Vortrag auf der Theologische Werkstatt Berlin, ein Kooperationsprojekt von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und der Evangelischen Akademie zu Berlin, 11.-13.09.2015
I.
Zu Beginn – und zugleich als ein erster eigener Abschnitt – vier Motto-Sätze, die mit dem im Folgenden Vorzutragenden zu tun bekommen, es in gewisser Hinsicht grundieren, aber doch auch nicht in ihm aufgehen und ein störrisches Eigenleben behalten – wie es eben ein Motto tun sollte.
„Aus den Speichern des gelebten Lebens holt er die dort deponierten Bedeutungen, die des Empfängers harren.“
(Schluss-Satz einer Besprechung der Schriften Benjamins von Siegfried Kracauer in der Frankfurter Zeitung vom 15.7.1928 [just am 36. Geburtstag von W.B.], wiederabgedruckt in: S.K., Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. ³1977, 249-255, hier 255.)
„Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht.“
(Dietrich Bonhoeffer in der 1929 verfassten Habilitationsschrift „Akt und Sein“, in der Werkausgabe [DBW] Bd. 2, hg. v. H.-R. Reuter, München 1988, 112.)
„Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen? das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“
(Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke. Zweites Sendschreiben, in: Ders.; Kritische Gesamtausgabe, hg. v. H. Fischer u.a., 1. Abt., Bd. 10, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. v. H.-F. Traulsen, Berlin u.a. 1990, 227-394, hier 347.)
„Die Suche nach dem, was man bereits gefunden hat, das heißt mit anderen Worten, die Tradition ernst zu nehmen.“
(Leon Wieseltier, Kaddisch [Kaddish, New York 1998], dt. Ausgabe, Übers. v. F. Griese, München 2000, 42.)
II.
Das heutige Datum ist in der kollektiven Erinnerung als Nine/Eleven bestimmt, ja geradezu belegt, als der 11.9.2001 mit dem Terrorangriff auf die Twin Towers in New York. Es ist aber auch das Datum des Geburtstags von Theodor W. Adorno, der am 11. September 1903 in Frankfurt am Main als Theodor Ludwig Wiesengrund geboren wurde. Sein Vater war der Weingroßhändler Oscar Alexander Wiesengrund, seine Mutter die Sängerin Maria Calvelli Adorno, deren – übrigens recht theatralisch von ihrem Großvater, einem korsischen Fechtmeister, erworbenen – Namen „Adorno“ er später mit auf- und in seiner Emigrationszeit in den USA schließlich ganz annahm. Der Geburtsname Wiesengrund klang schließlich im „Theodor W.“ wie die Abkürzung eines zweiten Vornamens. Adornos Vater gehörte zur Zeit der Geburt des Sohnes Theodor zur jüdischen Gemeinde, später konvertierte er und wurde Protestant (u.a. dazu und zu Adornos Biographie überhaupt Stefan Müller-Dohm, Adorno, Frankfurt a.M. 2003).
Theodor (damals und für seine Freunde lebenslang: Teddie) Wiesengrund wurde am 4. Oktober 1903 der Konfession seiner Mutter entsprechend im Frankfurter Dom katholisch getauft. Später nahm er am protestantischen Religionsunterricht teil und wurde in der Katharinenkirche konfirmiert. Er selbst gehörte (anders als z.B. Max Horkheimer und Erich Fromm) nie einer jüdischen Gemeinde an und doch lässt sich fragen, ob und womöglich in welcher Hinsicht sein Denken von jüdischen Motiven mit bestimmt sein mag. Ähnlich stellt sich diese Frage auch für andere Protagonisten der Kritischen Theorie, der „Frankfurter Schule“, und für Denker in ihrem engeren oder weiteren Umkreis, die vielfach aus jüdischen (wenn auch überwiegend assimilierten) Familien stammten. Das gilt für Adorno und Horkheimer, aber auch für Herbert Marcuse, Leo Löwenthal, Otto Kirchheimer, Franz Neumann, für Erich Fromm, aber auch – im weiteren Umkreis – für Walter Benjamin und Siegfried Kracauer.
Die Frage nach einem jüdischen Hintergrund der Kritischen Theorie bzw. der „Frankfurter Schule“ ist durchaus heikel. Die Genannten fielen in der NS-Zeit unter die schrecklichen „Rassengesetze“, zunächst unter das, wie es in jener kalt bürokratischen Sprache, das Ungeheuerliche verdeckend, hieß, „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, das in § 3 die „Nichtarier“ von beamteten und weiteren öffentlichen Stellungen ausschloss. Vor allem darum mussten sie Deutschland verlassen. Hatten sie alle sich selbst als Juden gesehen? Adorno etwa hatte sich zuvor zum Judentum distanziert und kritisch bis spöttisch verhalten. So hatte er Leo Löwenthal und Erich Fromm als „Berufsjuden“ apostrophiert und Martin Buber einen „Religionstiroler“ genannt (nach Peter von Haselberg, Wiesengrund-Adorno, in: Text + Kritik, Sonderband. Theodor W. Adorno, hg. v. H.L. Arnold, München ²1983, 7-21, hier 12). Dass er selbst sich als Jude zu verstehen habe, war für ihn, der getauft und konfirmiert und der nicht der Sohn einer jüdischen Mutter war und der sich als Atheist verstand, etwas, das ihm die Rassengesetze zu verstehen gaben. Zum Juden machten ihn (und nicht nur ihn) die Nazis.
