schwächste aller Völker; Gott will diese Welt nicht überhöhen, sondern will sie verändern, er will sie gerechter machen. Er ist ihr gegenüber barmherzig und gerecht. Ich lese das auch noch einmal vor:

»9 So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, 10 und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen. 11 So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust.«

Über das Thema, dass hier Gott als ein rächender Gott dargestellt wird, wäre gesondert zu handeln. Ich will nur kurz auf die Übersetzung eingehen. Die Lutherbibel übersetzt hier: »vergilt denen, die ihn hassen, und bringt sie um.« Dass Gott denen vergilt, die ihn hassen, finde ich einen wichtigen Gedanken. Es kann nicht sein, dass das Unrecht in der Welt ungestraft davonkommt. Es kann nicht sein, dass die Mörder auf einer Stufe mit den Ermordeten stehen, dass die Betreiber von Konzentrationslagern auf einer Stufe stehen mit denen, die dort umgebracht werden. Das Wort »umbringen« ist aber eine spezielle Übersetzung. Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt an dieser Stelle »er lässt sie in die Irre gehen«. Man könnte auch übersetzen, »er schaltet sie aus, er macht sie unwirksam«. Es hängt viel davon ab, wie im Einzelnen übersetzt wird.

Wir ziehen eine kurze Zwischenbilanz: Der erste Gedanke ist, dass Gott sich der Schwachen annimmt, der zweite Gedanke, dass Gott nicht die Überhöhung dieser Welt ist, sondern derjenige, der der Welt gegenübersteht, barmherzig und gerecht. Das Dritte nun, das eigentliche Ziel der Erwählung Israels, ist, dass Israel die Tora halten soll und mit dem Halten der Tora zum Vorbild für die Völker wird. Zunächst das Halten der Tora. Damit endet der Abschnitt, den wir betrachten: »So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte die ich dir heute gebiete, dass du danach tust.«

Nur drei Kapitel vorher wird im Deuteronomium erklärt, was das Halten der Tora durch Israel für die Völkerwelt bedeutet. Ich lese Dtn 4,6–8. Da heißt es wieder wie in 7,11:
»So haltet sie nun« – also die Gebote und Gesetze –, »so haltet sie nun und tut sie! Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand. Wenn sie alle diese Gebote hören werden, dann müssen sie sagen: Was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk! Denn wo ist so ein herrliches Volk, dem Götter so nahe sind wie uns der HERR, unser Gott, sooft wir ihn anrufen? Und wo ist so ein großes Volk, das so gerechte Ordnungen und Gebote hat wie dieses ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege?«

Israel ist aufgerufen oder erwählt zum Halten der Tora, um die Tora zu den Völkern zu bringen, oder wie es bei Jesaja heißt: um Licht für die Völker zu sein (Jes 42,6; 49,8). Die Kirche, die sich nach der Erfahrung von Tod und Auferstehung Jesu aus jüdischen und nichtjüdischen Menschen gebildet hat, hat sich von Anfang an in diese Erwählungstradition Israels in doppelter Weise hineingestellt. Sie hat erstens das Alte Testament als ihre heilige Schrift übernommen; damit hat sie die gesamte Tora und mit ihr die Erwählungstradition Israels übernommen. Und zweitens haben sich die Christusgläubigen, ob Juden oder Nichtjuden – und die Nichtjuden sind hier ganz wichtig –, selber in die Tradition der Erwählung hineingestellt. Sie haben sich in Jesus Christus nun selber als von Gott erwählt verstanden. Sie sind in die Erwählungstradition Israels hineingetreten.

Ich lese eine Stelle aus dem 1. Petrusbrief im 2. Kapitel vor, wo dies ganz klar zum Ausdruck gebracht wird. Da schreibt der Autor an die von ihm angeredete christliche Gemeinde (V. 9–10): »Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht; die ihr einst nicht sein Volk wart, nun aber Gottes Volk seid, und einst nicht in Gnaden wart, nun aber in Gnaden seid.«

Die Christusgläubigen also, ob Juden oder Nichtjuden, sind nun selber Teil des erwählten Volkes. Ich frage mich, ob uns das als Christinnen und Christen wirklich bewusst ist und ob wir das überhaupt wollen. In einer Arbeitshilfe zum Israelsonntag schrieb vor ein paar Jahren der Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Darmstadt, Jehoschua Ahrens, auch viele Juden würden den Gedanken der Erwählung ablehnen, weil sie sich damit aussonderten und weil sie diese Last des Erwähltseins nicht tragen wollten. Ich frage mich: Wie viel mehr tun wir als Christinnen und Christen das? Ich halte es für den großen Gewinn solcher Texte wie unserem, dass er uns erinnert: Wir, ob Jüdinnen oder Juden oder Christen oder Christinnen, wir sollten uns keineswegs vom Gedanken der Erwählung verabschieden. Wir sollten ihn vielmehr annehmen und produktiv anwenden. Erwählung heißt nicht: Ich bin erwählt und andere sind verworfen. Es heißt nicht: Ich bin etwas Besseres und die anderen sind etwas Geringeres. Es heißt nicht: Ich bin etwas Besonderes und die anderen sind die Gewöhnlichen.
Erwählung heißt zuerst: Ich bin beauftragt, ich soll in der Welt zum Guten wirken. Und damit heißt es auch: Ich bin verantwortlich, ich stehe in der Verantwortung vor Gott, wenn diese Welt vor die Hunde geht. Wir haben ja manchmal den Eindruck, es könnte tatsächlich dahin kommen, und an vielen Punkten ist es ja nun wirklich nicht zum Besten bestellt mit dieser Welt. Aber ich kann das nicht auf Gott schieben. Ich muss fragen: Was kann ich tun, wo bin ich in der Verantwortung, dass diese Welt anders aussieht. Erwähltsein heißt: Ich bin in einer besonderen Verantwortung. Ich denke, wir sollten diese Verantwortung annehmen. Erwähltsein heißt aber auch positiv: Gott hat etwas mit mir vor, Gott traut mir etwas zu, Gott will die Welt zu einem besseren und friedlicheren Ort machen, und dazu braucht er Menschen, dazu hat er einst sein Volk Israel erwählt und dazu hat er dann auch noch die, die an Jesus Christus glauben, erwählt. Gott traut mir etwas zu, er sagt: Du kannst das, wie er seinem Volk Israel sagt: Haltet die Tora, und die Völker werden das sehen und werden sagen: Was für ein großartiges Volk und was für ein großartiges Gesetz sind das! Gott hat mir auch die Mittel dazu an die Hand gegeben: persönliche Fähigkeiten, intellektuelle und körperliche Fähigkeiten. Er hat uns in unserem Land wirtschaftliche und gesellschaftliche Möglichkeiten gegeben, zum Besseren zu wirken. Und wir haben seine Tora und die Bibel des Alten und Neuen Testaments – also auch die Bergpredigt und anderes – als Orientierungshilfe. In meinem Verständnis ist der Gedanke der Erwählung kein peinliches Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten. Erwählung bedeutet in erster Linie Verantwortung. Im Buch des Propheten Amos ist nur an zwei Stellen von der Erwählung die Rede. Aber diese zwei Stellen sind ungeheur aussagekräftig. An der ersten Stelle geht es darum, dass Erwählung heißt, verantwortlich zu sein. In Amos 3,1–2 heißt es: »Hört dieses Wort, das Gott über euch geredet hat, ihr Israelskinder, über den ganzen Volksstamm, den ich aus dem Land Ägypten heraufgeführt habe: Nur euch habe ich erkannt von allen Volksstämmen des Erdbodens, deshalb ahnde ich an euch alle eure Verfehlungen.« Weil Israel von Gott erkannt, das heißt erwählt ist, steht es in besonderer Verantwortung vor Gott.

An der zweiten Stelle, in Amos 9,7, heißt es dann aber: Erwählung heißt nicht, dass ihr die Einzigen seid; Gott hat eine Geschichte mit allen Völkern, eine eigene Geschichte mit allen Völkern. So steht es in Amos 9,7: »Gehört ihr nicht genauso zu mir wie die Kuschiten, ihr Israelskinder?« – die Kuschiten, in der griechischen Bibel heißen sie Äthiopier, die Menschen, die südlich von Ägypten leben, die Nubier im Sudan oder in Äthiopien. Und weiter: »Habe ich nicht Israel aus dem Land Ägypten heraufgeführt und die Philister aus Kaftor und Aram aus Kir?« Gott hat also auch mit den anderen, mit den Philistern und den Aramäern, seine eigene Geschichte. Auch mit uns hat er seine eigene Geschichte. Erwählung heißt nicht Verwerfung der anderen, sondern nur eine besondere Beziehung zu Gott, eine besondere Verantwortung vor Gott.

Ich fasse kurz zusammen: Erwählung ist kein Privileg. Erwählung bedeutet Verantwortung. Erwählung bedeutet aber auch, dass Gott mit den Menschen etwas vorhat, dass er ihnen etwas zutraut und dass er ihnen die Mittel in die Hand gibt, das auch durchzusetzen. Die Vorstellung von der Erwählung ist nichts, was man antisemitisch ausschlachten kann. Sie ist vielmehr eine Anfrage an unser eigenes Selbstverständnis als Christinnen und Christen und eine Anfrage an unsere eigene Praxis. Darin sehe ich den wesentlichen Gewinn, wenn wir unseren Text nicht antijüdisch und antisemitisch lesen, sondern ihn auf uns beziehen.3

1 Zitiert nach Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen, in: Martin Luther, Ausgewählte Werke (Calwer Ausgabe), Bd. VI, Stuttgart 1940, 450–452.

2 Zitiert nach Max Haller, Das Judentum. Geschichtsschreibung, Prophetie und Gesetzgebung nach dem Exil (SAT 2/3), Göttingen 21925, 329.

3 Die hier vorgetragenen Gedanken gehen zum Teil zurück auf meine sozialgeschichtliche Bibelauslegung: Rainer Kessler, Ausgewählt, das Gebot zu halten – vom Sinn der »Erwählung (nicht nur) Israels«. 5. Mose (Deuteronomium) 7,6–12. Predigttext am 31. Juli 2011, 6. Sonntag nach Trinitatis, in: Junge Kirche 72, Heft 2 (2011) 65–68.

Blickwechsel: Beobachtungen zum zwölfjährigen Jesus im Tempel (Claudia Janssen)

1879 malte Max Liebermann den Zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,46) mit stark jüdischen Zügen. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich samt antisemitischer Schmähungen, die dazu führten, dass er das Bild »christlich« übermalte. Aber wie wird Jesus im lukanischen Text beschrieben? Und welche Folgerungen ergeben sich?

Die Aufregung ist groß. Jesus ist verschwunden. Wie jedes Jahr sind seine Eltern mit einer größeren Gruppe von Verwandten und Bekannten aus Nazaret nach Jerusalem gepilgert, um dort das Pessachfest zu feiern. So auch in dem Jahr, als Jesus zwölf Jahre alt geworden ist. Nach dem Fest machen sie sich auf den Heimweg. Aber Jesus bleibt in Jerusalem, ohne dass die Eltern das merken. Sie gehen davon aus, dass er irgendwo in der Reisegesellschaft ist. Nachdem sie schon einen ganzen Tag unterwegs sind, suchen sie ihn und kehren voller Sorge nach Jerusalem zurück. Dort finden sie ihn erst drei Tage später im Tempel. Diesen Moment beschreibt das Lukasevangelium ausführlich: Als seine Eltern ihn entdecken, sitzt Jesus mitten unter den Lehrenden, hört ihnen zu und stellt ihnen Fragen (vgl. Lk 2,46ff.).

Judenhass im 19. Jh. und sein Einfluss auf diese Szene
Die Szene im Tempel ist vielfach bildlich dargestellt worden. Vor allem im 19. Jh. war sie ein gängiges Motiv. Doch 1879 bei der internationalen Kunstausstellung im Münchener Glaspalast kam es zu einem Skandal über ein Gemälde des Malers Max Liebermann.2 Der Grund für die Aufregung war die Weise, wie Max Liebermann Jesus dargestellt hatte: als barfüßigen Jungen. Er war wie die Lehrer, die um ihn herumsaßen, an seiner Kleidung, die zudem noch sehr einfach war, als Jude erkenntlich.

Ein kurzer Blick in das gesellschaftliche Umfeld: Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts ist eine Zeit, in der sich eine neue Form des Judenhasses entwickelte, der moderne Antisemitismus. Dieser war nicht in erster Linie religiös motiviert wie die  Judenfeindschaft zuvor, die vor allem zum Ziel hatte, Jüd:innen zu bekehren und zu taufen. »Der ›Rassenantisemitismus‹ oder ›Moderne Antisemitismus‹ bezeichnet seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine neue Form von Judenhass, die ›wissenschaftlich‹ argumentierte (unter Berufung auf Gobineau) und Erkenntnisse der Naturwissenschaft (Darwin) in den Dienst der Judenfeindschaft stellte. […] so war der moderne Antisemitismus, der Juden, nur weil sie Juden waren, stigmatisierte, nur auf Ausgrenzung, Vertreibung und in letzter Konsequenz auf die Vernichtung der jüdischen Minderheit fixiert.«3 Der Begriff »Antisemitismus« entstand im selben Jahr, in dem das Bild des 12-jährigen Jesus im Tempel solche Aufmerksamkeit erregte. Er geht auf den Publizisten Wilhelm Marr zurück. Die »Judenfrage« wurde auch von anderen wie dem Historiker Heinrich von Treitschke und dem Berliner Hofprediger Adolf Stoecker genutzt, um Ängste vor einer »Überfremdung« durch Juden und Jüdinnen zu schüren. Antisemitische Parteien und Vereinigungen entstanden und beeinflussten die öffentliche Meinung. In völkischen Zeitschriften und anderen Formen der Propaganda verbreiteten sie wirkungsvoll ihre Ansichten. Jüdische Menschen wurden aufgrund ihrer konstruierten »Rasse« abgewertet.

Vor dem Hintergrund wird verständlich, warum in diesen Kreisen das Bild Max Liebermanns als so empörend empfunden wurde: Es war die Darstellung eines jüdischen Jesus. In dem Bild konzentrierte er das Geschehen im Vordergrund eines Raumes, für den eine Synagoge in Amsterdam als Vorbild diente, die er in den Jahren zuvor besucht hatte. In der Mitte sind drei Personen zu erkennen: Jesus und zwei Schriftgelehrte im Tallit, dem Gebetsschal, den sie über die Schulter geschlungen haben.4 Sie sitzen auf einer Treppe und haben die Köpfe zu ihm geneigt, auf einer Höhe mit dem vor ihnen stehenden Jesus. Jesus gestikuliert mit seinen Händen, wie um etwas auszudrücken, was ihm wichtig ist. Er sucht nach Worten, wartet auf die Reaktion der Lehrer. Sie hören ihm aufmerksam zu. Das Licht fällt direkt auf diese Szene. Weitere Personen sind im Halbkreis um die Gruppe herum angeordnet: ein weiterer Rabbiner, der sich auf ein Lesepult stützt und zwei Personen mit Pelzmütze und dunklem Mantel, deren Kleidungsstücke die
biblische Szene in die Gegenwart des 19. Jh. versetzen.

