Theo-politische Implikationen christlicher Gemeindepraxis

Rassismus

Publiziert: 2016

Radosh-Hinders Thesen sind im Kontext selbst reflexiver Praxis kirchlichen Handelns entstanden. Die von ihr wahrgenommenen Handlungsfelder konfrontiert sie mit politischen und rassismuskritischen Fragestellungen.

 

Einleitung

Ein Blick in unsere Gemeinden und Kirchen macht deutlich: Als protestantische Kirche in Deutschland haben wir überwiegend weiße Mitglieder und sind so homogen, dass wir kein realistisches Spiegelbild der Gesellschaft darstellen. Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum die Kirche in ihrem Kern der Frage von rassismuskritischem Handeln bislang (bis auf den Bereich der Ökumene) eher ausweichen konnte. Dieses Beharrungsvermögen, steht im Widerspruch zur eigenen Botschaft. Es ist daher keine Frage, ob wir uns als Christ_innen dem Thema rassismuskritische Bildungsarbeit stellen. Es gibt dazu keine Alternative.

Das Christentum als solches ist per se politisch und kann sich deshalb nicht darauf zurückziehen, allein auf innerlichen Glauben abzuzielen. Es gibt keinen sakralen Schutzraum politischer Unschuld. Christentum und christliche Inhalte werden als öffentliche Verkündigung und Äußerungen (dazu gehört auch und in besonderer Weise diakonisches Handeln) im öffentlichen Raum verhandelt und schaffen selbst öffentlichen Raum. Nicht zuletzt hat das Christentum immer wieder für sich in Anspruch genommen, politisch zu agieren.

Christliche Theologie und Glaube sind politisch, weil es um eine Vision geht. Den biblischen Realitätsanspruch ernst nehmen

Gehen wir vom biblischen Menschenbild der Ebenbildlichkeit Gottes eines jeden Menschen aus, wird deutlich, dass die soziale und gesellschaftliche Wirklichkeit unserer Welt diesem Anspruch in keiner Weise gerecht wird. Damit hat christlicher Glaube einen gesellschaftlich notwendigen Veränderungsanspruch auf diese Wirklichkeit. Die Realität, so wie sie ist, entspricht nicht dem, was Inhalt und Auftrag Gottes für seine Welt sind. Deshalb ist eine Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen Teil biblischer Vision und christlichen Handelns. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir den biblischen Realitätsanspruch ernst nehmen und ihn nicht entweder in die eigene Innerlichkeit oder in eine transzendente Paradiesvorstellung verlagern.

Spiritualität als subversives Element und Ressource

Christlicher Glaube verfügt über zentrale Ressourcen – sowohl im Hinblick auf individuelle Motivation als auch im Hinblick auf dogmenkritisches Handeln. Christliche Theologie hat mit ihrer Neigung zur Dogmenbildung eine innere Schwierigkeit, auf Situationen selbstkritisch öffentlich zu agieren. Während protestantische Theologie und Kirche traditionell in eher festen, normativen Formen – auch in der Liturgie – fixiert, stellen sich insbesondere Spiritualität und Mystik als Teile christlicher Tradition dar, die an Dogmen rütteln und über solche hinausgehen. Transzendenz ist eine Erfahrung, die über die wahrnehmbare Realität hinausgeht. Für all diejenigen, die sich in oft mühevollen Auseinandersetzungen und Anstrengungen um mehr Gerechtigkeit und gesellschaftliche Veränderung bemühen, kann sie zu einer Quelle unverfügbarer Kraft werden. Gleichzeitig sind Transzendenz- und Spiritualitätserfahrungen mitten in Auseinandersetzungen Orte der Vergewisserung und eines Sich-im-Einklang-Befindens, das über rational Erklärbares hinausgeht und motiviert, nicht aufzugeben.

Die Bibel ist in ihrer Vielstimmigkeit mehr deutlich

Auch die biblischen Texte widerstreben in jeder Weise der Reduktion auf eine Grundaussage. Sie sind gleichermaßen Inspiration und Zaun für das politisch-öffentliche Christentum und zugleich für die subversive Kraft von Transzendenz und Mystik. Jeder Versuch, biblische Texte insgesamt auf eine Grundaussage festzulegen wird scheitern. Die gesamte Widersprüchlichkeit und die Breite ihrer z.T. gegenläufigen Narrative stellt dabei den schwierigen Schatz dieser Texte dar. Selbst die Entscheidung über die Kanonfrage konnte diese Vielstimmigkeit letztlich nicht verhindern und so ist biblische Mehrdeutlichkeit bleibende Herausforderung und zugleich Ressource im christlich-politischen Kontext.