Es bleibt fatal, diesem Rassenwahn zu folgen und Menschen mit jüdischem Familienhintergrund ungeachtet ihrer eigenen Bindung oder eben Nicht-Bindung an die jüdische Religion als „Juden“ zu bezeichnen.(1) Entsprechendes gilt übrigens auch für die neben Hegel wichtigsten Ahnväter der Kritischen Theorie, nämlich für Karl Marx und Sigmund Freud, deren Verhältnis zum Judentum zumindest kompliziert war. Und noch da, wo das „Jüdische“ heute zuweilen umgekehrt wie eine Art Ehrentitel gebraucht wird, bleibt diese Zuschreibung noch in solcher Umwertung den Rassengesetzen des NS-Staates verhaftet. Die in Ausführungen zu den genannten Denkern und darüber hinaus mitunter vorkommende Unterscheidung zwischen „jüdischen“ und „nicht-jüdischen Juden“ kann ich allenfalls als Verlegenheitsausdruck verstehen. Immerhin wäre auch da die Gegenintuition: Denn fasst man „Jude“ nicht als genetische (um nicht zu sagen „völkische“ oder gar „rassische“) Kategorie, sondern als religiöse und versteht „jüdisch“ als eine kulturelle Beheimatung, dann wäre Adorno ja wohl weniger ein „nicht-jüdischer Jude“ als ein „jüdischer Nicht-Jude“. Ich verzichte aber lieber auf jede Zuschreibung von außen. Im beharrlichen Gegenton zu Jean-Paul Sartres berühmt gewordenem Satz: „Der Jude ist der Mensch, den die anderen als solchen betrachten“ (Betrachtungen zur Judenfrage [1946], dt. u.a. in: Ders., Drei Essays, Frankfurt a.M./ Berlin 1964, 108-190, hier 143) möchte ich für mich gelten lassen: Jude, Jüdin ist der Mensch, der sich selbst im Blick auf die Abstammung und die Zugehörigkeit zum Volk Israel oder auf die Religionszugehörigkeit als solchen oder solche betrachtet und, das füge ich hinzu, der und die über dieses womöglich ja auch gebrochene Selbstverständnis niemandem Rechenschaft schuldig ist – schon gar nicht („uns“) Nicht-Jüdinnen und Nicht-Juden. Aber da ist auch Leon Wieseltiers Notiz: „Es ist eine der Lehren aus der jüdischen Geschichte, daß die jüdische Schicksalsgemeinschaft größer ist als die jüdische Glaubensgemeinschaft.“ (L.W., Kaddisch, 334)
Jenseits letztlich vielleicht nicht hilfreicher Begrifflichkeitsfragen lässt sich durchaus erwägen, ob nicht manche Perspektiven der Kritischen Theorie vom Judentum – in Benjamins Terminologie: tingiert, d.h. gefärbt sein könnten. Dazu sind immerhin Erwägungen möglich: Vielleicht brachte, wie es der Kölner Soziologe René König in Betracht zog (vgl. etwa Ders., Die Juden und die Soziologie [u.a. in: R.K., Soziologie in Deutschland, München/ Wien 1987, 329-342]), die eigene Erfahrung von Identität und Ausgrenzung jüdische Menschen in eine bereits biographische Nähe zu Fragestellungen der „Soziologie“.
Aber nicht nur das. Max Horkheimer selbst führte seinen Impuls der Empörung gegen das gesellschaftliche Unrecht mehrfach auf die Gebote der Tora zurück. Ebenso in deren Bezug steht die Kritik des „Götzendienstes“, als der ihm der Kapitalismus und die Versklavung unter die Totalität der instrumentellen Vernunft erschien. Für Adorno und vor allem für Benjamin wurden Motive des Messianismus und – wie freilich bereits für Schelling – der jüdischen, vor allem der Lurjanischen Mystik (dazu Christoph Schulte, Zimzum. Gott und Weltursprung, Berlin 2014) prägend. Und schließlich lässt sich die deutliche Zurückhaltung vor allem Horkheimers und Adornos, das richtige Leben, die wahre Gesellschaft zu beschreiben, mit dem biblischen „Bilderverbot“ verbinden und die allenfalls indirekte Weise, von einem Absoluten zu sprechen, mit dem Verbot, den Eigennamen Gottes auszusprechen.
Wenn Gershom (Gerhard) Scholem notiert, er habe (neben zwei weiteren Gruppierungen, der Aby Warburg Schule und dem mystischen Kreis um Oskar Goldberg) das „Institut für Sozialforschung“ zu den „bemerkenswertesten ‚Jüdischen Sekten‘“ gerechnet, „die das deutsche Judentum hervorgebracht hat“ (Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt a.M. 1977, 167), sollte man das trotz des spöttischen Tons und trotz des Nachsatzes („Nicht alle haben es gern gehört“ [ebd.]) als nicht nur negatives Urteil hören. Ob und gegebenenfalls wo sich bei den „Frankfurtern“ jüdische Spuren zeigen, ist eine Frage in der Sache, und so etwas wie ein negatives oder auch positiv gewendetes „Kennzeichen ‚J‘“ verbietet sich allemal. Gewiss fehl ginge auch eine Vereinnahmung der Kritischen Theorie für die Theologie. Dass sie für eine „kritische Theologie“ Bedeutung bekommen kann, steht auf einem anderen Blatt. Die Vermutung, so könnte es sein, ist ja der Grund für dieses Thema Ihrer „Theologischen Werkstatt“.
(1)Immerhin erwähnt sei hier, dass bereits die rabbinische Tradition in der Frage, wer Jude sei, jenseits der Abstammung ein gleichsam theo-logisches Kriterium nennen kann. So gilt Esters Ziehvater Mordochaj, der von der Abstammung her Benjaminit ist, gleichwohl als Jehudi, weil er einzig Adonaj als Gott anerkannte (bMeg 12b.13a, dazu weiter im Midrasch Ester rabba 6,2). – Im Blick auf die Frage, wer Jude sei und damit die israelische Staatsbürgerschaft beanspruchen dürfe, gab es im modernen Israel zwei spektakuläre Fälle. Der eine war der des in Israel hoch angesehenen Karmelitermönchs Oswald („Bruder Daniel“) Rufeisen, der israelischer Staatsbürger werden wollte, weil er der Sohn einer jüdischen Mutter war. Nach langen Debatten entschied das Gericht 1962, Jude sei nicht, wer einer anderen Religion angehöre. Der andere Fall war der des amerikanischen Mafiabosses Meyer Lansky. Im Zusammenhang seiner Nicht-Anerkennung 1972 wurde bestimmt, vom Recht, als Sohn einer jüdischen Mutter die israelische Staatsbürgerschaft zu beanspruchen, sei auszunehmen, wer sich durch erhebliche kriminelle Handlungen diskreditiert habe. All das zeigt augenfällig die Schwierigkeit der Definition, wer Jude sei und wer als Jude in Israel die Staatsbürgerschaft beanspruchen könne. Volkszugehörigkeit, religiöse Konfession und moralische Maßstäbe kommen hier in eine kaum aufzulösende Gemengelage. – Der Konflikt um die Frage, welche Formen der Konversion zum Judentum in Israel anerkannt werden und welche nicht, kommt noch hinzu. – Zur Problematik gehört auch der Dezisionismus, mit dem in der NS-Zeit die rassische Zuschreibung aus nützlichen Erwägungen ins Abseits gestellt werden konnte. Dazu gehört der Fall der „(halb-)jüdischen“, doch geradezu modellhaft „arisch“ blonden Fechterin Helene Mayer, die bei der Olympiade 1936 für Deutschland eine Goldmedaille erringen sollte, aber auch der des im Sinne der Rassengesetze „eigentlich“ jüdischen Generalfeldmarschalls der Luftwaffe Erhard Milch, in dessen Kontext Hermann Görings berühmt-berüchtigter Satz gehört: „Wer Jude ist, bestimme ich.“ (zum Thema: Volker Koop, „Wer Jude ist, bestimme ich“. Ehrenarier im Nationalsozialismus, Köln 2014).