In der Zeitschrift ›Kunst für Alle‹ beschreibt der Kritiker Friedrich Pecht, diese Darstellung als »den hässlichsten, naseweisesten Judenjungen, den man sich denken kann« und die Schriftgelehrten um ihn als »ein Pack der schmierigsten Schacherjuden«.5 Dass diese antisemitisch geprägte Kritik in der Öffentlichkeit auf so große Resonanz stieß, hatte vermutlich weitere Gründe. Max Liebermann malte die Szene realistisch, ihn interessierten der Alltag und die sozialen Bedingungen, unter denen Menschen lebten. Diese stellte er in seinen Gemälden immer wieder dar und verstieß damit auch gegen gängige ästhetische Vorstellungen religiöser Szenen. Sicher spielte auch eine Rolle, dass er selbst jüdischer Herkunft war. Von den Ereignissen persönlich tief getroffen, übermalte er das Bild schließlich. Aus dem barfüßigen jüdischen Jungen mit kurzem Haar und einfacher Kleidung wurde nun ein blonder, fast mädchenhaft wirkender »christlicher« (?) Jesus mit ordentlichen Sandalen. Sein Kleid ist nun weiß, er trägt halblange glatte Haare, seine leuchtende Gestalt hebt ihn deutlich von den umgebenden Personen ab, die unverändert geblieben sind. Max Liebermann hat nach diesen Ereignissen nie mehr neutestamentliche Motive gemalt.

Welche Szene malt das Lukasevangelium? Einen den Toragelehrten überlegenen Jesus, der als Gottessohn schon deutlich christliche Züge zeigt? Die Auslegungsgeschichte hat das Lukasevangelium über Jahrhunderte als Werk eines heidenchristlichen Autors verstanden, in dessen Gemeinde Ende des ersten Jahrhunderts die Ablösung vom Judentum schon Realität gewesen sei. Oder hat Max Liebermann Recht, der in der Erzählung in Lk 2 in Jesus einen ganz normalen jüdischen Jungen seiner Zeit sieht, einen Jesus »within Judaism«?

Blickwechsel: der jüdische Lukas
Die Erzählung gehört zum sog. lukanischen Sondergut. Sie enthält keine verlässlichen Informationen über den historischen Jesus und dessen Kindheit, sondern bringt zum Ausdruck, wie die lukanische Gemeinde Jesus gesehen hat. Zunächst werden seine Eltern erwähnt. Ihre Verwurzelung in jüdischen Traditionen wird deutlich herausgehoben.6 Sie lassen ihren Sohn beschneiden, als er acht Tage alt ist (Lk 2,21). Maria hält die in der Tora vorgegebene Zeit ein, in der sie als Gebärende als »unrein«, d. h. dem Heiligen gegenüber als besonders verletzlich gilt (vgl. Lev 12,1–8, zitiert in Lk 2,24), danach bringt sie im Tempel ein Opfer dar. Zwölf Jahre später reisen sie mit ihrem Sohn in einer größeren Gruppe von Festbesucher:innen wieder nach Jerusalem, »wie alle Jahre zuvor«, »wie es der Festbrauch verlangte« (Lk 2,41f.). Jesus ist demnach ebenso vertraut mit dieser Tradition und in der örtlichen Synagoge beheimatet (vgl. Lk 4,16).

Nach dem Pessachfest beenden sie ihren Aufenthalt in der Stadt, Jesus bleibt jedoch ohne Wissen der Eltern allein zurück. Jerusalem ist zu hohen Festen angefüllt mit Pilger:innen aus vielen verschiedenen Ländern. Sie suchen ihn lange und finden sie ihn schließlich im Tempel. Er sitzt mitten unter den Lehrenden, hört ihnen zu und stellt ihnen Fragen (V. 46). Wären die äußeren Umstände nicht so dramatisch geschildert, wäre dies eine alltägliche Szene: Ein zwölfjähriger Junge studiert die Tora in einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden. Er hört zu und stellt Fragen. Im nächsten Vers wird seine Besonderheit dann doch herausgestellt: Die Zuhörenden sind über seine Auffassungsgabe und seine Antworten verblüfft. Das Verb exhistēmi weist auf eine starke emotionale Reaktion hin: Sie sind über die Maßen begeistert von seiner außergewöhnlichen Klugheit. Aber zeigt Jesus hier seine Überlegenheit den Schriftgelehrten gegenüber? So wird dieser Vers oft gedeutet. Der Textbefund gibt das nicht her, sondern zeigt eher die Überraschung und Freude über einen solchen besonderen Schüler. Wie wir die Texte lesen, hängt oft davon ab, mit welcher »Brille« wir das tun, also mit welchem Vorverständnis und Wissen über die Zusammenhänge, in der eine Stelle verortet ist.7 Über Jahrhunderte wurde hier die Vorstellung eines dem Judentum überlegenen Christentums schon in die Kindheitsgeschichte Jesu hineingelesen. Um im Bild zu bleiben: mit einer von antijüdischen Vorannahmen christlich eingefärbten Brille, die die Szene verzerrt zeigt. Diese Fehlsichtigkeit hat sogar dazu geführt, dass der Text an einer entscheidenden Stelle nicht sachgemäß übersetzt wird. Als die Eltern ihren Sohn endlich finden und ihm Vorwürfe machen, ist Jesus über ihr Erscheinen erstaunt und fragt sie: »Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich unter denen sein muss, die zu meinem Vater gehören (en tois tou patros mou)?« (V. 49 in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache) Andere Bibelübersetzungen geben dieser Wendung einen anderen Sinn: » … dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?« (so der Text in der ursprünglichen Revision Luther 2017)8, Einheitsübersetzung: »… dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?« Was macht den Unterschied der Übersetzungen aus, welche Bilder rufen sie hervor? Muss Jesus bei denen sein, die wie er zum Vater gehören? Oder wird hier ein Gegensatz zwischen ihm und denen konstruiert, die sich im Tempel aufhalten, dem Haus seines Vaters (wo er als Sohn Hausrecht hat)? Zumindest macht Jesus Maria und Josef damit deutlich, dass er bei ihnen eigentlich nicht Zuhause ist.

Gemeinschaftlich die Schrift auslegen
Wie ist der griechische Text zu verstehen? Welche Übersetzung ist angemessen?
Dazu hilft ein Blick auf V. 44: Als die Eltern Jesus vermissen, suchen sie ihn »unter den Verwandten und Bekannten« (en tois syngeneusin…) Hier wird dieselbe Dativkonstruktion im Plural verwendet wie in V. 49: en tois – »unter denen…« In V. 46 wird die Szene im Tempel situiert: en tō hierō (Singular), wo Jesus »in der Mitte« der Lehrenden (Plural) sitzt. Vers 49 bezieht sich darauf mit einer Wendung im Plural. Es geht beim Übersetzen oft nicht um »richtig« und »falsch«. Jede Übersetzung interpretiert den Text. Doch machen hier Signale, die der Text selbst gibt, die Übersetzung »unter denen, die zu meinem Vater gehören« plausibel. Er ist nicht unter den Verwandten und Bekannten zu finden, sondern in der Gemeinschaft derer, die das Wort Gottes im Tempel auslegen.

Das Lukasevangelium beschreibt Jesus als Interpreten der Schrift, dessen Auslegung auch Konflikte erzeugt (Lk 4,16–30). Doch unangefochten bleibt für den lukanischen Jesus die Tora die Basis eines Lebens in Gerechtigkeit9 und für die Gemeinde der Tempel auch nach dem jüdischen Krieg und der Zerstörung des Heiligtums der zentrale Ort der Gottesverehrung.10 Das ursprüngliche Bild Liebermanns erfasst diese Situation sehr gut. In seiner Interpretation der Szene bietet er zugleich eine Vision der Zusammengehörigkeit jüdischer und christlicher Schriftauslegung für seine Gegenwart, indem er den jüdischen Jesus in der Amsterdamer Synagoge auf Augenhöhe mit den Rabbinern ins Gespräch bringt. Die Entwicklung einer Lesart der neutestamentlichen Schriften »within Judaism« kann an diese Hoffnung Liebermanns anknüpfen und den wissbegierigen jüdischen Jungen anstelle des blonden Kitsch-Jesus wieder ins Zentrum des Bildes rücken.

Zusammenfassung
Anhand der Betrachtung des Gemäldes von Max Liebermann »Der zwölfjährige Jesus im Tempel« wird gefragt, welches Bild das Lukasevangelium malt: eine alltägliche Szene gemeinsamen Toralernens Schriftgelehrter und eines jüdischen Jungen – oder christliche Überlegenheit, die Jesus schon als Kind besitzt? Die Übersetzung von Lk 2,49 bietet den Schlüssel zu einem Verständnis des jüdischen Jesus im Lukasevangelium.

1 Mit freundlicher Genehmigung, Erstveröffentlichung in Bibel und Kirche 4/2022,
Kath. Bibelwerk e. V., Stuttgart 2022, www.bibelwerk.de.

2 Im Katalog zur Ausstellung in der Liebermann-Villa am Wannsee in Berlin finden sich
Abbildungen der beiden Varianten der Bilder und verschiedene Vorskizzen. Vgl. Martin
Faass (Hg.), Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik, Berlin 2009.

3 Zum Folgenden vgl. z.B. Wolfgang Benz, Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert
(27.11.2006), https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37948/19-und-
20-jahrhundert (Abruf 19.8.22)

4 Vgl. Anna Sophie Howoldt, Komposition und Bedeutung der Bekleidung im Gemälde »Der zwölfjährige Jesus im Tempel« von Max Liebermann, in: Martin Faass, (Hg.), Der Jesus-Skandal, 25–30.

5 Friedrich Pecht, zitiert nach Erich Hancke, Max Liebermann. Sein Leben und seine Werke, 2. Aufl., Berlin 1923, 133.

6 Vgl. Christfried Böttrich, Lukas in neuer Perspektive, in: Evangelische Theologie 80 Heft 2 (2019), 114–129.

7 Zum Jesusbild in Kinderbibeln, die ebendiese Szene abbilden, vgl. Keuchen, Marion,
Die Darstellung des Judentums in christlichen Kinderbibeln am Beispiel des 12-jährigen
Jesus im Tempel, in: BiKi 1 (2018), 29–37.

8 In einer späteren »stillen« Überarbeitung wurde die Übersetzung verändert: »bei denen, die zu meinem Vater gehören«, vgl. die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lesen/LU17/LUK.2/ Lukas-2 (Abruf 19.8.2022)

9 Vgl. Christfried Böttrich, Das lukanische Doppelwerk im Kontext frühjüdischer Literatur, in: ZNW 2015; 106(2) 151–183, hier: 175.

10 Vgl. Michael Bachmann, Jerusalem und der Tempel. Die geographisch-theologischen
Elemente in der lukanischen Sicht des jüdischen Kultzentrums, Stuttgart u.a. 1980.

Die Passionserzählung ohne Verschwörung erzählen (Katharina von Kellenbach)

Verschwörungsszenarien entstehen in Krisenzeiten, in denen sich Menschen in ihrer Existenz bedroht fühlen und nach konkreten Schuldigen suchen, um zu verstehen, wer hinter abstrakten und schwer greifbaren Bedrohungen und Veränderungen verantwortlich gemacht werden kann. Es ist psychologisch einfacher, an eine zwielichtige Schattenregierung zu glauben, als sich mit den überwältigenden und ambivalenten Zusammenhängen von Pandemie, Klimawandel, Globalisierung, Krieg, Migration und Kapitalismus auseinanderzusetzen: Da muss jemand dahinterstecken, da agiert jemand mit Absicht, da profitiert jemand. Man findet Gemeinschaft und Bedeutung im Glauben, man wäre eingeweiht, wüsste um Geheimpläne und könnte hinter die Kulissen schauen. So funktionieren die »Protokolle der Weisen von Zion«, die vom russischen Geheimdienst im Jahre 1903 gefälscht wurden und nicht nur von den Nationalsozialisten zur Rekrutierung und Indoktrinierung benutzt wurden. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson bezahlte die Übersetzung ins Englische. Heute existiert der in viele Sprachen übersetzte und weltweit vertriebene Text dieses fiktiven Geheimprotokolls einer jüdischen Weltverschwörung weiterhin in Fernsehserien, Hörspielen und im Internet.

Wie hängt das mit den Evangelien und der Passionsgeschichte zusammen?
Oder anders gefragt: Warum sind es immer die Juden, denen bösartige Verschwörungen zugetraut und nachgesagt werden?

Wer die vier Evangelien als historischen Tatsachenbericht liest, ist hinterher überzeugt, dass die Hohepriester, Schriftgelehrten, Ältesten, manchmal auch die Pharisäer, also irgendwie die »Weisen von Zion« oder auch pauschal die »jüdischen Eliten« sich entscheiden, einen völlig unschuldigen Menschen umzubringen. In allen vier Evangelien heißt es an mehreren Stellen:

die Hohepriester und Schriftgelehrten »halten Rat, dass sie ihn töteten« (Mt 27,1)

sie »trachteten danach, wie sie ihn töten könnten« (Lk 22,2)

planen »wie sie ihn mit List ergreifen und töten könnten« (Mr 14,1)

suchen »falsches Zeugnis gegen Jesus, dass sie ihn töteten« (Mt 26,59)

»überredeten das Volk, dass sie um Barabbas bitten, Jesus aber umbringen sollten« (Mt 27,29)

Mit der Wiederholung der Tötungsabsicht verdichtet sich der Eindruck der Böswilligkeit, mit der ein Unschuldiger verfolgt wird. Es ist nicht nur die jüdische Obrigkeit, sondern das ganze Volk, das sich auf den Straßen Jerusalems versammelt, um schreiend zu fordern: »kreuzige ihn, kreuzige ihn« und sich dafür selbst zu verfluchen: »sein Blut komme über uns und unsere Kinder« (Mt 27, 25).

Der dramatischen Verdichtung der jüdischen Schuld steht die rhetorische Betonung der Unschuld der römischen Akteure gegenüber: Pontius Pilatus ist von der Unschuld Jesu Christi überzeugt und er bezeugt das ebenfalls wiederholt. Er verhandelt zäh mit den Hohepriestern, »nehmt ihr ihn hin und kreuzigt ihn, denn ich finde keine Schuld an ihm« (Joh 19,6). »Bin ich ein Jude« fragt er (Joh 18, 35), weil er – wie die christlichen Leser*innen – nicht verstehen kann, wieso eine Anklage auf Blasphemie ausreichen soll, einen jüdischen Religionslehrer zu kreuzigen. Pilatus kann keine Schuld finden (Joh 18, 38; Joh 19, 7), bietet einen Gefangenenaustausch gegen den Mörder Barabas an (Mt 27, 15–23; Mk 15, 6–14; Lk 23, 13–16, Joh 19, 1–15). Er beugt sich schließlich aus Furcht vor der Straße (Joh 19, 8), und um »dem Volk Genüge zu tun« (Mr 15, 15) und »ihre Bitte zu erfüllen« (Lk 23, 24). Gegen seinen Willen verurteilt er Jesus von Nazareth dann doch zum Tode.