Reflexionen aus der Praxis

Raus aus der Komfortzone: Coalitions will kill you – eine Frage der Haltung

„Coalitions will kill you“, so schrieb Bernice Johnson Reagon über die Unmöglichkeiten der politischen Zusammenarbeit. Das ist keine optimistische Aussage im Hinblick auf rassismuskritische evangelische Bildungsarbeit, der es um eigene Bemühungen, sich dem rassistischen Konsens auf weißer Seite zu entziehen, geht. Wir sollten realistisch sein: Rassismus als gewaltsames Unterdrückungssystem mit seinen umfangreichen Privilegien, von denen ich immer wieder profitiere, ist wirkmächtig. Zu stark, zu fest verankert sind die Strukturen, als dass es einfach wäre, sich daraus zu lösen. Es geht nicht um Dankbarkeit, um ein „Auf-der-richtigen-Seite-Stehen“ oder um ein grundsätzliches „Gutfühlen“. Es geht um eine echte Herausforderung, bei der auch meine Zusammenarbeit mit denjenigen, die von Rassismus als dessen Opfer betroffen sind, immer wieder in Frage gestellt werden wird. Es geht nicht allein um andere – es geht auch um meine eigene Befreiung aus diesen Strukturen.

Für eine Meditation des Fehlers

Wollen wir die Vision, dass die Gefangenschaft in rassistischen Grundkonstellationen uns in der Fülle unseres Menschseins eines Tages nicht mehr einschränkt, im Sinne des öffentlich-politischen Christseins leben, können wir nicht auf bessere Chancen und mehr Mitstreiter_innen warten. Wir müssen einfach damit beginnen, denn „…Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Tim. 1,7). Wir werden auf dem Weg notwendigerweise scheitern. Gesellschaftlich gibt es heute jedoch kaum einen Raum dafür, die Chance von Fehlern für eine Veränderung auf die Zukunft hin fruchtbar zu machen. Es zählen in erster Linie Erfolge. Scheitern, Fehlerhaftigkeit und Sünde sind gesellschaftlich weitgehend tabuisiert. Warum spielt jedoch in einer Theologie, in der es zentral um Sünde und Sündenvergebung geht, die Meditation des Fehlers eine so geringe Rolle? Meine These lautet, dass dies an der vorschnellen Allianz liegt, die das Begriffspaar „Sünde“ und „Vergebung“ sofort in unserem Denken einnehmen. Beide kommen in der Regel als begriffliches Zwillingspaar zu uns. Dadurch wird die Lücke – die schamhafte, schmerzhafte, unerträgliche Seite der Sünde – kaum dass sie sich auftut, quasi schon wieder verschüttet. Die von mir vorgeschlagene Gegenbewegung besteht darin, Fehler als Chance des Neuorientierens wahrzunehmen. Nur dann kann umgekehrt auch die Vergebung die Kraft entfalten, die eigentlich in ihr liegt.

Flüchtlingsarbeit versus Internationale Gemeinde – Erfahrungen aus dem Kirchenkreis Berlin Stadtmitte

Als im September 2014 die St. Thomaskirche in Berlin Kreuzberg von Geflüchteten besetzt wurde, die vorher auf dem Oranienplatz in Berlin Kreuzberg für ihre Rechte gestritten hatten, nahm der Kirchenkreis Berlin Stadtmitte in der Folge 132 Menschen in seine Obhut und bemüht sich seitdem, eine aufenthaltsrechtliche Perspektive für sie zu erarbeiten. Diese Herausforderung im Hinblick auf Unterbringung, medizinische und Lebensmittel-Versorgung und Verhandlungen zur Zukunft führte in eine einigermaßen krisenhafte Situation. Eine klassische Erfahrung ist, dass Menschen und Organisationen in Krisensituationen auf das zurückgeworfen sind, was sie am besten können. Im Falle der christlichen Kirche ist dies ein hohes Maß an organisierter Fürsorge. Jedoch sind Auseinandersetzungen über rassismuskritisches diakonisches Handeln innerhalb einer so angespannten Lage nur schwer zu handhaben. Andererseits zeigt eine Krise zentrale Fragen für die Weichenstellung der Gemeindezukunft auf. Vor dem Hintergrund der Weißen Homogenität/Normalität der Gemeinden ist mit dieser Krise gleichzeitig die Frage und die Chance nach einem Transformationsprozess im Blick auf eine Internationale Gemeinde aufgerufen. Es ist möglicherweise eine historisch nicht sehr häufig wiederkehrende Chance, Gemeinden mit Hilfe der Perspektiven, Forderungen und Realitäten geflüchteter Menschen und Migrant_innen nachhaltig zu verändern. Dies erfordert jedoch eine klare Entscheidung: für die Menschen und für eine selbstkritische und selbstreflexive Praxis auf dem Weg zu einer rassismuskritischen Kirche.