III.
Sie haben mich um einen Beitrag für diese Werkstatt angefragt. Das ist ja so selbstverständlich nicht, denn ich habe keine grundlegende Arbeit über die Kritische Theorie verfasst und auch meine auf Walter Benjamin bezogenen Beiträge (v.a.: Vergangene Zeit und Jetztzeit. Walter Benjamins Reflexionen als Anfragen an biblische Exegese und Hermeneutik, EvTh 52 [1992] 288-309) haben nicht die Kritische Theorie insgesamt zum Thema. Zudem habe ich neben Theologie und Altorientalistik zwar ein wenig Archäologie und Kunstgeschichte studiert, aber weder Philosophie noch Judaistik. In den beiden letzteren Gefilden bin ich ein im doppelten Wortsinn – Amateur geblieben, ein unprofessioneller Liebhaber also. Andererseits ist die Anfrage vielleicht nicht so verfehlt, denn in vielen meiner exegetischen und hermeneutischen Beiträgen steht die Kritische Theorie im Hintergrund und sie lugt immer wieder hervor – in Zitaten und wohl auch in einer bestimmten Haltung in Exegese und Theologie. Erlauben Sie mir dazu einige – ich bitte um Nachsicht – nicht ganz kurze biographische Reminiszenzen. Sie handeln, methodisch-umwegig (mit Walter Benjamins philologisch-hermeneutischem Satz „Methode ist Umweg“ [GS 1, 208]), von meinem Zugang zur Kritischen Theorie.
Im Sommersemester 1965 begann ich mein Theologiestudium in Hamburg. Ich wollte nicht Pfarrer werden, das Studium war für mich von einem rein wissenschaftlichen Interesse bestimmt. Die Chiffre „Elfenbeinturm“, die kritisch den Ort abgehobener universitärer Wissenschaft bezeichnete, hatte damals für mich keineswegs einen negativen Klang (später dann sehr wohl und – das will ich auch nicht unterschlagen – heute wieder nicht so ganz …).
Ich hatte in der Schulzeit neben Latein und Griechisch (und, leider bis heute, sehr dürftig Englisch und Französisch) auch Hebräisch und Aramäisch gelernt (vermutlich gibt es nicht viele Deutsche meiner Generation, die eine Note in „Aramäisch“ im Abiturzeugnis haben), und mein Interesse im Studium galt zunächst nahezu ausschließlich dem Alten Testament. Auf etwas eigentümliche Weise (wenn Sie mögen, kann ich auch da mehr erzählen), kam ich dann zur Keilschriftwissenschaft. Die Atmosphäre im Hamburger Institut für Ägyptologie und Altorientalistik, einer Villa an der Rothenbaumchaussee, war traumhaft. Wir ganz wenigen Studierenden hatten alle einen eigenen Hausschlüssel und einen eigenen Schreibtisch, ja, wir lebten geradezu in diesem Institut. Früh konnten wir in den sehr kleinen Seminaren eigene Beobachtungen und Überlegungen vortragen. So konnte ich in einer Übung „Besprechung neuerer Arbeiten“ eine falsche Rekonstruktion eines Göttinnen-Namens in einer gerade erschienenen Dissertation nachweisen. Der später als Ausgräber in Ägypten prominent gewordene Rainer Stadelmann hatte an einer Stelle seiner Arbeit über „Syrisch-palästinensische Gottheiten in Ägypten“ ein Alef mit einem Ajin und darum die Göttin Aschera – einem Ägyptologen sei’s verziehen – mit der Göttin Astarte verwechselt. Dass ich das aufdecken konnte, war wahrlich nicht weltbewegend, aber es zeigte mir, dass in der Fülle der unendlich vielen alten und neuen Bücher auch für mich noch Raum für das eigene Hinschauen war.
Ähnlich ging es mir bereits nach dem 1. Semester, als ich meine alttestamentliche Proseminar-Arbeit über die Geschichte vom „Salomonischen Urteil“ abfasste. Auch da entdeckte ich etwas, das zuvor so noch nicht gesehen war. Es ging um eine grammatisch-syntaktische Frage und deren Folge für das Verstehen des ganzen Textes.(2) Fast noch wichtiger wurde mir dabei aber eine andere Erfahrung: In einem älteren Kommentar zu den Königebüchern las ich, „bekanntlich“ gebe es zum Salomonischen Urteil auch eine Parallele bei Siculus Diodor. Mich wunderte, dass die betreffende Stelle bei Diodor nicht ausgewiesen war. Ich wollte sie finden. Also setzte ich mich mehrere ganze Tage in die althistorische Bibliothek und las (in deutscher Übersetzung) alle Bände der bibliothēkē historikē, der „Universalgeschichte“ Diodors. Als ich den letzten Band zuklappte, wusste ich, dass es diese Parallele nicht gibt. Auch das war durchaus keine für das Verstehen der biblischen Erzählung belangreiche Erkenntnis. Für mich war sie es aber doch, denn sie zeigte mir, dass nicht alles stimmt, was in den gelehrten Büchern steht, und dass noch manches zu prüfen und zu bedenken blieb. Das mag Ihnen trivial erscheinen. Selbstverständlich stimmt nicht alles, was in Büchern steht, werden Sie mit allem Recht und aus manch eigener Erfahrung sagen. Mir war es damals keineswegs trivial. Ich traute (und ich traue) den Büchern weiterhin sehr viel zu, aber da war auch eine Skepsis gepflanzt. Später hörte ich bei meinem altorientalistischen Lehrer Wolfgang Helck den klugen Rat, man soll immer dann misstrauisch sein, wenn ein Autor von etwas sagt, es sei „bekanntlich“ so. „Bekanntlich“ heißt oft, dass man etwas nicht belegen kann. (Für manches „zweifellos“ oder das gegenwärtig allfällige „alternativlos“ gilt übrigens das Entsprechende.)