Diese Szenen und Bilder haben sich tief in das kulturelle Archiv der westlichen Zivilisation eingegraben.

Das macht die Bibel zu einem gefährlichen Buch für Juden. Denn in vielen Ländern der Welt lernen Menschen das Lesen und Schreiben mit der Bibel, wobei sie unkritisch die Geschichten und Bilder von Juden und Judentum absorbieren, auch wenn sie noch nie in ihrem Leben einem jüdischen Menschen begegnet sind. Antisemitismus existiert weltweit und unabhängig vom Verhalten konkreter jüdischer Gemeinschaften.

Das größte Problem besteht darin, dass die Bibel als Geschichtsbuch oder Tatsachenbericht missverstanden wird. Aber die Bibel ist eine »Heilige Schrift«, deren Symbolsprache entschlüsselt und deren Kodierungen ausgelegt werden müssen. Die Evangelien verkünden eine Frohe Botschaft und sprechen von einem Gott der Befreiung in Zeiten der Verfolgung und des Widerstands. Wer die Bibel wortwörtlich als historische Berichterstattung liest, liest sie falsch.

(1) Zur historischen Verortung
Die Evangelien wurden nicht von Zeitzeugen geschrieben. Die Evangelisten sind nicht aramäisch-sprechende Jünger, sondern griechisch sprechende Christus-Anhänger, die an den Auferstandenen glaubten. Die Texte wurden mindestens 40 Jahre später in einer Nachkriegssituation und radikal veränderten Welt verfasst. Nach der katastrophalen Niederlage und der Zerstörung des Tempels erschienen die dramatischen Ereignisse um Verhaftung, Verurteilung und Kreuzigung Jesu Christi noch einmal in einem ganz anderen Licht. Und alle Christus-Anhänger, ob jüdisch oder nicht-jüdisch, standen unter Generalverdacht, mit »Terroristen« und Aufständischen zu sympathisieren. Es war lebensgefährlich, sich in dieser Situation zu einem jüdischen Christus/Messias zu bekennen, der »unter Pontius Pilatus gekreuzigt, begraben und in das Reich des Todes hinabgestiegen war«. Diese historisch bedingten Risiken und die Schutzbedürftigkeit der Evangelisten und ihrer Gemeinden müssen mitgedacht werden, wenn man die Passionsgeschichte liest und unterrichtet.

Was können wir historisch über die Kreuzigung sagen?
In den synoptischen Evangelien und im Johannesevangelium passiert die Verhaftung am oder kurz vor dem Passahfest in Jerusalem. Am Passahfest füllt sich Jerusalem mit Pilgern, die dort hinziehen, um der Befreiung des Volkes Israel aus der Gefangenschaft in Ägypten festlich zu gedenken. An diesem Pilgerfest wird ein Lamm im Tempel gekauft und rituell geschlachtet, damit im Familienkreis die wundersame Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei gefeiert werden kann. An diesem Feiertag stehen die Tempelbehörden und römischen Besatzungstruppen in Bereitschaft. Der Statthalter bringt extra Truppen in Stellung, weil damit gerechnet werden muss, dass sich jemand mit Moses identifiziert und zum Auszug aus Ägypten aufruft. Die Behörden wollen unter allen Umständen die öffentliche Sicherheit und Ruhe bewahren.

Die Tempelreinigung
In dieser Situation läuft Jesus mit seinen Jüngern und Jüngerinnen in Jerusalem ein. Ob Jesus tatsächlich in den Tempel geht und dort Händler tätlich angreift, wissen wir nicht. Im Johannesevangelium geschieht die Tempelreinigung früher (Joh 2, 13–25). Aber egal, diese Aktion allein ist Grund genug, ihn aufzugreifen.

Jesus ist nicht der Einzige, der den Tempel wegen Korruption und Kollaboration mit den römischen Kolonialherren kritisiert. Dort werden die Steuern eingezogen, durch die die Bevölkerung systematisch von der römischen Kolonialherrschaft verarmt wird. Auch die Pharisäer und die Essener klagen über Korruption im Tempel, und die Gemeinschaft in Qumran hat sich völlig vom Tempel losgesagt und ihren eigenen Hohepriester ernannt. Aber dieser Angriff auf den Tempel, der in der Karwoche selten bis nie liturgisch mitbedacht wird, reicht als Auslöser für eine Verhaftung – ohne jegliche Verschwörung.

Das jüdische Verfahren
Es gibt weder Augenzeugenberichte noch schriftliche Dokumente zu den unterschiedlichen Gerichtsverfahren (vor dem Sanhedrin, vor Herodes (Lk) und vor Pontius Pilatus). Die Jünger blieben vor den Toren (wie Simon Petrus im Vorhof) oder hielten sich versteckt. Niemand weiß, was nachts im Haus des Hohepriesters verhandelt wurde.

Nach jüdischen Recht, der Halacha, wie sie in der Mischna schriftlich fixiert wurde, war es auf jeden Fall kein ordentliches Gerichtsverfahren. Das kann gar nicht an einem Feiertag (während des Passahfestes) stattfinden. Es muss in einem ausgewiesenen Gerichtsgebäude stattfinden (dem Beit Din), während business hours, also am Tag, öffentlich, mit Zeugen, Ankläger und Verteidiger. Nach einem Schuldspruch gibt es zwingend Bedenkzeit von einer Nacht. Wie wir wissen, nehmen Juden das Gesetz ernst. Was also ist da passiert, nachts, während dem Passahfest, im Privatquartier des Hohepriesters, unter Ausschluss der Öffentlichkeit? Was wurde da diskutiert? Es gibt verschiedene Spekulationen: Es könnte eine Art Verhör gewesen sein, oder aber die religiösen Autoritäten versuchten Jesus zu überreden, Ruhe zu bewahren und Kompromisse zu schließen.

Laut den Evangelien werden zwei Anklagepunkte verhandelt: der Angriff und die Bedrohung des Tempels, eine politische Tat, und der Vorwurf der Gotteslästerung, ein theologischer Vorwurf. Am überzeugendsten ist immer noch, was das Johannesevangelium dem Hohepriester Kaiphas in den Mund legt: »Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als das ganze Volk verderbe« (Joh 11, 50). Denn was es bedeutet, wenn die Römer eingreifen, um Tumulte am Tempel niederzuschlagen, das haben alle Überlebenden des römisch-jüdischen Krieges der Jahre 66–70 v. Chr. vor Augen. Dieses Blutvergießen wollten die Hohepriester verhindern.

Das römische Verfahren
Wir wissen auch nicht, was vor den römischen Autoritäten besprochen wurde. Es gibt keine schriftlichen Gerichtsunterlagen. Aber es gibt voneinander unabhängige Quellen, die den Urteilsspruch belegen, der sichtbar am Kreuz befestigt wird: INRI – Jesus von Nazareth König der Juden. Das ist ein politisches Urteil für Aufstand gegen Rom.
38 Teil 1 Antisemitismuskritische Bibelauslegungen Nach römischen Recht hatten römische Bürger gewisse Rechte (die Paulus auch in Anspruch nimmt). Aber Jesus war kein römischer Bürger und konnte deshalb im Schnellverfahren abgeurteilt werden. Es war wahrscheinlich kein öffentliches Verfahren, deshalb können wir auch nicht wissen, ob Pontius Pilatus beteiligt war oder was er gesagt hat.

Der Statthalter ist allerdings für seine Grausamkeit und Skrupellosigkeit bekannt. Es ist belegt, dass er Tausende kreuzigen ließ, eine brutale Foltermethode, die der Abschreckung diente, mit der die Pax Romana, die Ruhe und der Frieden Roms, gegen Aufständische in den Kolonien durchgesetzt wurde. Soweit wir wissen, hat das Pilatus nicht um den Schlaf gebracht und vermutlich seine Frau ebenfalls nicht. Es gibt keine Hinweise, dass er jemals
das Bedürfnis hatte, seine Hände in Unschuld zu waschen (Mt 23, 35).

(2) Politische und theologische Gründe für die Schuldverschiebung
Dafür gibt es sehr wohl gute politische und theologische Gründe, warum in den Evangelien eine Schuldverschiebung stattfindet. Politisch sicherte die Schuldumkehr das Überleben der christlichen Gemeinden im Römischen Reich. Es blieb brandgefährlich, sich zu einem Messias zu bekennen, der von Rom gekreuzigt wurde. Die Kreuzigung, eine römische Hinrichtungsmethode, haben die Christen nie geleugnet. Und sie bezahlten bitter für dieses Bekenntnis – man erinnere sich an die Märtyrer, die in den römischen Arenen den Löwen zum Fraß vorgeführt wurden. Diese Verfolgungssituation erklärt, warum das politische Potential der römischen Verurteilung des Jesus von Nazareth als »König der Juden« heruntergespielt wurde. Die Verfolgung der Christenheit wurde erst gänzlich überwunden, nachdem die Kirche zur römischen Staatsreligion erklärt wurde.

Die Schuld für die Kreuzigung wird ja nicht nur von Rom nach Jerusalem verschoben, sondern auch von der politischen Anklage in den religiös-theologischen Bereich. Der Vorwurf der Gotteslästerung (Mt 26, 65; Mk 14, 64; Lk 22, 54) wird wichtiger als die Anklage auf Rebellion und Tempelbedrohung (Mk 14, 58; Mt 26, 61). In manchen Schulbüchern reichen schon Streitgespräche zur Sabbatruhe oder Reinheitsgebote, um Jesus töten zu wollen. Laut den Evangelien erfüllt das, was Jesus im Haus des Hohepriesters Kaiphas gesagt haben soll, nicht den Tatbestand einer Gotteslästerung nach jüdischem Gesetz. Jedermann kann sich zum Messias ausrufen, und das haben auch einige in der jüdischen Geschichte immer wieder getan. Man kann sich auch als ben Adam, Menschensohn, oder ben adonai, Sohn Gottes, bezeichnen, und das ist noch lange keine Gotteslästerung. Man darf allerdings den Namen Gottes nicht nutzen, das darf nur der Hohepriester an Jom Kippur im Heiligsten des Tempels. Das aber tut Jesus nicht – auch wenn die »Ich bin«- Worte im Johannesevangelium manchmal so ausgelegt werden.
Theologisch begründet die Schuldbelastung die Delegitimierung und Enterbung der pharisäisch-rabbinischen Konkurrenz. Weil die Juden »ihren« Messias nicht erkennen, sondern ihn verfolgen und töten, werden sie verworfen und enteignet:

»Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, wird zum Eckstein werden, das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk (ethnos) gegeben werden, das seine Früchte bringt.« (Mt 21, 42–43)

Das »Neue Volk«, die multiethnische christliche Gemeinde, ersetzt die Kinder Israels. Das neue Testament macht das Alte Testament ungültig, der alte Bund wird ausgesetzt. Exil, Demütigung und Vertreibung werden zur gerechten und gottgewollten Strafe für den Gottesmord. Die Kirche wird zur neuen Bundesgemeinschaft, ihr Triumph manifestiert sich an der Erniedrigung der Synagoge.

Im Bild des »Lebenden Kreuzes«, das Sakralräume und Bücher schmückt, krönt die rechte Hand des Kreuzes die Kirche und ersticht mit der linken Hand die blinde Synagoge. Deshalb spricht Rosemary Radford Ruether vom Antijudaismus als »linker Hand der Christologie«1. Dennoch hat die Kirche dem jüdischen Volk das Existenzrecht nie völlig abgesprochen, sondern gelehrt, dass sie als Zeugen der biblischen Wahrheit auch weiterhin in der christlich-beherrschten Welt existieren dürfen. Damit auch das fleischliche Israel, am Ende der Tage, Christus erkennen möge, wenn er in aller Macht und Herrlichkeit wiederkehrt. Erst der säkulare Antisemitismus hat der jüdischen Traditionsgemeinschaft die Daseinsberechtigung nicht nur theologisch, sondern auch existentiell abgesprochen.

Die Römisch-Katholische Kirche
Mit der Ernennung der Kirche zur römischen Staatsreligion durch Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert wird die Kirche endgültig zu einer heidnisch-geprägten Kirche, die sich von der jüdischen Kultur distanziert und der römischen zuwendet. Pontius Pilatus wird zum ehrenwerten Helden und in der äthiopischen Kirche sogar zum Heiligen. Aus dem Kreuz, dem Symbol des Grauens, wird ein Zeichen des Triumphes. Der Römer Konstantin wollte in diesem Zeichen siegen: »In Hoc Signo Vinces«. Dabei sah er vermutlich eher eine traditionelle römische Trophäe, ein Holzkreuz, auf dem Helm, Brustschild und Waffen der besiegten Feinde ausgestellt wurden. Solche Trophäen finden sich auf unzähligen Münzen und Triumphbögen abgebildet und bilden den Hintergrund für ein Verständnis des Kreuzes als ein Zeichen der Macht und des Triumphs.

Ein Kreuz erscheint zum ersten Mal im vierten Jahrhundert in einem Altarraum. Davor war dieses Folterinstrument zu sehr mit Grauen und Trauma besetzt. Auf dieser Abbildung steht Jesus siegessicher am Kreuz. Neben ihm hängt Judas an einem Baum. Judas ist tot. Jesus wirkt nicht tot, sondern sieht den Betrachter lebendig an. Er scheint auch nicht zu leiden.2 Die Kirche hat sich auf Kosten der Synagoge mit der Macht Roms verbündet. Es ist leichter die Evangelien als Kritik an der jüdischen Obrigkeit zu lesen und dabei den Balken im Auge der Geschichte römischer Gewaltherrschaft zu übersehen. Es wird höchste Zeit, diese Schuldverschiebungen sowohl aus Gründen der historisch-kritischen Redlichkeit, als auch wegen der vorherrschenden theologischen Fehlinterpretation neu zu lesen.

Schuld und Sühne
Geht es denn in der Passionsgeschichte überhaupt um Schuld und Sühne?
Diese Interpretation ist, zumal im evangelischen Bereich, zum Zentrum der Osterbotschaft geworden. Die Fixierung der Passionsgeschichte auf Schuld und Sühne verstärkt auch – so meine These – das Bedürfnis, andere verantwortlich zu machen, nach (jüdischen) Tätern zu suchen und Verschwörungsszenarien zu entwickeln.

Natürlich hat die christliche Lehre immer betont, dass Jesus »für uns« und »unsere Sünden« gestorben ist – und nicht, weil die Juden ihn umbringen wollten. Dennoch haben selbst die klügsten Köpfe unserer theologischen Tradition keinen Widerspruch darin gesehen, gleichzeitig zu lehren, dass Christus für unsere Sünden starb und dass die Schuld dafür seine »jüdischen« Gegner tragen. Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Bis ins Jahr 1965 war die jüdische Kollektivschuld kirchlicher Konsens. Erst nach der Shoah erklärte das Zweite Vatikanische Konzil in Nostra Aetate ganz vorsichtig: »Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen«3. Die Zaghaftigkeit, mit der die Kollektivschuld des jüdischen Volkes verworfen wird, zeugt von der Zentralität des Gottesmordvorwurfs.

Die jüdische Kollektivschuld kann nicht einfach ignoriert werden, wie es die EKD Denkschrift von 2015 »für uns gestorben: zur Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi« tut. Die Autoren warnen davor, die Schuld an der Kreuzigung »einer bestimmten Gruppe« zuzuweisen, weil es in der Passion um das »Versagen des Menschen überhaupt geht«. Jeder einzelne Mensch trägt dazu bei, »Jesus Christus immer wieder ans Kreuz zu schlagen«. In seinem Leiden wird der »tödliche Kreislauf der Schuld aufgebrochen« und alle Menschen werden aus den »verhängnisvollen Irrwegen der Schuld« befreit. Denn, so das theologische Argument, das Sühneopfer Jesu Christi am Kreuz durchbricht zwanghafte Schuldprojektionen:

»Wer sich am Gekreuzigten orientiert, der muss andere nicht mehr zum ›Sündenbock‹ machen. Wer sich von Christus her versteht, kann Konflikte nicht mehr durch ›Verdrängung‹, ›Abwehr‹ und ›Übertragung‹ von Schuld auf andere lösen wollen. Denn der andere wird als jemand erkannt und anerkannt, für den Jesus bereit war, sein Leben einzusetzen – ›der Bruder (und die Schwester), um dessentwillen (und derentwillen) doch Christus gestorben ist‹ (1 Kor 8, 11; vgl. Röm 14, 15).«4

Das ist richtig. Aber es erklärt die Hartnäckigkeit von Verschwörungsdenken und Kollektivschuldthesen nicht. Und es übersieht, dass, wo es Opfer gibt, man auch Täter braucht. Und der Reinheit und Unschuld des Opfers entspricht die Machtgier und Böswilligkeit der jüdischen Obrigkeit.

Im Unterschied zur deutschen Sprache gibt es im Lateinischen und Englischen zwei Begriffe für das Opfer: Victima (engl. victim) meint das passive Opfer einer Untat, während Sacrifico (engl. sacrifice) die aktive Aufopferung für Gemeinschaft, Glauben und Gerechtigkeit meint. Die Vermengung der beiden Opferbegriffe, von aktiv und passiv, mächtig und ohnmächtig ist fatal. Das victim ist machtlos, ausgeliefert und trägt keine Schuld. Ihm wird Handlungsmöglichkeit und Entscheidungsfreiheit eingeschränkt und geraubt, es wird zum passiv-leidenden Subjekt. Dem ohnmächtigen Opfer entspricht der mächtige Täter, der den Plan ausheckt. Dieses Opferdenken aktiviert Verschwörungsmythen. Solange wir machtlos sind und uns ohnmächtig fühlen, vermuten wir nach mutmaßlichen Verschwörern. Als Unschuldige tragen wir keine Verantwortung.

Der andere Opferbegriff sacrifice/sacrificio ist aktiv und der Passionsgeschichte allein angemessen. Jesus war nicht Opfer einer Verschwörung (victima), sondern hat sich für seinen Glauben und seine Gemeinschaft geopfert (sacrificio). Jesus bleibt ein verantwortlich Handelnder, der aktiv Entscheidungen trifft: »Lass diesen Kelch an mir vorüberziehen« ist eine Entscheidung. Wohl wissend, worauf er sich eingelassen hat und was ihm bevorsteht, entscheidet sich Jesus, den Weg der Provokation und Konfrontation weiterzugehen. Er ist bereit, diesen Einsatz mit seinem Leben zu bezahlen. »Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde« heißt es im Johannesevangelium (Joh 15,13).

Zudem, so die Neutestamentlerin Silke Petersen in ihrem Aufsatz zur »Opfertheologie im Neuen Testament«, wird in den Evangelien die Passionsgeschichte nicht durch Opfermythologien interpretiert.

»Bei einer Suche nach verschiedenen Opferarten in den Evangelien lässt sich feststellen, dass Opferterminologie in keinem der vier Evangelien für die Deutung des Todes Jesu verwendet wird. Anscheinend lässt sich von Jesus reden, ganz ohne ihn als ›Opfer‹ zu bezeichnen.«5

Der Satz vom »Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt« fällt im ersten Kapitel des Johannesevangeliums (Joh 1, 29) im Kontext der Taufe und nicht der Passionsgeschichte. Es ist Johannes der Täufer, der vom Lamm Gottes spricht: »Auf welchen du siehst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist’s der mit dem heiligen Geist tauft« (Joh 1,33), und wiederholt dann in Joh 1,35: »Siehe das ist Gottes Lamm!«

Sündenbock oder Lamm Gottes?
Wie wurde aus dem Lamm Gottes ein Sühneopfer? Hat die christliche Tradition irrtümlicherweise aus dem Lamm einen Sündenbock und aus dem Passafest den Versöhnungstag gemacht?

»Viel ist gestritten worden über das richtige Verständnis des Kreuzestodes Jesu. Die ersten Christen, die Juden waren, deuteten den Tod in Analogie zum Ritual am großen Versöhnungsfest, dem ›Jom Kippur‹. Es ist im 3. Buch Mose, Kapitel 16, beschrieben. Da wird die Sünde des Volkes symbolisch einem Bock auf die Schultern geladen, der anschließend in die Wüste getrieben wird, wo er stirbt und die Sünden des Volkes mit in den Tod nimmt. Dieser Vorgang wird als ›Sühne‹ bezeichnet, man spricht deshalb vom Sühnetod Christi.«6

Diese Interpretation steht nicht in den Evangelien. Und sie übersieht gravierende Unterschiede: Der Sündenbock wird nicht geschlachtet, sondern in die Wüste geschickt. Sein Fleisch wird nicht konsumiert, denn die Sünden, die ihm rituell auferlegt wurden, sollen ja aus der Gemeinschaft entfernt werden. Sein Tod in der Wüste ist impliziert, ist aber nicht notwendig. Dieses Ritual, das detailliert im Buch Levitikus (16) beschrieben ist, wurde zuletzt in Jerusalem vor der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 zelebriert. Denn es konnte nur vom Hohepriester im Heiligsten des Tempels vollzogen werden. Die rabbinische Tradition hat dieses Ritual zu einem Fastentag im Herbst weiterentwickelt. Der Versöhnungstag findet zehn Tage nach dem Neujahrsfest Rosh Ha-Schana im Herbst statt.

Die Passionsgeschichte ist aber auf das Passahfest im Frühling terminiert. An Pessach geht es nicht um Schuld und Versöhnung, sondern um die Befreiung aus der ägyptischen Versklavung. Das Lamm Gottes, das am Passahfest geschlachtet wird, ist ein Festmahl, das Gemeinschaft stiftet, das schützt und ernährt.

Was passiert, wenn man Ostern durch die Wurzelgeschichte des Passafestes liest? Dann würde es nicht um Schuld und Versöhnung gehen, sondern um Versklavung und Befreiung, Tod und Auferstehung. Ostern wäre dann das Fest des Ausbruchs aus der Sklaverei einer sich neu formierenden Gemeinschaft, die sich auf eine gefährliche Reise in ein verheißenes Land macht, in der Recht getan wird und Friede möglich sein soll. Das Leiden der Passion ist nicht unwichtig, aber nicht essentiell, denn es dient nicht der Sühne, sondern der Befreiung. Man denke an die zähen Verhandlungen des Moses mit dem Pharao, die zehn Plagen und ihre Enttäuschungen, die wachsende Frustration und Verzweiflung der hebräischen Sklaven. Kurz bevor sie jegliche Hoffnung aufgeben, geschieht das Wunder des Lammes, das der Gruppe den Auszug ermöglicht, obwohl sie dann noch einmal von den ägyptischen Heerscharen eingeholt werden, um wundersam gerettet zu werden. Und dann verlaufen sie sich vierzig Jahre in der Wüste … Verheißung ist keine Gewissheit und kein Besitz, Befreiung passiert nicht als historisches Ereignis, sondern als Prozess. Erlösung wird errungen und erlitten. Die Auferstehung ist mehr als nur ein geschichtliches Datum, sondern eine Geschichte, die wahr und wirklich gemacht wird, weil sie nachgelebt und erfahren wird.

Die Passion, durch die Wurzelgeschichte des Passahfestes gelesen, verbindet die neue Gemeinschaft der Ecclesia mit den Kinder Israels, die sich in der Synagoge nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem neu gemeinschaftlich organisieren. Die Passionsgeschichte wird zur Fortsetzung und Weiterführung der Verheißungsgeschichte der Kinder Israels. Das Lamm nährt und verbindet, es schafft Gemeinschaft: »Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat« (Joh 3, 16). Das Lamm wird zum Leib der Kirche, einer internationalen, transethnischen und multikulturellen Gemeinschaft, die auf dem Weg ist.

1 Rosemary Radford Ruether, Brudermord. Die theologischen Wurzeln des Antisemitismus, München 1978.

2 vgl. Brigitte Kahl, Cross and trophy, Studia Theologica – Nordic Journal of Theology,
London 2018, 112–131.

3 Erklärung Nostra Aetate. Über das Verhältnis der Kirche zu nichtchristlichen Religionen. https://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_ge.html (Abruf 20.12.2022)

4 Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015
(https://www.ekd.de/II-2-Neutestamentliche-Grundlagen-478.htm) (Abruf 20.12.2022)

5 Silke Petersen, »Opfertheologie im Neuen Testament« Neue Wege 9.21, 35–38.

6 Horst Gorski, »Deutung des Todes Jesu. Viel ist gestritten worden über das richtige
Verständnis« (https://www.ekd.de/horst-gorski-karfreitag-deutung-des-todes-jesu-
44929.htm) (Abruf 1.12.2022)

Schulbücher als Ort der Reproduktion antijüdische Narrative (Ariane Dihle)

1. Einleitung
»Historisch wie aktuell sind Schulen der zentrale gesellschaftliche Ort der Wissensvermittlung an die nachwachsende Generation.«1 Da Schul- und Unterrichtszeit begrenzt sind, findet ein Aushandlungsprozess darüber statt, welche Inhalte in der Schule behandelt werden. In Lehrplänen und anderen curricularen Vorgaben werden Kompetenzen festgelegt, die in der Schule erworben und gebildet werden müssen. Schulbücher sind »Instrumente der Repräsentation, Strukturierung und Steuerung von Schulwissen.«2 Sie sind ein wichtiges Element in der Diskursproduktion, 3 denn durch Schulbücher werden konkrete Erzählungen, Wissen und Bilder reproduziert. Diese sind dabei aber auch immer Produkte gesellschaftlicher, politischer, theologischer, pädagogischer Auseinandersetzungen.4 Sie spiegeln dabei immer auch gesellschaftliche
Machtstrukturen wider. Daher lohnt sich ein genauerer Blick in die Schulbücher: Was stört hier?

2. Das Religionsbuch im Religionsunterricht (RU)
Im RU ist das Schulbuch zumeist nicht das Leitmedium, das den Unterricht bestimmt. Hierbei sind regionale, individuelle und schulformspezifische Unterschiede zu berücksichtigen, und viele Religionslehrkräfte verstehen sich auch eher als »Jäger und Sammler« verschiedenster Materialien. Zugunsten pädagogischer Absichten wie methodischer Vielfalt, kreativer abwechslungsreicher Unterrichtsgestaltung, Aktualität, thematischer Offenheit für die Aufnahme von Interessen der Lerngruppe wird auf das Schulbuch verzichtet.

Dennoch sind Schulbücher, auch wenn sie unterschiedlich im Religionsunterricht Verwendung finden, ein zentrales Medium der Unterrichtsvorbereitung für viele Religionslehrkräfte.5 Ihnen wird eine gewisse Normativität und inhaltliche Qualität zugesprochen, da Schulbücher oftmals unter Beteiligung verschiedener  Personengruppen (Autor:innen, Herausgeber:innen, Verlagsredaktionen, fachlichen Berater:innen) in einem längeren Prozess entstehen und als Religionsbücher in allen Landeskirchen ein Zulassungsverfahren nach dem Gutachter:innenprinzip mit Prüfung durchlaufen.6

Auch wenn einzelne Schulbücher nicht direkt im Unterricht Verwendung finden, so geben sie Auskunft darüber, welche Wissensbestände, Wissenskonstruktionen und Erzählungen als akzeptierte und zu tradierende gelten.7 Damit können sie ein Seismograph dafür sein, wie verankert bestimmte fachwissenschaftliche und -didaktische Diskurse in der Praxis sind.

Zu den elementaren kirchlichen Grundsätzen gehört nach einer Vielzahl von Erklärungen wie Synodalbeschlüssen und Änderungen in den Kirchenverfassungen vieler Landeskirchen, dass jede Herabsetzung des Judentums und damit verbunden auch jede Art von Substitutionstheologie abgelehnt wird. Die bleibende Erwählung Israels als Volk Gottes wird anerkannt, die Kirche ist nicht an die Stelle Israels getreten.

Christliche Theologie besitzt jedoch eine lange substitutionstheologische, antijüdische Tradition. Obwohl diese heute nicht den »Grundsätzen der Religionsgemeinschaft« entspricht, lässt sich diese tiefe Verstrickung in Antijudaismus und Antisemitismus in aktuellen Schulbüchern für den RU zeigen. In den meisten Fällen wollen weder Schulbuchautor:innen noch Lehrer:innen Antijudaismus Vorschub leisten, vermutlich wollen sie Antisemitismusprävention betreiben. Und dennoch kann der RU – kontraintentional zu den Absichten der Autor:innen – auch antijüdische Stereotype reproduzieren und Inhalte vermitteln, die an antisemitische Narrative anschlussfähig sind. Um diese zu identifizieren, ist es hilfreich, neben den Unterrichtsmaterialien, die das Judentum bzw. die Judentümer thematisieren, auch die Materialien zu betrachten, in denen es um das christliche Selbstverständnis geht,8 denn »mitunter dient das Judentum als Negativfolie, um das Christentum zu erhöhen oder zu bestärken.«9 Christliche Identität konstituiert(e) sich nicht selten in Abgrenzung zum Judentum.

3. Themenfelder mit erhöhtem Störungsaufkommen im Schulbuch

3.1. Die Darstellung der innerreligiösen Vielfalt des Judentums in Deutschland unter Vermeidung von Othering
Als Vorbemerkung ist für die in 3.1 und 3.2 genannten Themenfeldern festzuhalten, dass in neueren Religionsbüchern ein Wandel festzustellen ist. »Der Zentralrat der Juden in Deutschland und der Verband Bildungsmedien haben im Winter 2019 eine gemeinsame Workshop-Reihe für Schulbuchverlage gestartet, die sich an Redakteurinnen und Redakteure, Autorinnen und Autoren sowie Herausgeberinnen und Herausgeber von Religions- und Ethiklehrbüchern richtet«10, schildert Shila Erlbaum, Bildungsreferentin beim Zentralrat der Juden. Die hier vor allem angesprochenen Fragen nach  Repräsentationsformen sehr unterschiedlich gelebten Judentums und theologisch korrekten Darstellungen in Religionsschulbüchern finden in Neuauflagen, die seit 2021 erscheinen, durchaus Eingang, was auch auf die Workshops zurückzuführen ist.