Kleine Beobachtungen wie die skizzierten ließen in mir den Wunsch aufkommen, in diesem Bereich auf Dauer arbeiten zu wollen, und auch das Zutrauen, es zu können. Ob eine berufliche Zukunft in der Universität eine realistische Vorstellung war, fragte ich mich keinen Moment, aber ich fragte mich auch nicht, was ein solches Arbeiten mit den Themen von Gesellschaft und Politik zu tun habe. Und dann – ich muss das so merkwürdig kontingenzhaft formulieren – kam die „Studentenbewegung“ und mit ihr kamen meine durchaus auch zuvor vorhandenen politischen Meinungen in eine konstitutive Beziehung zum Studium. Es ging darum – das halte ich übrigens auch heute für das Ziel eines Studiums –, eine Meinung in eine Position zu verwandeln und dann die Position in ein Engagement.
Dazu gäbe es viel zu erzählen, aber ich will jetzt nicht noch mehr in die Geschwätzigkeit des „Alt-68ers“ verfallen. (Hüten Sie sich jedenfalls, was das angeht, vor der Parole: „Nicht das Erreichte zählt, sondern das Erzählte reicht.“) Ich fasse mich also kurz (wenn Sie mehr hören wollen, wird dazu wohl noch Gelegenheit sein). Viele meiner politisch bewegten Mitstudierenden gaben 1967/68/69 ihr jeweiliges Studienfach auf und wechselten in die Soziologie oder Politologie. Denn da, so schien es ihnen, gehe es um die wirklichen Fragen von Gesellschaft und Politik. Warum tat ich das nicht? Ich glaube, mir war das, was ich bis zu dieser Umbruchzeit im alttestamentlichen und altorientalistischen Studium gelernt und erfahren hatte, zu wertvoll geworden, um es einfach sausen zu lassen. So switchte ich denn zwischen Demos und hethitischen Ritualen; ich lebte in einer Kommune und im Altorientalischen Seminar. Im Urteil der Professorenschaft der Hamburger Theologischen Fakultät war ich als linker Agitator beargwöhnt und als der, ‚der Keilschrift kann‘, geachtet.
Dieses Doppel-Image war nicht ohne Reiz – gerade auch, als ich im Zuge der Universitätsreform als erster Vertreter der Studierenden in Fakultätssitzungen mitwirken konnte. Für das Studium jedoch wurde mir immer deutlicher: Ich muss versuchen, zusammen zu bringen, was mir die neuen politischen und gesellschaftlichen Einsichten und was mir die alten Studien bedeuteten. In dieser Situation wurde mir neben Marx und über Marx hinaus zunächst Ernst Bloch wichtig und dann wurden es Horkheimer und Adorno und noch später vor allem Benjamin. In übertragener Bedeutung, aber auch ganz real lag auf der einen Seite meines Schreibtischs „der Gesenius“, das Hebräische und Aramäische Wörterbuch zum Alten Testament, und auf der anderen Seite lag die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/ Adorno. Mit dem einen Teil meiner Freundinnen und Freunde konnte ich über das eine, mit dem anderen über das andere reden. Zusammenbringen musste, zusammenbringen wollte ich es selbst.
Aber geht das zusammen? Und wie geht das zusammen? Dazu kam ja auch, dass die genannten und weitere der mir auf je ihre Weise wichtig Gewordenen untereinander in vielfachen Spannungen lebten. Das gilt etwa für das Verhältnis Adornos zu Ernst Bloch, Bert Brecht, Hannah Arendt oder auch Günther Anders, das weithin durch tiefe und meist auch gegenseitige Abneigung gekennzeichnet ist, aber auch für manch andere Personenkonstellationen. Walter Benjamin etwa hielt seine Freunde und Gesprächspartner (v.a. Scholem, Bloch, Adorno, Brecht) sorgsam getrennt, weil er wusste, dass sie sich überwiegend – zurückhaltend gesagt – nicht grün waren.
War und bin ich zu naiv, wenn ich von ihnen allen grundlegend Wichtiges lernen zu können meinte und meine? Blochs beziehungsreich im Jahr 1968 erschienenes Buch „Atheismus im Christentum“ wurde mir wichtig, obwohl Adorno und Scholem es (wie ich inzwischen weiß) als übles Machwerk ansahen. Günther Anders‘ Kritik an Bloch als „professionelle(m) Hoffer“ (in: Ders., Die Antiquiertheit des Menschen II, München 1978, 452 Fußnote 11 [und auch 12] zu S. 277f.) und seine Warnung vor der Apokalypseblindheit bleibt mir wichtig, aber sie machte und macht mir Bloch nicht madig. Jacob Taubes wurde mir in der lebendigen Begegnung in Berlin und in der Wahrnehmung (und dann auch der Aufnahme) seiner Arbeiten (u.a. in: Zeit als Frist. Zur Lektüre der Apokalypse-Abschnitte in der Abendländischen Eschatologie, in: R. Faber u.a. [Hg.], Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes, Würzburg 2001, 75-91) eindrücklich und er bleibt es, obwohl er bei Scholem und Adorno in denkbar schlechtestem Licht erscheint. Das gilt auch für deren Bewertung von Hannah Arendt, deren rigoroses Bestehen auf Wahrheit und Recht mich gleichwohl beeindruckt, obwohl dieser Rigorismus auch wieder seine blinden Flecken haben mag (dazu jetzt, aus dem Nachlass veröffentlicht, Hans Blumenberg, Rigorismus der Wahrheit. „Moses der Ägypter“ und weitere Texte zu Freud und Arendt, Frankfurt a.M. 2015). Adorno war und ist mir wichtig, obwohl mir sein Narzissmus, sein Faible für die Upper Class und auch sein Lavieren in manchen Konflikten mitunter zuwider sind. Martin Buber war und bleibt mir wichtig, obwohl mich Adornos Urteil über dessen Verortung im „Jargon der Eigentlichkeit“ (das so betitelte Buch [geschrieben 1962-64] in GS 6,413-526) ebenso überzeugt wie Scholems Kritik an Bubers Chassidismus, der eben Bubers Chassidismus ist und historisch-philologischer Überprüfung nicht standhält. Und Karl Barth wurde mir (wenn auch spät) wichtig und bleibt mir wichtig, obwohl er bei Adorno unter die von ihm gering geschätzten Existenzialisten wie Heidegger, Jaspers und Buber fällt. Und Benjamin vor allem ist und bleibt mir zentral – trotz oder wegen seiner fragilen und nicht selten auch willkürlich scheinenden Konfigurationen, in denen Marxismus und Judentum, Theologie und Literatur, Geschichte und Gegenwart, Katastrophe und Rettung in atemberaubenden und allemal (im Wortsinn:) frag-würdigen Konstellationen zusammen kommen.