Ein Störfaktor im Schulbuch ist allerdings oft, dass vor allem ultraorthodoxe jüdische Männer, die mitunter als »seltsam« markiert werden, als Vertreter des Judentums abgebildet werden.11 Häufig auch auf einem Bild, auf dem man einen großen Hinterkopf mit Kippa sieht.12 Die Abbildung des Hinterkopfes mit Kippa hat die Funktion, den Träger sofort für die Leser:innen des Schulbuches als jüdisch zu markieren und damit eine Differenz zu den im evangelischen RU weitgehend vermutlich nicht-jüdischen Schüler:innen zu setzen.13 Damit kann auch eine Wertung einhergehen, wie Erlbaum konstatiert: »In manchen Fällen wiederum wird das orthodoxe Judentum als altmodisch und rückwärtsgewandt dargestellt, von dem sich das liberale Judentum als positiv und modern abhebt.«14 Hier kommt ein Autostereotyp des Protestantismus – beispielsweise in der Frage der Frauenordination – in der wertenden Darstellung des Judentums zum Tragen.15

3.2 Die Darstellung von jüdischem Leben als positiv gelebte Religion in Deutschland vs. Opferstilisierung und Viktimisierung
Judentum sollte im Religionsbuch als eine in Deutschland vertretene Religion gezeigt werden, die nicht nur auf eine Opfer- und Leidensgeschichte reduziert ist. Alles Sprechen über das Judentum in Deutschland muss die Shoah mitberücksichtigen, und doch darf gelebtes Judentum nicht darauf reduziert werden.16 Das beinhaltet, dass jüdische Geschichte in Deutschland nicht nur als Verfolgungsgeschichte erzählt und auf 1933–1945 reduziert werden sollte.17

In einem aktuellen Schulbuch für die nicht-gymnasiale Sekundarstufe I muss die Figur des jüdischen Jungen Daniel extra als israelischer Austauschschüler auftreten,18 um gelebtes Judentum einzuführen. Auch wenn sich dann im Verlauf des Kapitels eine in Deutschland lebende Figur namens Lisa als nicht-religiös lebend jüdisch »outet« – und hier so innerreligiöse Pluralität und empirisch feststellbare deutsche Wirklichkeit einbringt19 – so wird das Judentum zunächst einmal mit Bezug zu Israel entfaltet.20 Im weiteren Verlauf der Erzählung wird Daniel, der offen seine Kippa trägt, Opfer eines antisemitischen Anschlags von Rechtsextremen.21

An dieser Szene zeigen sich die Ambivalenzen, die es in vielen Unterrichtsmaterialien gibt. Als positiv ist hervorzuheben, dass Antisemitismus in dem Schulbuch als heutiges Phänomen thematisiert und somit für den gegenwärtigen Antisemitismus sensibilisiert wird, wenngleich er auf Rechtsextreme externalisiert wird. Antisemitismus begann nicht 1933, ebenso wenig endete er 1945. So wird auch christlicher Antijudaismus im Gespräch unter den jugendlichen Figuren erwähnt.22 Doch findet hier eine starke Viktimisierung statt: Dass es auch Spaß machen kann, jüdisch zu sein, kommt nur am Ende des Kapitels durch die kurze Darstellung des »Jewrovision« zur Sprache.23

Vielfach wird in Unterrichtsmaterialien ein auch in anderer Hinsicht bedrückendes Bild des Judentums gezeigt: »Eine uralte Religion«24 voller strenger Regeln.

Dies geschieht manchmal recht subtil: In einem Schulbuch wird der vermutlich zum Großteil nicht-jüdischen Zielgruppe als Identifikationsfigur der 16-jährige jüdische Junge Leon angeboten. Positiv ist hier hervorzuheben, dass die Figur des Leon nicht nur als Erklärer seiner Religion und damit eher wie ein Religionswissenschaftler oder Theologe eingeführt wird, sondern als ein Junge, der in der Schulband spielt, Eishockey mag, heimlich raucht und Bier trinkt und sich für ein nicht-jüdisches Mädchen namens Marie interessiert. 25 Damit ist die fiktive Figur nicht nur als der »andere« jüdische Junge markiert, sondern bietet neben Differenz auch Gemeinsamkeiten an. Diese zu finden, wird durch die Aufgabe 2 unterstützt: »Worin unterscheidet sich das Leben von Leon vom Leben eines christlichen Jugendlichen, wo gibt es Gemeinsamkeiten?«26 Eine Reduktion auf die Religion (Essentialisierung) und Othering wird so vermieden. Dieser positive Eindruck wird allerdings gestört, wenn Leon über den Sabbat spricht:

»Samuel war bei mir zum Mathe-Lernen. Samuel hat’s mathemäßig voll drauf! Aber mit seinen Eltern ist alles kompliziert, weil sie so fromm sind. Eigentlich treffen wir uns meistens bei Samuel. Aber heute am Sabbat, einem sehr wichtigen jüdischen Feiertag, wollen seine Eltern nicht, dass wir bei ihnen lernen. Wie die jeden Sabbat sehr traditionell nach den Vorschriften feiern. […] Bei uns ist das gechillter. Manchmal gehen wir in den kurzen Gottesdienst am Freitagabend, aber ansonsten verläuft der Samstag bei uns relativ normal. Gottseidank!«27

Der Sabbat – die Figur des Leon verwendet nicht den aus dem Hebräischen stammenden Ausdruck Schabbat, sondern die aus dem Griechischen entlehnte Aussprache Sabbat28 – wird hier als nicht der Norm entsprechend und als negativ dargestellt. Auch hier könnte ein Autostereotyp des Protestantismus als Religion der Freiheit zum Tragen kommen, das zur Abwertung jüdischer Traditionen führen kann.29

3.3 Das Verhältnis von Judentum und Christentum

3.3.1 Jude Jesu Sein, Paulus und das Verhältnis von Gesetz und Evangelium
Dass Jesus Jude war, ist inzwischen in vielen Religionsbüchern prominent gesetzt.30 Julia Spichal stellt in ihrer Analyse von Religionsbüchern und Lehrplänen allerdings fest:

»Grundsätzlich ist in allen untersuchten Lehrplänen und Schulbüchern das Bemühen erkennbar, Jesu Judesein ausführlich und anschaulich darzustellen. Dies gerät jedoch dann vollständig aus dem Blick, wenn es darum geht das ›Neue‹ der Botschaft Jesu gegenüber ›den Pharisäern‹ herauszustellen. Hier wird dann der Eindruck vermittelt, Jesus habe sich gegen ›das Judentum‹ insgesamt gewandt. Eine derartige Darstellung fördert das Vorurteil vom Judentum als Religion der Werkgerechtigkeit und der lebensfeindlichen  Gesetzesobservanz.«31

Und so ist mit Blick auf das jüdisch-christliche Verhältnis in Religionsbüchern vor allem auf den Umgang mit biblischen Erzählungen zu dem 12-jährigen Jesus im Tempel (Lk 2, 41–52), den Heilungen am Schabbat (z. B. Mk 3,1–6),  den Auseinandersetzungen Jesu mit den Pharisäern, der Auslegung des »Barmherzigen Samariters« (Lk 10, 25–37), der Darstellung der Perikope von »Jesus und der Ehebrecherin« (Joh 7, 53–8, 11) bzw. »Jesu Zuwendung zu den Sündern«32, den Antithesen in der Bergpredigt (Mt 5, 17–48) zu achten, »[w]as immer mit Jesus Neues kommt, kommt mit dem Juden Jesus, der zu JHWH, dem Gott Israels, als seinem Vater betete.«33 Bibelstellen müssen mit Blick auf den zeitgenössischen Kontext des Judentums eingeordnet werden.34

Die Frage nach dem jüdisch-christlichen Verhältnis kristallisiert sich auch in der Person des Pharisäers Paulus. Paulus wird in vielen Schulbüchern oftmals als erster Christ, als Personifikation des Christentums dargestellt und nicht als christusgläubiger Jude. Die Kontinuitäten im Denken des Paulus geraten dabei zum Teil aus dem Blick. Dies zeigt sich in Schulbüchern auch an der Reproduktion der Floskel »Vom Saulus zum Paulus«, die eine radikale theologische Wendung auch äußerlich manifestieren soll und durch die sich reimende Formulierung eingängig bleibt.35 Spichal betont, für eine angemessene Darstellung des »Toraverständnis[ses] des ehemaligen Pharisäers Paulus« sei wichtig, die Rede vom »Ende des Gesetzes« mit der Heidenmission und Römer 9–11 zu verknüpfen:

»Die Darstellung verdeutlicht somit, dass Paulus damit die Toraobservanz nicht grundsätzlich in Frage stellt, sondern aussagen möchte, dass Heiden die Zeichen des Bundes, d. h. vor allem die Beschneidung, aber auch die Speisegebote und das Sabbatgebot
nicht übernehmen müssen.«36

In der Paulusrezeption wird oft das Judentum als Negativfolie für eine Überhöhung des Christentums funktionalisiert: Das Christentum erscheint wie eine wo möglich bessere Weiterentwicklung des Judentums, was antijüdisches Denken bestärken könnte.

3.3.2 Die Kreuzigung Jesu
Auch der antijüdische Vorwurf des Gottesmordes bzw. Herrenmordes findet sich in aktuellen Beispielen. Nicht die Römer als Besatzungsmacht verantworten den Tod Jesu, sondern »die Juden«. Dabei fehlt eine historisch-kritische Einordnung der Bibelerzählungen. Als ein besonders problematisches Beispiel ist ein Schulbuch zu nennen, das die Kreuzigung in eine Verschwörungserzählung einbettet, die den Tod Jesu als eine Verschwörung der »Führer des jüdischen Volkes« darstellt. Es findet sich im Schulbuch ein »Protokoll der Geheimsitzung […]«, das an die »Protokolle der Weisen von Zion« erinnert und somit anknüpfungsfähig an antisemitische Verschwörungserzählungen ist. Auch werden in den weiteren Aufgabenstellungen im Kontext der Figur des Judas antisemitische Stereotype aufgerufen. Dort heißt es:

»5. Ein Jünger soll bestochen werden, damit er bei der Verhaftung von Jesus mithilft. Was meint ihr? Finden die Führer des jüdischen Volkes einen solchen Jünger? Was spricht dafür, was dagegen?

6. Was würdest du tun, wenn dir jemand viel Geld anbieten würde, damit du einen guten Freund verrätst? Was würdest du für viel Geld tun, was würdest du für kein Geld der Welt tun?«37

3.3.2 Das grundlegende theologische Verhältnis zwischen Juden- und Christentum
Ein weiterer Störfaktor in der Darstellung des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum in Religionsschulbüchern ist die spannungsreiche Darstellung von Judentum als eigenständige Religion im interreligiösen Lernen bzw. von Judentum als Wurzel des Christentums. Dabei ist wichtig zu betonen, dass das Judentum eben nicht nur die alte Wurzel des Christentums darstellt, sondern eine sehr lebendige heutige Religion ist. Dass diese zentrale Aussage aber nicht unbedingt als Schulwissen anerkannt und tradiert wird, zeigen vielfältige Beispiele: So findet sich das Bild des »Stammbaum Jesu« von Sieger Köder vielfach in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien, dessen weitgehend ungebrochenes Verheißungs-Erfüllungs-Schema nicht berücksichtigt, dass das Erste Testament eine zweifache Nachgeschichte besitzt. »Auch das jüdische ›Nein‹ zu Jesus als dem Christus ist ein beständiger Teil christlicher Identität, der mit dem christlichen ›Ja‹ in Spannung steht.«38

Darüber hinaus ist in weiteren grafischen Baumdarstellungen in unterschiedlichen Schulbüchern unklar – entgegen offizieller Verlautbarungen zum jüdisch-christlichen Verhältnis – in welcher Beziehung Juden- und Christentum zueinanderstehen. Da gibt es Bäume, an deren Zweigen verschiedene Äste der Konfessionen dargestellt sind, ohne Wurzeln: Das Christentum – ohne Bezug zum Judentum – beginnt einfach ohne Wurzel.39 In einem anderen Buch wird das Judentum als viel kleinerer, fast schon als mickrig, als stehengebliebener Ast am ansonsten grünenden großen Baum mit vielen Ästen verschiedener christlicher Konfessionen dargestellt.40 Hier wird das Judentum einerseits als eigenständige Religion nicht ernst genommen und andererseits findet eine Abwertung des Judentums statt. Selbst wenn der kleinere Ast die geringere Größe der Religion illustrieren soll, so hätte ein schmalerer Ast ebenso grün und hoch wie die christlichen Äste gezeichnet werden müssen. Jetzt kann der Ast so gedeutet werden, als sei das Judentum auf einer unteren Entwicklungsstufe stehen geblieben.

Christ:innen, Jüdinnen und Juden glauben an den gleichen Gott. Dies ist in Schulbüchern noch nicht immer angekommen. Als Beispiel kann hier ein fiktives Gespräch zwischen drei Jungen, dem muslimischen Erkan, dem jüdischen David und dem christlichen Chris im »Kursbuch elementar Religion 3« im Kapitel zu »Gott« unter der Überschrift: »Gott, Jahwe, Allah – alles das Gleiche?« angeführt werden. Hier schildern alle Jungen zentrale Gottesvorstellungen aus ihrer Religion und obwohl David formuliert: »Die Juden sprechen den Namen Gottes nicht aus, weil er ihnen zu heilig ist.«, wird in der Überschrift das Tetragramm vokalisiert. Das Gespräch endet so:

»[…]Chris: Da gibt es doch schon Unterschiede zwischen unseren Religionen. Ich habe immer gedacht, wir würden alle drei an den gleichen Gott glauben.

David: Es gibt ja auch viel Gleiches: Zum Beispiel glauben wir alle drei, dass es nur einen Gott gibt.

Erkan: Na ja, glaubt der Christ jetzt an einen Gott oder an drei?

Chris: An einen!

David: Und wir glauben alle drei, dass Gott die Welt erschaffen hat.

Chris: Und dass er die Menschen begleitet.

Erkan: Ja, das stimmt.

David: Wir denken, dass Gott mit dem Volk Israel einen Bund geschlossen
hat und deshalb zunächst einmal sein Volk begleitet.«41

Hervorzuheben für diesen Zusammenhang ist, dass an keiner Stelle betont wird, dass im Judentum und Christentum zum gleichen Gott gebetet wird. Chris hat dies angenommen, doch stellt David nur fest, dass es »viel Gleiches« gebe. Auch eine Differenzierung im Verhältnis zwischen Judentum-Islam-Christentum findet nicht statt. Schüler:innen lernen hier eine Nähe der drei sogenannten abrahamitischen Religionen, aber nicht in theologisch angemessener Tiefe. Das Gespräch mit dem Judentum wird ebenso wie mit dem Islam in den interreligiösen Dialog eingeordnet, theologisch sachgemäß wäre eine Verortung zwischen Ökumene und interreligiösem Dialog. Das enge Verhältnis von Judentum und Christentum ist als Querschnittsthema im RU zu behandeln. Es ist wenig hilfreich, wenn im Doppeljahrgang 5/6 einmal der Jude Jesus kennengelernt wird und dann diese Verwurzlung im Judentum nicht mehr thematisiert oder sogar negiert wird.

4. Wie kommen wir zu antisemitismuskritischen Schulbüchern? – Was muss sich ändern?

4.1 Antisemitismuskritische Theologie als Querschnittsthema aller Theologie im Lehramtsstudium und Referendariat
Die Binsenweisheit »Auch mit schlechtem Material lässt sich guter Unterricht machen« gilt dann, wenn Lehrkräfte problematisches Material als solches erkennen. Auf der Ebene der Unterrichtsplanung sind es die Lehrkräfte in den Schulen, die täglich Materialien im Unterricht nach der Prüfung auf Eignung einsetzen. Dafür muss eine antisemitismuskritische Theologie und Didaktik als Querschnittsthema – nicht nur als eine Option im Wahlpflichtbereich oder als ein Zusatzprogramm – in den Universitäten implementiert werden.42 Bisher unterliegt es an vielen Universitätsstandorten vor allem persönlichen Forschungsschwerpunkten und Interessensgebieten der Lehrenden, ob Lehrveranstaltungen in antisemitismuskritischer Perspektive angeboten werden. Eine curriculare Festschreibung mit Blick auf zu erwerbende Kompetenzen angehender Lehrkräfte wäre hier erstrebenswert. Die Verstrickung christlicher Theologie und somit auch die eigene Verwobenheit der Lehrenden und Studierenden in Antijudaismus und Antisemitismus ist dabei besonders zu beachten.43 Antisemitismuskritik immer auch als Selbstkritik zu verstehen, durch die eine Sensibilisierung für Differenzkonstruktionen innerhalb von Machtstrukturen gefördert wird, ist dabei ein integraler Bestandteil der angebahnten Professionalisierung von Lehrer:innen,44 der über alle drei Phasen der Lehramtsbildung gestärkt werden muss. Da die Autor:innen von Religionsschulbüchern in der Regel Lehrkräfte sind, würde so auch eine antisemitismuskritische Perspektive in die Schulbuchproduktion eingetragen werden.

4.2 Antisemitismuskritik in der Schulbuchzulassung verankern
Antisemitismuskritik ist ein Themenfeld neben anderen: In den Jahrgängen 1–13 werden in unterschiedlichsten Schulformen diverse theologische Themen angesprochen. Es ist für einzelne Personen im kirchlichen Zulassungsverfahren nicht möglich, bei all diesen Themen sowohl fachwissenschaftlich als auch fachdidaktisch auf dem aktuellsten Stand zu sein, zumal sich der RU in der Regel nicht nur auf die Theologie als Bezugswissenschaft, sondern auch auf Religionswissenschaft, Philosophie, Ethik, Geschichte u. a. bezieht. Bei der Begutachtung von Schulbüchern steht zudem eine Vielzahl an zentralen, gleichrangigen Querschnittsthemen wie Antisemitismuskritik, Rassismuskritik, Ableismus, Eurozentrismus, Gender, Inklusion, Klassismus oder Widerspiegelung vielfältiger sozialer und gesellschaftlicher Realitäten nebeneinander.

Die Erwartung, einzelne Lehrkräfte aus den Gebieten der Landeskirchen, die je nach Bundesland am Zulassungsprozess neuer Schulbücher durch das Schreiben von Gutachten beteiligt sind, oder auch begutachtende Personen, die in den religionspädagogischen Instituten der Kirchen arbeiten, könnten all diese Aspekte bei der Zulassung von Büchern im Blick behalten, ist eine Überforderung. Aus diesem Grund wäre eine stärkere Bündelung der Prüfprozesse der einzelnen Landeskirchen auch bundeslandübergreifend zugunsten einer höheren Spezialisierung und Fokussierung von Kapazitäten wünschenswert. Bisher findet nur in einer einzigen Landeskirche – allerdings auch hier nur in Ausnahmefällen – der Einbezug wissenschaftlicher Expertise aus den Universitäten statt. Hier gilt es, praktikable Wege zu finden, 45 den aktuellen Fachdiskurs aus den Universitäten in die Unterrichtsmaterialien zu tragen, ohne den Prozess der kirchlichen Zulassungsverfahren zu verlängern.46

4.3 Binnenperspektiven bei der Schulbuchproduktion und -zulassung einbeziehen
Interreligiöses Lernen ist in den Schulbüchern für den evangelischen RU inzwischen ein fester Bestandteil geworden. Neben einzelnen Einheiten in den Doppeljahrgängen finden sich interreligiöse Bezüge vermehrt auch im Sinne eines komparativen und trialogischen Lernens innerhalb aller Lerneinheiten.

Religionslehrkräfte im evangelischen RU haben in der Regel Evangelische Theologie studiert. Evangelische Theologie kann oftmals ohne Judaistik oder religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Judentum studiert werden.47 Aus diesem Grund fehlt zum Teil die Kompetenz von Lehrenden, religionskundlich falsche oder unzureichend dargestellte Informationen über das Judentum in Schulbüchern zu identifizieren. Um diese verengte Perspektivität aufzubrechen und theologische Falschinformationen zu minimieren, wäre zum einen der stärkere Rückgriff auf Quellentexte, die aus jüdischer Perspektive verfasst sind, im Schulbuch erstrebenswert. Als Beispiele seien hier Auszüge aus der Kindertora, Kinder- und Jugendliteratur von jüdischen Autor:innen oder Informationstexte über das Judentum von jüdischen Theolog:innen zu nennen. Zum anderen wäre der Einbezug von jüdischen Berater:innen sowohl in der Schulbuchproduktion durch die Verlage als auch in der Schulbuchzulassung wünschenswert.

4.4 Lehrpläne antisemitismuskritisch konzipieren & Binnenperspektiven zur Beratung bei der Lehrplanerstellung einbeziehen
Lehrpläne ordnen und strukturieren die in der Schule zu erwerbenden Kompetenzen.
48 Für alle in dem Fach unterrichtenden Lehrer:innen sind sie normative Vorgaben, die in der Regel Ergebnis eines Aushandlungsprozesses in Lehrplankommissionen sind.49 Die curricularen Vorgaben stellen die entscheidende Grundlage für die Schulbuchkonzeption dar,50 da die Passung eines Schulbuches zu den im Lehrplan geforderten Kompetenzen entscheidendes Kriterium bei der Schulbuchzulassung ist.

Sofern in einem Bundesland RU nach Art. 7,3 GG besteht, wird dieser »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft erteilt.« In vielen evangelischen Landeskirchen finden sich inzwischen Formulierungen, die das Verhältnis von Judentum und Christentum beschreiben. Die unter 3. dargestellte Auswahl der Befunde in den Schulbüchern widerspricht hier offensichtlich den »Grundsätzen der Religionsgemeinschaft«. Auf der 12. EKD-Synode 2015 in Bremen wurde in Auseinandersetzung mit Martin Luthers antijüdischen Schriften postuliert:

»Wir stellen uns in Theologie und Kirche der Herausforderung, zentrale theologische Lehren der Reformation neu zu bedenken und dabei nicht in abwertende Stereotype zu Lasten des Judentums zu verfallen.«51

Wenn bedacht wird, dass für viele Schüler:innen die Hauptbegegnung mit christlicher Theologie in der Schule stattfindet, für einige Heranwachsende Schule auch der letzte Ort sein wird, an dem sie sich mit Theologie auseinandersetzen und das, was hier an Allgemeinbildung über das Christentum aufgebaut wird, möglicherweise das Bild sein wird, mit dem die Absolvent: innen durchs Leben gehen, dann ist es eine umso wichtigere Aufgabe der Kirchen, bei der Erstellung der Lehrpläne ihren Beschlüssen zum jüdischchristlichen Verhältnis mehr Geltung zu verschaffen.

Literatur
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im Rahmen des Programms »Forschung für die Praxis«, Frankfurt am Main 2018,
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Eilerts, Wolfram/Kübler,Heinz-Günter (Hg.): Kursbuch Religion Elementar 2. Stuttgart/
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Eilerts, Wolfram/Kübler, Heinz-Günter (Hg.): Kursbuch Religion Elementar 3. Stuttgart/
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Steinkühler, Martina (Hg.): Herausforderungen 9. München 2021

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Wenger (Hg.): Antisemitismusprävention in der Grundschule – durch religiöse Bildung. Göttingen 2020, 243–260

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1 Margarete Götz: Neues Schulwissen durch neue Lehrpläne? In: Margarete Götz/Michaela
Vogt (Hg.): Schulwissen für und über Kinder. Beiträge zur historischen Primarschulforschung. Bad Heilbronn 2016, 229–252, 229.

2 Lukas Lehmann: Lehrmittelpolitik. Eine Einführung. In: Lukas Lehmann (Hg.): Lehrmittelpolitik. Eine Governance-Analyse der schweizerischen Lehrmittelzulassung. Wiesbaden 2016, 1–24, 6.

3 Vgl. weiterführend Felicitas Macgilchrist: Schulbuchverlage als Organisationen der
Diskursproduktion: Eine ethnographische Perspektive. In: ZSE, 31/2011, H.3, 248–263.

4 Vgl. weiterführend: Eckhardt Fuchs/Inga Niehaus/Almut Stoletzki: Das Schulbuch in der
Forschung. Analysen und Empfehlungen für die Bildungspraxis. Göttingen 2014, 12.

5 Burkhard Porzelt: Schulbücher. In: Ulrich Kropac/Ulrich Riegel (Hg.): Handbuch Religionsdidaktik. Stuttgart 2021, 375–384, 377.

6 Das bedeutet, dass die einzelnen Religionsbücher, bevor sie in einem Bundesland zugelassen werden, in je nach Bundesland und Landeskirche unterschiedlichen Verfahren von Personen aus dem kirchlichen Bereich geprüft werden, beispielsweise von Religionslehrkräften oder von Mitarbeiter:innen der religionspädagogischen Institute oder der Landeskirchenämter. Zudem erfolgt in manchen Bundesländern eine zweite Begutachtung von staatlicher Seite. Auch hier geschieht dies oftmals durch Lehrkräfte.

7 Vgl. weiterführend Christine Ott: Zur Ver- und Entschränkung von Schulbucharbeit und
Schulbuchzulassung. Theoretische Grundlegung und historische Skizze. In: Eva Matthes,
Sylvia Schütze (Hg.): Schulbücher auf dem Prüfstand. Bad Heilbrunn 2016, 31–50, 31.

8 Vgl. dazu weiterführend Julia Spichal: Vorurteile gegen Juden im christlichen RU: Eine qualitative Inhaltsanalyse ausgewählter Lehrpläne und Schulbücher in Deutschland und Österreich. Göttingen 2015, 287 ff.

9 Shila Erlbaum: Wie wollen Jüdinnen und Juden im evangelischen und katholischen RU
thematisiert werden? In: Stefan Altmeyer u.a. (Hg.): Judentum und Islam unterrichten.
Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP). Band 36. Göttingen 2020, 129–136, 129.

10 Ebd.

11 Vgl. ebd., 130.

12 Dies gilt nicht nur für Schulbücher, sondern auch andere Medien. Vgl. Eliyah Havemann:
Und täglich grüßt der Kippa-Kopf, 11.03.2021, abrufbar unter https://www.juedische-allgemeine. de/kultur/und-taeglich-gruesst-der-kippa-kopf/, letzter Zugriff 27.11.22.
Exemplarisch Schulbuch: Wolfram Eilerts/Heinz-Günter Kübler (Hg.): Kursbuch Religion
Elementar 2. Stuttgart/Braunschweig 2018, 154.

13 Ausführlicher zum Thema Othering: Joachim Willems/Ariane Dihle: ›Identität‹ als Problem? Judentum im evangelischen Religionsunterricht. In: Reinhold  Mokrosch/Elisabeth Naurath/Michèle Wenger (Hg.): Antisemitismusprävention in der Grundschule – durch religiöse Bildung. Göttingen 2020, 243–260.

14 Erlbaum 2020, 130.

15 Weiterführend zum Zusammenhang von Auto-Stereotypen und Hetero-Stereotypen:
Joachim Willems: ›Zweifel unerlaubt! Zweifel unerlaubt?‹ In: KZG. 32. Jg. 2020, 291–319.

16 Vgl. auch Erlbaum 2020, 130.

17 Vgl. ebd.

18 Martina Steinkühler (Hg.): Herausforderungen 9. München 2021, 26.

19 So konnten Julia Bernstein und ihr Team zeigen, dass einige Jüdinnen und Juden ihr Jüdischsein in der Schule nicht ausleben und auch Angst vor einem sogenannten Outing schildern. Weiterführend: Julia Bernstein u. a.: »Mach mal keine Judenaktion!« Herausforderungen und Lösungsansätze in der professionellen Bildungs- und Sozialarbeit gegen Antisemitismus, im Rahmen des Programms »Forschung für die Praxis«, Frankfurt am Main 2018, online: https://www.frankfurt-university.de/fileadmin/standard/Aktuelles/
Pressemitteilungen/Mach_mal_keine_Judenaktion__Herausforderungen_und_Loesungsansaetze_in_der_professionellen_Bildungs-_und_Sozialarbeit_gegen_Anti.pdf, 107,
letzter Zugriff 11.11.2022.

20 Steinkühler (Hg.) 2021, 27.

21 Ebd., 33.

22 Ebd., 32.

23 Ebd., 37.

24 Eilerts/Kübler (Hg.) 2018, 154.

25 Ebd., 156.

26 Ebd., 157.

27 Ebd., 156.

28 Vgl. zur Problematik der Nicht-Verwendung des Eigenbegriffs Schabbat: Ronen Steinke:
Antisemitismus in der Sprache. Berlin 2022, 43–50.

29 Eine ganz andere Darstellung des Schabbats als »Zeit zum Leben«, in der man durch Verzicht gewinnt, findet sich z.B. bei einem Buch des gleichen Verlags für das Gymnasium: Heidrun Dierk, Petra Freudenberger-Lötz, Michael Landgraf, Hartmut Rupp (Hg.): Kursbuch Religion 3. Stuttgart 2015, 212.

30 Vgl. weiterführend Spichal 2015, 288.

31 Ebd.

32 Ebd., 282.

33 Martin Hailer: Christlich-jüdischer Dialog und seine für den Religionsunterricht relevanten Erträge. In: Stefan Altmeyer u. a. (Hg.): Judentum und Islam unterrichten. Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP). Band 36. Göttingen 2020, 88–100, 93.