Wie geht das zusammen? „Wir sind vielfältig“, notiert Leon Wieseltier (Kaddisch, 432) und er setzt fort: „und Vielfalt verleiht Verantwortung. Vielfalt ist keine Ästhetik, sie ist eine Ethik, eine Lehre der Treueverhältnisse.“
Wie geht das zusammen und wie geht das zusammen mit „Theologie“ – und das heißt auch: mit dem, was die verschiedenen theologischen Disziplinen trennt und verbindet? Mit dieser Frage bin ich bis heute beschäftigt, aber sie bewegte mich (ohne manche Kenntnisse, die ich mir später und viel später erwarb) bereits in der Zeit, in der ich versuchte, Exegese und Theologie auf der einen und Marxismus und Philosophie auf der anderen Seite zusammen zu bringen. Meine 1972 vorgelegte Dissertation „Kritik und Utopie“ über den sogenannten „Verfassungsentwurf“ in Ezechiel 40-48 hat etliche Seiten, in denen es nur auf Marx bezogene Fußnoten gibt, und sie hat als Motto einen Satz aus Horkheimers und Adornos Vorrede zur „Dialektik der Aufklärung“. Er lautet:
„Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.“ (Neuausgabe Frankfurt a.M. 1969, 5)
(2) Es geht um die Erzählstruktur in 1Kön 3,16-28. Zuerst sagen beide Frauen das Gleiche und der König wiederholt das zweimal Gleiche. So erscheint ganze viermal die Wendung „mein Sohn ist der lebende und dein Sohn ist der tote“. Salomos Scheinurteil bringt die Frauen zu verschiedenen Reden. Die eine sagt: „… gebt ihr das lebende Kind, aber töten dürft ihr es auf keinen Fall!“ (t´nu-la ät-hajjäläd hachaj w´hamet al-t´mituhu), die andere: „Weder mir noch dir soll es gehören; zerschneidet es!“ Und nun – das ist die Pointe des literarischen Aufbaus – wiederholt der König nur noch das eine Wort, das Wort, das die richtige Mutter erweist. Man sollte m.E. den Urteilssatz auch so übersetzen: Die mit (die, die gesagt hat [so explizit LXX]) „gebt ihr das lebende Kind, aber töten dürft ihr es auf keinen Fall!“ (t´nu-la ät-hajjäläd hachaj w´hamet al-t´mituhu) – die ist seine Mutter (hi immo). Es handelt sich um einen zusammengesetzten Nominalsatz, dessen einer Teil im Zitat („Gebt jener das lebende Kind, aber töten dürft ihr es auf keinen Fall!“) und dessen anderer Teil (sozusagen dessen Prädikatsnomen) in der Bestimmung „die ist seine Mutter“ besteht. Dass das Urteil in der Sache im Zitat der Äußerung der richtigen Mutter besteht, hatte bereits August Klostermann (in: H.L. Strack/ O. Zöckler [Hg.], Die Bücher Samuelis und der Könige ausgelegt [Kurzgefaßter Kommentar zu den heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments sowie zu den Apokryphen], Nördlingen 1887, z.St. erwogen, woran später Eberhard Ruprecht, Eine vergessene Konjektur von A. Klostermann, ZAW 88 (1976) 415-418, erinnerte. Doch beide konjizieren dazu in V. 27 ein ausgefallenes omärät („die gesagt hat“). Das schien mir damals (1965) und das scheint mir auch heute nicht erforderlich, wenn man den zusammengesetzten Nominalsatz wahrnimmt.
IV.
Ein zentrales Thema des von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gemeinsam verfassten und 1944 abgeschlossenen Hauptwerks (es erschien als Buch zuerst 1947 bei Querido in Amsterdam und dann, in Deutschland, erst 1969, bei Fischer in Frankfurt) ist zugleich sein Titel. Es geht um die „Dialektik der Aufklärung“, nämlich um die Analyse der Reduktion der Aufklärung auf die totalitär gewordene instrumentelle Vernunft und das damit verbundene Umschlagen von Emanzipation in neue Herrschaft einerseits sowie um deren Umschlagen in neuen Mythos andererseits. Ein Schlüsselkapitel ist der „Exkurs II“ mit der Überschrift „Odysseus oder Mythos und Aufklärung“, eine Relektüre der Sirenenepisode aus dem 12. Gesang der homerischen Odyssee.
Sie erinnern sich vielleicht: Die Sirenen singen so betörend, dass alle Seeleute, die sie hören, unweigerlich vom Wege abkommen und an den Klippen zerschellen. Wer die wunderbaren Töne hört, ist beglückt und verloren. Odysseus aber will genießen und dafür nicht mit dem Tode bezahlen. Er lässt sich an den Mastbaum fesseln, um mit offenen Ohren, doch unfähig, den Kurs des Schiffes zu ändern, die süßen Töne zu hören und davon zu kommen. Das glückt ihm auch – aber nur deshalb, weil ihn unten im Schiffsbauch die Ruderknechte, denen er die Ohren verklebt hatte, an den Sirenen vorbei rudern.
So gelingt es Odysseus, die Macht der mythischen Wesen und Götter zu besiegen. Doch seine Befreiung von der Herrschaft der Götter, ist keine Befreiung von Herrschaft, sondern ihre Transformation. Von der göttlichen Macht befreit, herrschen nun Menschen über Menschen. Und diese Herrschaft der instrumentellen Vernunft nimmt ihrerseits mythischen Charakter an.
Eine treffliche Kurzform des in der „Dialektik der Aufklärung“ analysierten Umschlagens der instrumentellen Vernunft in den Mythos fand ich vor vielen Jahren einmal in einem wunderbaren Bilderwitz – ich glaube, er stand in der Saturday Evening Post. Es war die Zeit, als Computer noch sehr groß waren, z.B. Hollerith-Maschinen hießen und ihre Ergebnisse auf Lochstreifen präsentierten. Zu sehen waren da zwei Ingenieure, die vor einem solchen eine ganze Wand füllenden Rechner standen, der gerade einen solchen Lochstreifen ausgespuckt hatte. Der eine der beiden Ingenieure, der die Botschaft entziffert hatte, sagte zu seinem Kollegen: „Er will, dass wir ihm ein Schaf opfern.“
V.