34 Als positive Beispiele lassen sich hier anführen: Dierk, Freudenberger-Lötz, Landgraf, Rupp (Hg): 2017, 56f.; Ingrid Grill-Ahollinger/Sebastian Görnitz-Rückert/Andrea Rückert (Hg.): Ortswechsel 5/6. München 2013, 171; Hartmut Rupp/Veit-Jakobus Dieterich (Hg.): Kursbuch Religion. Sekundarstufe II. 2014, 151; Bärbel Husmann/Rainer Merkel (Hg.): Moment mal! 2 Evangelische Religion. Stuttgart 2021, 83; Steinkühler (Hg.) 2021, 114. Auffällig ist, dass alle bis auf das zuletzt genannte Schulbuch für das Gymnasium konzipiert sind. Hier zeigt sich eine schulformspezifische Diskrepanz, die sich nicht nur durch differenzierte Darstellungen im Gymnasialbereich erklären lässt.

35 Vgl. z.B. Matthias Lau/Christian van Randenborgh, Derek Zückert (Hg.): theologisch 1.
Bamberg 2020, 128.

36 Spichal 2015, 285.

37 Eilerts/Kübler (Hg.) 2018, 82. Die Schilderung erstreckt sich bis auf S. 83, insbesondere in der Formulierung zu der Uhrzeit »04.40«. Vergleiche auch: Jan-Hendrik Herbst: Unterrichtsmaterialien als Ort der Ideologieproduktion? Perspektiven kritischer Religionsbuchanalyse in der Gegenwart. In: Theo-Web 21/2022, H.1, 115–134, 115.

38 Alexander Deeg: Die zwei-eine Bibel. In: zeitzeichen 7/2015, 41–43, 43.

39 Lau/van Randenborgh/Zückert (Hg.) 2020, 130f.

40 Anke Kaloudis/Gerhard Ziener (Hg.): reli plus 1. Stuttgart 2022, 117.

41 Wolfram Eilerts/Heinz-Günter Kübler (Hg.): Kursbuch Religion Elementar 3. Stuttgart/
Braunschweig 2020, 112.

42 Vgl. weiterführend Marie Hecke/Christian Staffa: Die Wahrheit beginnt mit zwei. Die  Bibel als Ausgangspunkt einer antisemitismuskritischen außerschulischen Bildungsarbeit der Kirchen. In: ZPT 2021; 73(2): 178–189, 179f.; 188.

43 Vgl. weiterführend Carina Branković/Ariane Dihle/Dominik Gautier/Rebecca Hedenkamp/Friederike Henjes/Joachim Willems: Antisemitismuskritik als hochschuldidaktische Aufgabe – Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Universität Oldenburg. In: Niedersächsischer Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens: Jüdisches Leben in Niedersachsen – lebendig, wertvoll und bereichernd. Zweiter Jahresbericht (2021). Hannover 2022, 85–92, 86–88.

44 Das Netzwerk narrt verfolgt diesen Ansatz: https://narrt.de/ueber-das-projekt/,
letzter Zugriff 11.11.2022.

45 Hier ist beispielsweise zu beachten, ob die Religionsgemeinschaften ihre eigenen Wege für die Aussprache der konfessionellen Unbedenklichkeitserklärungen als Bedingung für die
staatliche Zulassung finden können oder ob die Verfahren für alle Religionsgemeinschaften, die in dem Bundesland RU anbieten, ähnlich sein müssen. Die Asymmetrie in den institutionellen Verankerungen der verschiedenen Religionsgemeinschaften ist dabei zentral zu berücksichtigen.

46 Auch ein Umgang mit verschiedenen Binnenlogiken der einzelnen theologischen Fachdisziplinen ist zu entwickeln. So sind sicher universitäre Vertreter:innen der Exegese die fachlich kompetenten Ansprechpersonen für ein Schulbuchkapitel, beispielsweise zum
Thema »Propheten«, die Fachlogik der Exegese kann aber im Widerspruch zu bibeldidaktischen Zugängen, die im Schulbuch zentral sind, stehen.

47 Diese Beobachtung gilt nicht nur für den deutschsprachigen Kontext. Vgl. Amy-Jill Levine: Falsches Zeugnis geben: Verbreite Irrtümer über das antike Judentum. In: Wolfgang Kraus/Michael Tilly/Axel Töllner (Hg.): Das Neue Testament jüdisch erklärt. Stuttgart 2021, 832–836, 833.

48 Vgl. Götz 2016, 234.

49 Lehmann 2016, 9.

50 Macgilchrist 2011, 259.

51 EKD: 12. Synode. Kundgebung »Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum« Bremen, 11.11.2015, abrufbar unter: https://www.ekd.de/synode2015_bremen/beschluesse/s15_04_iv_7_kundgebung_martin_luther_und_die_juden.html, letzter Zugriff am 27.11.2022.

Elemente einer antisemitismuskritischen religionspädagogischen Praxis (Nina Schmidt, Kristina Herbst, Christian Staffa)

Antisemitische Einstellungen und Erzählungen sind insbesondere während der Corona-Pandemie noch einmal verstärkt durch Verschwörungserzählungen sichtbar geworden. Die diesen Erzählungen innewohnenden christlichen Grundlagen, die in Kapitel 1 und 2 im Kontext der Bibelauslegung und von Religionsschulbüchern nachgezeichnet wurden, sind in der Antisemitismuskritik bisher wenig bis gar nicht Teil pädagogischer Praxis geworden. So wird die christliche Tradition antisemitischer Einstellungen einerseits in den säkularen Debatten zum Antisemitismus zu wenig wahrgenommen und andererseits in der religionspädagogischen und theologischen Ausbildung und Praxis der kirchlichen Haupt- und Ehrenamtlichen oft unzureichend bearbeitet. Die Auseinandersetzung mit christlichen antijüdischen Bildern ist daher nicht nur in kirchlichen Bildungskontexten dringend notwendig. Diese Selbstreflexion ist von hoher Bedeutung, weil wir davon ausgehen, dass Antisemitismus maßgeblich der Selbstidealisierung oder -stabilisierung dient, die einer spezifischen Dynamik folgt: An der Konstruktion des ungläubigen, verräterischen Juden erweist sich der eigene Glaube, die eigene moralische Integrität (gegen alle Wirklichkeit). So bedeutet eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus auch, die Frage zu stellen, wie christliche Identitätsbildung ohne Negativfolien gelingt. Selbstreflexive Auseinandersetzung hieße dann, auch im Dienste der Gesamtgesellschaft zu lernen, um Selbst- wie auch Fremdbilder zu stören. Die Funktion des Antisemitismus, die ihn zu einem Weltdeutungsmuster macht, gilt es an jenen christlichen Mechanismen, die auch im Säkularen fundamental wirksam sind, in einem notwendigen Bildungsprozess aufzuweisen. Dabei wird auch deutlich werden, dass die beschriebene Dynamik nicht unausweichlich ist, sondern dass es sehr wertschätzende biblisch-theologische Bilder des »jüdischen fundamental Anderen « gibt. Diese Bilder werden zu neuen Erzählungen geformt, die ohne die beschriebenen negativen Projektionen auskommen, und in der Bildungspraxis entdeckt, mobilisiert und nachvollzogen. Damit wäre ein wesentlicher Mechanismus christlichen wie säkularen Antisemitismus pädagogisch im Ansatz produktiv konterkariert.

Ausgangspunkt für die vom Projekt DisKursLab begonnene Entwicklung von Ansätzen für die pädagogische Praxis ist das weitgehende Fehlen von religionspädagogischen Bildungsmaterialien zur beschriebenen christlichen Signatur des Antisemitismus, vor allem hinsichtlich der Verbindung zwischen aktuellen (scheinbar) säkularen Erscheinungsformen antisemitischer Einstellungen und der christlichen antijüdischen Tradition und einer theologischen Auseinandersetzung mit diesen. Die von uns vorgeschlagene und auch schon erprobte pädagogische Bearbeitung dieses Problemfelds anhand der Analyse von Verschwörungserzählungen bezieht digitale Lebenswelten und
deren Reflexion in den Lernprozess mit ein. Wie Erwachsene sind Jugendliche durch die sozialen Medien verstärkt mit Verschwörungserzählungen und den darin enthaltenen antisemitischen Bildern konfrontiert. Im vorliegenden Beitrag werden mögliche Ansätze einer Antisemitismuskritik als pädagogische Praxis beschrieben. Das Ziel eines so ausgerichteten antisemitismuskritischen Bildungsprozesses beschreiben wir wie folgt:

Antisemitismus als gegenwärtige Struktur und Signatur der eigenen Lebenswelt wahrzunehmen, die christlichen Traditionsbestände darin zu entdecken und damit die Funktions- und Wirkungsmechanismen von antisemitischen Weltbildern sowohl politisch und gesellschaftlich als auch theologisch und für die christliche Identität zu verstehen.

Mit dieser Zielsetzung wurde ein Projekt 2021 in Kooperation mit der Evangelischen
Schule Neuruppin und einem Leistungskurs Religion durchgeführt, das einen Prozess der Entwicklung von Bildungsmodulen zu diesen Fragen initiiert hat, dessen Konzeption und bisherige Erfahrungen hier als ein Zwischenstand reflektiert werden.

Allgegenwärtigkeit von Antisemitismus und Lebensweltbezug
Eine erste Lernerfahrung in der pädagogischen Bearbeitung war der Versuch, Antisemitismus zunächst als gegenwärtige Realität in lebensnahen Kontexten der Jugendlichen sichtbar zu machen. Mit dem Startpunkt, aktuelle Verschwörungserzählungen mit Pandemiebezug genauer zu betrachten, wurde Neugier und Entdeckungslust bei den Schüler*innen geweckt und die Frage für den folgenden Lernprozess angeregt, wie denn antisemitische Bilder verbreitet werden. Das Entschlüsseln antisemitischer Codes in Verschwörungserzählungen, die den Jugendlichen auch durch soziale Medien bekannt sind, wurde von ihnen als Erkenntnisprozess und als Bildungsgeschehen (»das 66 Teil 3 Antisemitismuskritische pädagogische Praxis war ja mal richtig Bildung«) beschrieben und wahrgenommen. Das Erkennen von Begriffen, Bildern und Personen wie »Globalisten«, »Finanzelite«, »Spur des Geldes« oder »Bill Gates«, mit ihren antisemitische Konnotationen und historischen Linien gerade in lebensnahen popkulturellen Bezügen, kann als Prozess Welt zu verstehen beschrieben werden. Dabei wurde auch deutlich, dass antisemitische Stereotype in expliziter Darstellung durchaus bekannt sind (z. B. Verbindung »Juden« und »Geld« oder »Macht«) und bei genauerer Auseinandersetzung an bekannte Vorurteile anschlussfähig sind, aber nicht alle Codes, die solche Verbindung aufrufen (z. B. »Finanzelite«,
»Globalisten«) und Bilder (z. B. »Strippenzieher«, »Marionetten«) als antisemitisch
entschlüsselt werden. Die ersten Assoziationen zum Thema Antisemitismus zeigten zudem, dass Antisemitismus in erster Linie in Verbindung mit Nationalsozialismus und Shoah präsent ist. Die ca. 1500-jährige Tradition des Antisemitismus ist zwar vage als historisches Phänomen präsent (»Antisemitismus gab es schon immer«), die christliche Signatur der Stereotype –»Geldgier«, »Verrat«, »Verschwörung« – bleibt aber weitgehend unbewusst. Aktuelle antisemitische Erscheinungen werden losgelöst von ihrem historischen christlichen Hintergrund nur als säkular wahrgenommen.

Warum immer die Juden?
Erkennbar nach diesen ersten Auseinandersetzungen wurde auch, dass ein unklares Gefühl dazu bleibt, woher antisemitische Stereotype kommen, worin sie begründet sein könnten und warum es sie (immer noch) gibt. Von den in gegenwärtigen Verschwörungserzählungen entdeckten antisemitischen Motiven wie »Geldgier«, »Verrat«, »Verschwörung« ausgehend und auch von »Macht« bzw. »Kontrolle«, setzten wir die Spurensuche nach der christlichen Signatur in diesen Bildern fort, sozusagen mit einer Rückwärtsbewegung in der Geschichte.

Eine anschließende Betrachtung der Judas-Figur, ihrer Rezeption und heutigen Darstellung war ein gut funktionierender Ansatz, die entfernten Verbindungen von Geschichte und Gegenwart verstehbar zu machen und zu zeigen, dass in der Judasfigur die zuvor entdeckten antisemitischen Negativstereotypisierungen versammelt sind. Eine kreative Auseinandersetzung mit dem biblischen Geschehen der Passionsgeschichte rund um die Auslieferung Jesu ist eine gute Möglichkeit zu erkennen, wie Antisemitismus funktioniert und welche Funktion er für das eigene (christliche) Selbstbild erfüllt. So erkannten die Schüler*innen das anschlussfähige und christlich tradierte Negativbild von Judas als Repräsentant »des Juden«, dem ja gleichwohl eine heilsgeschichtliche Bedeutung zukommt und dem Jesus vergibt. Dass dies trotzdem nicht Teil gängiger christlicher Rezeption war und immer noch selten ist, wirft für die Schüler*innen die zentrale Frage auf, warum die Erzählung sich so hartnäckig hält und welche Funktion für das Selbstbild dadurch erfüllt wird.

Anders erzählen
Der Tod Jesu, von vielen Schüler*innen mit Recht von seiner Auferweckung her als heilsgeschichtliches Geschehen beschrieben, bekommt damit eine andere neutestamentlich verantwortete Bedeutung, die mit dem antijüdischen Gottesmord-Motiv bricht. Judas als Figur des Juden, wird so im Sinne von Walter Jens1 und Amoz Oz2 vom heilsgeschichtlich unsinnigen Vorwurf des Verräters und Helfershelfers des Gottesmordes entlastet. Das Brechen dieser tradierten Erzählung durch das heilsgeschichtliche Narrativ einerseits und das Wahrnehmen der Geschehnisse um Jesus Tod als gewaltvolle Tat und für die Jünger ambivalente, dramatische und existenzielle Situation andererseits ermöglicht einen weiteren pädagogischer Prozess, der an dieser Stelle angeschlossen werden kann.