Ich setze noch einmal an: Was mag Sie bewegen, einen Exegeten der hebräischen Bibel zu befragen, dessen erste Begegnungen mit jener Theorie bald ein halbes Jahrhundert zurück liegen, und sich überhaupt mit einer Theorie zu befassen, deren theoretische Grundlegungen in Max Horkheimers „Traditionelle und kritische Theorie“ von 1937 fast acht Jahrzehnte zurück liegen? Für uns ging es in den Jahren um 1968 vor allem um den Vietnamkrieg, aber ebenso um die in der Bundesrepublik nach 1945 lange Zeit geradezu konstitutiv verdrängte Geschichte des Faschismus und damit auch um die in den Familien verdrängte Geschichte unserer Väter und Mütter. Das wie Mehltau über der Geschichte der frühen Bundesrepublik liegende große Schweigen wurde aufgebrochen und ein grundlegender Konflikt mit der Vätergeneration brach aus – in den Familien, aber auch in Schule und Universität. Viele unserer gymnasialen und akademischen Lehrer, so wurde uns bewusst, waren alte Nazis.
Übrigens nicht nur alte Nazis. Eine kleine Reminiszenz: Bei der feierlichen Rektoratsübergabe am 9.11.1967 (war es das klassisch-antike Satyrspiel nach der Tragödie, dass auch das auf einen 9. November fiel?) im Auditorium Maximum der Hamburger Universität hatten zwei Studierendenvertreter, Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer (3), vor dem Zug der im Talar angetretenen Professoren das Band mit der berühmt gewordene Inschrift entfaltet: „Unter den Talaren/ Muff von 1000 Jahren“. Ich war dabei und höre noch wie heute den wütenden Ausbruch eines Professors: „Ihr gehört alle ins KZ!“ Eines besseren Beweises für die Richtigkeit jenes Spruchbandes bedurfte es nicht.
In dieser Situation wurden uns die ‚Großväter‘ wichtig. Wir wollten anknüpfen an die vor- und antifaschistischen Linien. Die nachgerade kultische Verehrung von Herbert Marcuse bei seinen Auftritten vor allem in Berlin lässt sich wohl nur so erklären.
Auch da hätte ich viel zu erzählen – über meine damaligen Erfahrungen und Urteile und darüber, wie ich heute auf diese Zeit zurückblicke –, aber wichtiger ist mir jetzt eine andere Frage: Was sind die Grundauffassungen der Kritischen Theorie, denen Sie heute eine gegenwärtige Bedeutung für Gesellschaft und Politik zutrauen? Und was versprechen Sie sich da für Ihr eigenes Theologie-Treiben?
Wie immer eine Vermittlung von Kritischer Theorie und Theologie aussehen mag, es ginge dabei, meine ich, um eine Balance zwischen Distanz und Nähe. Um der Nähe und der Distanz zwischen Theologie und Kritischer Theorie an einem konkreten Differenzpunkt ansichtig zu werden, möchte ich ein Motiv einspielen, das zwischen Walter Benjamin und Max Horkheimer zur Debatte stand.
Benjamin hatte in einem für die von Horkheimer herausgegebene „Zeitschrift für Sozialwissenschaft“ verfassten Aufsatz mit dem Titel „Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker“, an dem er seit 1934 gearbeitet hatte (er erschien im Jahrgang 6 der Zeitschrift, 1937, 346-381, die Passage dort 355), formuliert:
„Ist der Begriff der Kultur für den historischen Materialismus ein problematischer, so ist ihr Zerfall in Güter, die der Menschheit ein Objekt des Besitzes würden, ihm eine unvollziehbare Vorstellung.“ (GS II/2, 477)
Und dann folgt der Satz: „Das erk der Vergangenheit ist ihm nicht abgeschlossen.“ (ebd.)
Horkheimer reagierte darauf in einem Brief an Benjamin so: „Über die Frage, inwiefern das Werk der Vergangenheit abgeschlossen ist, habe ich seit langem nachgedacht, Ihre Formulierung mag ruhig so bleiben, wie sie ist. Persönlich mache ich das Bedenken geltend, daß es sich auch hier nur um nur ein dialektisch zu fassendes Verhältnis handelt. Die Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen. Letzten Endes ist Ihre Aussage theologisch. Nimmt man die Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muß man an das Jüngste Gericht glauben. Dafür ist mein Denken jedoch zu sehr materialistisch verseucht. Vielleicht besteht in Beziehung auf die Unabgeschlossenheit ein Unterschied zwischen dem Positiven und Negativen, so daß das Unrecht, der Schrecken, die Schmerzen der Vergangenheit irreparabel sind. Die geübte Gerechtigkeit, die Freuden, die Werke verhalten sich anders zur Zeit, denn ihr positiver Charakter wird durch die Vergänglichkeit weitgehend negiert. Dies gilt zunächst im individuellen Dasein, in welchem nicht das Glück, sondern das Unglück durch den Tod besiegelt wird. Das Gute und das Schlechte verhalten sich nicht in gleicher Weise zur Zeit. Auch für diese Kategorien ist die diskursive Logik daher unzulänglich.“ (aus dem Brief Horkheimers an Benjamin vom 16.3.1937)
Benjamin antwortete unverzüglich brieflich. Im Manuskript des „Passagenwerks“ bezieht er sich dann noch einmal auf Horkheimers Einwände und kommentiert sie. Doch bevor ich auf diese Passage zu sprechen komme, will ich eine andere einspielen, die etwas über das für Benjamin so zentrale Stichwort „Eingedenken“ zeigen mag:
„Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“ (GS I/2, 704)
Als mögliche Fortsetzung notiert Benjamin in einer weiteren Notiz einen Satz über jene „kleine Pforte“, bei dem ein Wortspiel anklingt, in dem Benjamins Engel der Geschichte, der – einem 1920 gemalten Bild von Paul Klee, das in Benjamins Besitz war (4), abgeschaute – „Angelus (novus)“, mit der Tür-Angel in eine Konfiguration kommt. Über die kleine Pforte, durch die in jeder Sekunde der Messias kommen kann, heißt es dort:
„Die Angel, in welcher sie sich bewegt, ist das Eingedenken.“ (GS I/3, 1252)
Das Beweglich-Machen jener Türangel im Eingedenken ersetzt nicht das Kommen des Messias, aber es hält sie für sein Kommen offen. Er soll bei seinem Kommen jedenfalls nicht vor einer blockierten Tür stehen und umgekehrt soll auch nicht gelten: Stellt euch vor, der Messias kommt und niemand geht hin.
Aber nun zu Benjamins Aufnahme des Einwands Horkheimers im „Passagenwerk“. Er notiert:
„Was die Wissenschaft ‚festgestellt‘ hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung. die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.“ (GS V/1, 589)
Eine Zuordnung der Positionen Horkheimers und Benjamins führt hier auf eine Option für ein nicht unmittelbar theologisch-begriffliches, aber doch auch nicht atheologisches Verstehen der Geschichte bei Benjamin und eine (als „persönlich“ gekennzeichnete) Ablehnung theologischen Denkens bei Horkheimer.
Angemerkt sei immerhin, dass sich beim späten Horkheimer etwas andere Töne finden. Denn er, der zuvor gegen Benjamin mit aller Schärfe daran fest gehalten hatte, dass die Erschlagenen wirklich erschlagen sind, sagte in einem Gespräch wenige Jahre vor seinem Tod, Theologie sei: „Ausdruck der Sehnsucht, daß der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge“ (Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von H. Gumnior, Hamburg 1970, 62). Auf die Bemerkung des Interviewers, das sei „urchristlich“ (dass da in der zitierten Ausgabe „unchristlich“ steht, kann ich nur als einen fatalen Druckfehler verstehen), antwortet Horkheimer, diese Sehnsucht sei „urchristlich und urjüdisch“ (ebd.).
Ist diese „Sehnsucht, daß der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge“ in Horkheimers Sicht der Ausdruck einer falschen Verströstung, so etwas wie das „Opium des Volkes“ bei Karl Marx (Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in: Karl Marx Friedrich Engels Werke [MEW], Bd. 1, Berlin DDR 1970, 378) – Ausdruck des Elends und, wenn auch ohnmächtige, Protestation gegen das Elend zugleich? Dagegen spricht der nicht unkritische, aber doch positive Ton, in dem Horkheimer in diesem Interview über Religion und Theologie spricht. Aber kann sich diese Sehnsucht darauf beschränken, dass in irgendeiner glücklichen Zukunft der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren werde? Bleibt da nicht das zitierte Beharren Horkheimers darauf, dass das vergangene Unrecht geschehen und abgeschlossen ist, dass die Erschlagenen wirklich erschlagen sind? Zu Ende gedacht nähert sich in meiner Wahrnehmung die von Horkheimer beschworene „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ der Benjamin’schen Beschwörung an, dass das Eingedenken, die emphatische Erinnerung, die nichts verloren gibt, was verloren scheint, die Vergangenheit verändern könne.
Die vielleicht kürzeste Form jenes Denkens finde ich abermals in einem Cartoon, nämlich bei den Peanuts (in: Charles M. Schulz, Charlie Brown und seine Freunde [Peanuts] Nr. 699, Ravensburg 81979): Linus wirkt da bekümmert und gibt – so der Originaltext – zu bedenken: „I guess it’s wrong always to be worrying about tomorrow. Maybe we should think only about today.” Und Charlie Brown antwortet: „No, that’s giving up. I’m still hoping that yesterday will get better.” (5)
Ich gestehe, dass mir eine Bemerkung einer Person in einem Stück von Johann Nepomuk Nestroy überaus gefällt. Sie lautet: „… die edelste Nation unter allen Nationen ist die Resignation“ (in: Das Mädel aus der Vorstadt, in: J. Nestroy, Werke, hg. v. O.M. Fontana, München 1962, 350). Und doch: Es geht darum, nicht zu resignieren, nicht aufzugeben, sondern (mit Walter Benjamin und Charlie Brown) immer noch zu hoffen, dass gestern besser wird. Die letzte Hoffnung darauf, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge, ginge dann darauf – biblisch ins Bild gesetzt –, dass Kain Abel einst nicht erschlagen haben wird.
Was heißt dabei „einst“? Diese Zeitangabe, eine Kurzform von „eines Tages“, kann sich auf die ferne Vergangenheit ebenso beziehen wie auf die ferne Zukunft. In der Anfangszeile von Erich Kästners Gedicht „Die Entwicklung der Menschheit“ – „Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt“ (in: Erich Kästner Werke, hg. v. Franz Josef Görz, Bd. I, Gedichte, hg. v. Harald Hartung, Tb.-Ausgabe München 2004, 175f.) – oder im Volkslied „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ bezeichnet es die Vergangenheit. In den Zeilen Heinrich Heines (Gedichte aus dem Nachlass, Sämtl. Schr. hg. v. K. Briegleb, Bd. IV, München ²1965, 483f.), die auf seinem Grabstein auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris stehen und mit den Worten beginnen: „Wo wird einst des Wandermüden letzte Ruhstätte sein?“, oder im Vers aus Homers Ilias (VI, 448) in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß: „Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios versinkt“, ist es das andere, das zukünftige „Einst“. Das eine wie das andere Einst beschreibt einen Zustand, der von der Gegenwart und ihren Verhältnissen weit entfernt ist.
Für das hebräische Wörtlein az gilt dasselbe; es kann ein „Damals“ und ein zukünftiges „Einmal“ meinen. Dazu kommt, dass sich im Deutschen das vergangene und das zukünftige „einst“ durch die Zeitform des zugeordneten Verbs unterscheiden lässt, während das für die hebräischen Verbformen und ihre Zeitstufen nicht so eindeutig ist. Das wurde und wird etwa bei der Interpretation von Ps 2,5 und damit für die messianische Perspektive des ganzen Psalms bedeutungsvoll. (6)
Kann man eine Transformation des „Einst“ vom Präteritum in ein Futur bzw. ein „Futur 2“ oder, mehr noch, eine Verschränkung beider Zeiten in einer weiteren Zeit, nämlich heute denken, hoffen, glauben? Günter Grass gebraucht für eine solche Verschränkung der Zeiten in seiner Erzählweise das schöne Wort „Vergegenkunft“ (in „Die Rättin“, in: Ders., Werkausgabe in zehn Bänden, hg. v. V. Neuhaus, Darmstadt u.a. 1989, Bd. 7, 233).
Was aber hieße das – historisch, philosophisch, nicht atheologisch, theologisch? Ich möchte dem im Gespräch mit zwei Stellen nachgehen – einem Diktum Adornos und einer Passage Benjamins.
(3) Albers war später u.a. SPD-Landesvorsitzender in Bremen, Behlmer u.a. Staatsrat in der Hamburger Senatskanzlei. Ich darf aber auch nicht verschweigen, dass sich nicht wenige der Protagonisten der Studentenbewegung später auf der äußersten Rechten befanden und befinden.
(4) Zu den wechselvollen Orten des Bildes jetzt die Anmerkungen des Herausgebers in: Adorno Scholem Briefwechsel 1939-1969, hg. v. Asaf Angermann, Frankfurt a.M. 2015, 255.