Dieser Versuch, mit Jugendlichen die Geschichten und Weitererzählungen rund um die Passion Jesu zu entdecken, hat eine weitere Lernerfahrung mit sich gebracht, die sich in den neu entwickelten und hier beschriebenen Bildungsmodulen niederschlägt: das Verstehen der historischen Situation als wichtige Voraussetzung für andere Erzählungen. Diese historische Sichtung förderte das Verständnis möglicher Beweggründe für das Handeln von Judas und den Jüngern, für die Situation existenzieller Bedrohung, die möglichen Wünsche, Überzeugungen und unterschiedlichen Zielvorstellungen
der verschiedenen Gruppen (Pharisäer, Essener, Hohepriester …) als zunächst
innerjüdischem Streit. Daraus könnte dann der Charakter der »jüdisch-christlichen
« Beziehung zu neutestamentlichen Zeiten erarbeitet und als Streit unter Geschwistern verstanden werden. Zudem gibt es die Gelegenheit, sich mit der Feindschaft, der Gewaltbeziehung als Geschichte gewordene Realität auseinanderzusetzen, die aber nicht zwangsläufig für einen christlichen Glauben identitätsstiftend sein muss. Hier kann der Bildungsprozess eine weitere Beziehung zur Lebenswelt von Schüler*innen adressieren, indem das unbewusste wie auch bewusste Aufrechterhalten antijüdischer selbstidealisierender Bilder in Schulbüchern zum kritischen Gegenstand des Lernprozesses gemacht wird. Die Schüler*innen werden dadurch empowert, das eigene Lernmaterial kritisch zu betrachten und zu reflektieren sowie eigene alternative Bildungselemente im Lernprozess zu entwickeln. Die in Religionsschulbüchern zu findenden Elemente antijüdischer oder antisemitischer Reproduktionen durch Selbst- und Fremdbeschreibungen (siehe Kapitel 2), beispielsweise über die Exotisierung oder Fremdheitsbestimmungen des Judentums, veranschaulichen die Dynamik der  Aneignungs- und Selbstidealisierungsnarrative in der Beschreibung christlicher Identität. Dabei spielt es auf der Wirkungsebene zunächst keine Rolle, ob diese bewusst oder unbewusst reproduziert werden, wichtig ist vielmehr das beispielhafte Verstehen der beschriebenen Funktion von Antisemitismus als Projektions- und Selbstidealisierungsmechanismus.

Weil neben narrativen Bildern auch die Bebilderungen und phänotypischen Darstellungen, zum Beispiel die Judasfigur in Bildungsmaterialien, Kinderund Comicbibeln, Ausdruck von Negativstereotypisierungen sind, integrieren die entwickelten Bildungsmodule methodisch die Arbeit mit Bildern und Comics zur Entwicklung von Gegennarrativen und Bildstörungen.

Die von den hier beschriebenen Voraussetzungen ausgehenden konzeptionellen
Ansätze des im Folgenden präsentierten Materials sollen Jugendliche für antijüdische und antisemitische Diskriminierungsformen insbesondere in den sozialen Medien sensibilisieren. Zudem soll die kirchliche antijüdische Rezeptionsgeschichte biblischer Erzählungen sichtbar werden. Mit diesem Wissen werden Jugendliche ermutigt, sich selbstreflexiv mit Verstrickungen in Antisemitismus auseinanderzusetzen. Auch Multiplikator*innen werden hierüber im Themenfeld christlicher antisemitischer Typologien und deren Bedeutung für aktuelle Formen des Antisemitismus sensibilisiert und gleichzeitig methodisch zur Integration von analogen und digitalen Formen
in der Bildungsarbeit angeregt.

Fünf Bildungsmodul-Prototypen werden seit September 2022 in einem weiteren
Projekt mit Schulgruppen und Lehrkräften erprobt. Die Module werden im Folgenden nicht einzeln in aller Ausführlichkeit beschrieben, sondern ihre konzeptionellen Grundgedanken, methodischen Ansätze, inhaltlichen Linien reflektiert. Zur Veranschaulichung und zum Selber-Durchführen werden exemplarisch einzelne methodische Schritte dargestellt sowie entwickeltes Material zur Erprobung angeboten. Nach einer nächsten Weiterentwicklung der Materialien werden die Module zur freien Nutzung veröffentlicht und für Jugendliche im schulischen und außerschulischen Kontext sowie für Multiplikator*innen in verschiedenen religionspädagogischen Praxisfeldern
anwendbar sein.

Das Material
Didaktische Besonderheiten
Der Gegenstand und gleichzeitig der methodische Zugang des Bildungsmaterials
sind die sozialen Medien und die digitalen Lebenswelten der Jugendlichen.
Die Jugendlichen werden angeregt durch ihre eigenen Entdeckungen und entwickeln eigenes Bildungsmaterial, mit dem sie innerhalb ihrer Bezüge zu Multiplikator*innen werden.

Inhaltliche Schwerpunkte
Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen des Antisemitismus,
Antijudaismus und ihrer christlichen Prägungen. Diese werden an antisemitischen Motiven wie »Verrat«, »Gier« und »Verschwörung« exemplarisch bearbeitet. Dabei arbeiten wir konzeptionell in allen Modulen mit der gleichen Bewegung: zuerst die Er- und Bearbeitung der Negativstereotypisierung und im Anschluss die gemeinsame Erarbeitung einer Gegenerzählung:

Negativ-Stereotypisierungen reflektieren wir anhand von:
→ Netz-Verschwörungserzählungen (Corona)
→ Judas als »der Verräter«
→ Comic-Darstellungen des Verratmotivs
→ Antisemitische Narrative in Schulbüchern

Gegenerzählungen regen wir an über:
→ Hope Speech: Interventionsmöglichkeiten im Netz (Memes)
→ Mehrdeutigkeit der Judas Figur
→ Comic-Gestaltung mit anderen Erzählungen
→ Ansätze für neue Vermittlung in Schulbüchern

A Was ist Antisemitismus?
Offene Annäherungen
Am Anfang der gemeinsamen Beschäftigung steht das Sichtbarmachen der eigenen Anknüpfungs- und Bezugspunkte der Zielgruppe. Es sollen vor allem die Komplexität von Antisemitismus in seiner Entstehung und Erscheinung deutlich und Fragen bewusst offengelassen werden (z. B. keine genaue Definition, kein Wissensabfragen). Im Gespräch und nach ersten Recherchen können einzelne thematische Exkurse je nach Bedarf und Interesse eingeschoben werden, aber bestimmte Aspekte dürfen auch weiter offenbleiben
(z. B. können und sollen einzelne Fragen zum Judentum beantwortet werden, es kann aber auch irritiert werden mit der Frage, ob ein umfangreiches Wissen über das Judentum überhaupt notwendig ist, um Antisemitismus zu verstehen). Die Jugendlichen bekommen Lust, die Thematik im folgenden Prozess zu entdecken und verstehen zu lernen.

Methodischer Einblick:
Als Einstiegsfrage verwenden wir: »Welche Bilder und Themen kommen euch bei ›Antisemitismus‹ in den Sinn?« Beim Brainstorming und der gemeinsamen Sammlung werden verschiedene Aspekte anklingen, die je nach Stand der Gruppe und Bearbeitungsschwerpunkt vertieft werden können. Zu einer Auswahl dieser möglichen Themen haben wir hier inhaltliche und didaktische Hinweise vermerkt:

Was ist das Judentum? Spezifische Fragen zur jüdischen Religion
→ Vielfalt der religiösen Praxis einspielen, da häufig sehr bestimmte
Bilder zur jüdischen Religion präsent sind, wie das des »orthodoxen
Juden« (Schläfenlocken usw.).
Was ist Antisemitismus eigentlich?
→ Die Frage nicht abschließend mit einer Definition beantworten, sondern offen lassen mit Verweis auf die Prozesshaftigkeit der Bearbeitung dieser Frage. Betonen, dass die gemeinsame Auseinandersetzung eine Suche danach ist, welche Aspekte wichtig sind,
um Antisemitismus zu beschreiben und zu verstehen.

Verbindung zur Shoah
→ Das Alltagswissen zu Antisemitismus ist in Deutschland gekoppelt an die Shoah als die manifeste Erscheinungsform von Antisemitismus. Als Erweiterung wäre als Lernziel zu realisieren, Antisemitismus in seiner Jahrhunderte alten Tradition und in seinen Kontinuitäten verständlich zu machen. Daraus folgt eine Sensibilisierung für eine Perspektiverweiterung, Antisemitismus in gegenwärtigen Erscheinungsformen zu erkennen, jenseits von der verengten Wahrnehmung von Antisemitismus als Mordgeschehen oder rechtsextreme Ideologie.
Israel – Nahost-Konflikt
→ Hinweis auf Vielschichtigkeit der Konflikte (mehrere Konfliktlinien) vor Ort betonen. Fragen dazu ernst nehmen, aber nicht den Eindruck entstehen lassen, der Nahostkonflikt sei eine legitime Begründung für Antisemitismus (Fragen dazu in jedem Fall sammeln).
Warum eigentlich immer die Juden? (»es muss ja einen Grund geben«)
→ Hier könnte z. B. die Funktion von Gerüchten und von Verschwörungserzählungen
aufgegriffen werden (»Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.« – Theodor W. Adorno, Minima Moralia), Antisemitismus ist auch deshalb so wirkmächtig, weil Negativstereotypsierungen z. B. durch Verschwörungserzählungen immer wieder
wiederholt werden und auch bei Gerüchten immer etwas hängen bleibt.

B Was sind Verschwörungserzählungen und was hat Antisemitismus damit zu tun?
Die Bearbeitung von Antisemitismus anhand von Verschwörungserzählungen im Kontext der Corona-Pandemie geschieht bewusst aktualitätsbezogen: Die Zielgruppe soll mit einer Spurensuche in für sie bekannten und lebensweltlichen Kontexten beginnen, und zwar im Netz und in den sozialen Medien. Die Auseinandersetzung beginnt zunächst allgemein mit Verschwörungserzählungen und ihrer Funktion, bevor der antisemitische Charakter erarbeitet wird. Wir sprechen von Verschwörungserzählungen anstatt von Theorien, um zu betonen, dass es sich nicht um wissenschaftliche oder bewiesene Theorien handelt. Die Verbreitung funktioniert über das Erzählen und das wiederholte Behaupten.

Verschwörungserzählungen bestehen meistens aus folgenden Elementen:
1. Nichts geschieht aus Zufall, alles wurde geplant.
2. Nichts ist so, wie es scheint.
3. Alles ist miteinander verbunden.

Dabei gibt es immer ein Feindbild bzw. eine Gruppe, die darunter leidet und negativ betroffen ist, und das dazugehörige »positive« Selbstbild. Es werden Stereotype bedient, die fast immer eine antisemitische Struktur haben.3 Die Zielgruppe wird verschiedenste antisemitische Codes und Bilder in aktuellen Verschwörungserzählungen kennenlernen. Einerseits werden so Fragen des Umgangs mit Fake News und Verschwörungserzählungen diskutiert und gleichzeitig antisemitische Codes und Motive entdeckt. Mit digitalen Methoden (z. B. Erstellen von Memes) wird die Zielgruppe angeregt, eigene Strategien im Umgang mit Verschwörungserzählungen kreativ zu erproben und die diversen Umgangsformen mit ihnen zu reflektieren. Am Ende dieser intensiven Auseinandersetzung kann die Zielgruppe die zentralen antisemitischen Motive
(»Verrat«, »Verschwörung«, »Geld«) benennen und hat darüber hinaus schon eine erste Idee zu den christlichen Signaturen entwickelt.

Methodischer Einblick:
In einem offenen Gespräch nähern sich alle der Frage, was eigentlich Verschwörungserzählungen sind und welche Elemente sie beinhalten. Im Anschluss werden diese ersten Ideen an Hand von Verschwörungserzählungen rund um die Corona-Pandemie vertieft und auf antisemitische Merkmale fokussiert. Wir schlagen dafür folgendes Vorgehen vor:

»Wer profitiert vom Virus?«
a) Arbeitsauftrag: Sucht im Netz noch einmal konkret nach Verschwörungserzählungen
zu Corona und tauscht diese in der Gruppe aus.
→ Im Gespräch soll dann die Frage bearbeitet werden: Was könnte daran antisemitisch sein? (Ideen sammeln und dokumentieren)
b) Arbeitsauftrag: In der Gruppe oder in Kleingruppen/Teams das Video von einer Anti-Corona-Maßnahmen-Demo (gefilmt und zusammengestellt vom JFDA4) anschauen mit dem Arbeitsauftrag, zu den folgendenFragen Stichpunkte sammeln:
→ Sammelt alle Begriffe und einzelnen Wörter, die ihr nicht genau versteht (wichtig für die Weiterarbeit, um codierte Motive zu verstehen).
→ Wer ist hier schuld/böse? Wer sind die Verschwörer?
→ Was tun sie genau?
→ Warum? Zu welchem Zweck? Was ist ihr Ziel?
c) Arbeitsauftrag: Erstellt ein Glossar für das Video mit Erklärungen zu allen Begriffen, die ihr recherchiert habt (das Glossar kann verschiedene Formen haben: Plakat, kurze Erklärvideos, Audioaufnahmen …)
d) Abgleich mit den gefundenen Erzählungen aus dem ersten Schritt: Welche antisemitischen Codes findet ihr wieder?

C Judas als DER Verräter – warum eigentlich?
Eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der Figur Judas und der Frage, wie Judas zu dem Verräter Jesu wurde, stehen hier im Zentrum. Dafür werden die historische Situation rund um die Passion beleuchtet und die Ursachen und Begründungszusammenhänge für die antisemitischen Narrative um die Judas-Figur herausgearbeitet. Grundlegend wird der Zielgruppe hier vermittelt, dass die Evangelien keine historisch-objektiven Zeugnisse sind, sondern Texte mit Verkündigungscharakter. Auch das Verständnis über die Entstehung des Christentums durch eine allmähliche identitätsstiftende Abgrenzung vom Judentum, die die Affirmation von Anti-Jüdischem/Antisemitismen gleichsam beförderte, wächst. Die bleibende Bezogenheit des Christentums auf das Judentum wird erfasst und ein neuer Begründungszusammenhang für das Christsein in seiner jüdischen Verwurzelung und Bezogenheit erkannt und realisiert. Die Kreuzigung Jesu durch die römische Besatzungsmacht wird als historische Tatsache verstanden. Vor allem wird die Relevanz der Figur des Judas für die christlichen Signaturen im Antisemitismus deutlich und darüber entsteht das erste Verständnis von christlichen Signaturen im Antisemitismus und vom Zustandekommen des Verratsmotivs im auch säkular virulenten Antisemitismus.

Die Bearbeitungen beginnen mit einer vertiefenden Auseinandersetzung mit der Passionsgeschichte und den in ihr enthaltenen Bildern zu Judas. Über kreative Elemente aus dem Design-Thinking wird die Zielgruppe animiert, sich mit den diversen politischen und religiösen Motiven rund um Jesu Kreuzigung auseinanderzusetzen. Das Wissen der Zielgruppe in Bezug auf die historische Situation zu Jesus Lebzeiten und Kreuzigung wird so vertieft. Über die Arbeit an einer Erzählcollage lernen die Teilnehmenden ihnen unbekannte Gedanken und Abwägungen kennen, können sich identifizieren oder abgrenzen, gehen in einen Austausch mit den Jünger*innen und deren Vielschichtigkeit. Die singuläre Erzählung von Judas wird weiter irritiert. Die Teilnehmenden eignen sich diese Irritation und den Zugang des Neu- und Anders-Erzählens an und gestalten selber eine Erzählcollage.

1 Walter Jens, Der Fall Judas, Freiburg 1975.

2 Amos Oz, Judas, Berlin 2016.

3 Hier gibt es viele Hintergrundinfos zu Verschwörungserzählungen: www.amadeu-antoniostiftung. de/verschwoerungsmythen-und-antisemitismus (Abruf 6.12.2022)

4 www.youtube.com/watch?v=y8uoooI4QlE (Abruf 6.12.2022)