(5) Der Historiker Jörn Rüsen hat Charlie Browns auf diese Weise gegen die Resignation sich stemmenden Satz mehrfach zitiert, u.a. in seinem Band: „Kann Gestern besser werden? Essays zum Bedenken der Geschichte“, Berlin 2002, 17-44 (der Cartoon selbst dort mit deutschem Text abgebildet, 21), s. auch Ernst Schulin, „Ich hoffe immer noch, daß gestern besser wird.“ Bemerkungen zu einem von Jörn Rüsen gewählten Motto, in: H. W. Blanke u.a. (Hg.), Dimensionen der Historik. Festschrift für J. Rüsen, Köln u.a. 1998, 3-12.
(6) Der Vers beginnt mit: az j´dabber elemo – „einst redete er sie (nämlich die Völker, die gegen Israel toben) an“ oder: „einst wird er sie anreden“. Welcher Lesart ist der Vorzug zu geben? Vielleicht kann man das gar nicht so eindeutig entscheiden. Es könnte sein, dass die Aussage zunächst auf die Vergangenheit bezogen wurde. In dem Maße aber, in dem sie den politisch-historischen Realitäten nicht mehr und immer weniger entsprach, verwandelte sich die Berufung auf die Vergangenheit in eine Erwartung für die Zukunft. Gottes schon gegebenes Wort wird sich „einst“ in der Realität zeigen. In dieser Zukunftsperspektive konnte das zunächst auf den regierenden König bezogene Prädikat „sein Gesalbter“ (m´schicho, V. 2) in eine messianische Erwartung umschlagen. Die ntl. Beziehung der Zeitangabe „heute“ (hajjom) in V. 7 („Mein Sohn bist du; heute habe ich dich gezeugt/ geboren“ auf die Taufe Jesu [Mt 3,17; Lk 3,22; Joh 1,49]) steht in diesem Zusammenhang.
VI.
„Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.“
So formuliert Adorno in der „Negative(n) Dialektik“ ([1966] GS 6, 391) Der Satz lässt sich umkehren: Nur wenn, was ist, nicht alles ist, lässt das, was ist, sich ändern. In biblisch-theologischer Perspektive aber wäre er noch einmal zu modifizieren. Im Modus eschatologischer Erwartung will ich – im doppelten Wortsinn: beschwören:
Weil das, was ist, nicht alles ist, lässt das, was ist, sich ändern.
Diese Gewissheit ist mir zum Leitmotiv meines exegetischen Arbeitens und meines politischen und theologischen Denkens geworden. Mir liegt hier aber sehr an zwei kleinen Anmerkungen zum Wortgebrauch. Die eine: es geht um eine Erwartung und nicht (nur) um eine Hoffnung. Dazu ein Satz des deutsch schreibenden israelischen Aphoristikers Elazar Benyoëtz:
„Die Erwartung gilt dem Kommenden, die Hoffnung dem Ausbleibenden.“
(Treffpunkt Scheideweg, München/ Wien 1990, 60.)
Und dann die andere: es geht um eine Gewissheit, die keine Sicherheit ist und keine Sicherheit bietet. Ich denke an Luthers Unterscheidung zwischen securitas und certitudo und vor allem an Friedrich-Wilhelm Marquardts Beitrag: Amen – ein einzig wahres Wort des Christentums (in: Hören und Lernen in der Schule des NAMENS, Festschrift Bertold Klappert, hg. v. J. Denker u.a., Neukirchen-Vluyn 1999, 146-159).
Ich möchte noch an einem zweiten Beispiel zeigen, wie ich mir eine nicht nur nicht atheologische, sondern eine dezidiert theologische Anknüpfung an Motive der Kritischen Theorie denken kann. Wieder geht es mir um eine theologische Anknüpfung und nicht etwa um den Versuch, die Kritische Theorie theologisch zu vereinnahmen, sie sozusagen zwangszutaufen (oder, sorry, zwangszubeschneiden).
Es soll dabei zu tun sein um Benjamins Umgehen mit dem Motiv der „Apokatastasis“, d.h. der „Allerlösung“, der eschatologischen Erwartung, dass am Ende alle gerettet werden. Diese Erwartung stellt sich der entgegen, für die das „Jüngste Gericht“ mit einem dualen Ausgang verbunden ist, wie sie sich plastisch in den Bildern von Himmel und Hölle darstellt, wie sie aber bereits in neutestamentlichen Texten ins Bild kommt. Da ist die wunderbare an Jes 65 anknüpfende Rede vom neuen Himmel und der neuen Erde in Offb 21. Gott wird, so heißt es da in V. 4, „jede Träne von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein: denn das Erste ist vergangen.”
Eine wunderbare Utopie! Aber nur bis V. 7, denn dann folgt der 8. Vers, der meist nicht mitzitiert wird und kennzeichnender Weise auch in der betreffenden Predigtperikope, die nur V. 1-7 enthält, abgeschnitten ist. Er lautet:
„Aber den Feigen und Ungläubigen und mit Greueln Befleckten und Mördern und Unzüchtigen und Zauberern und Götzendienern und allen Lügnern ist ihr Teil in dem See, der mit Feuer und Schwefel brennt, das ist der zweite Tod.“
Ein dualer Ausgang begegnet auch im Gleichnis vom großen Weltgericht in Mt 25. Da werden die Böcke von den Schafen geschieden, die zur Rechten und die zur Linken. Kriterium ist dabei die elementare Nächstenliebe: den Hungernden zu essen geben, den Durstigen zu trinken, die Fremden aufnehmen, die Nackten kleiden, um die Kranken sich zu kümmern, die Gefangenen im Gefängnis besuchen. Dieses Kriterium wird zum harten Urteil: Die einen werden zum ewigen Leben kommen, die anderen zu ewiger Pein.
Das Problem solcher Texte und Bilder ist offenkundig. Lässt sich der Gedanke der ewigen Höllenstrafen mit dem Glauben an Gottes Barmherzigkeit vereinbaren? Ich kann, ich mag das nicht denken und erst recht nicht glauben. Aber es gibt auch das umgekehrte Problem: Soll das denn heißen, dass es am Ende egal sein soll, wie jemand gehandelt oder nicht gehandelt hat? Ich denke an die Zeilen aus Kurt Martis „Leichenreden“ (u.a. Neuwied/ Berlin 1969, vgl. auch die Vertonung in der Nummer 487 als Osterlied im Reformierten Gesangbuch):
„Das könnte manchen herren so passen
Wenn mit dem Tode alles beglichen
Die herrschaft der Herren
Die knechtschaft der knechte
Bestätigt wäre für immer das Problem“
Aber lässt sich an der Unterscheidung von „gut“ und „böse“ festhalten, ohne „die Guten“ und „die Bösen“ zu unterscheiden? In dieser Frage wurde mir eine Passage Benjamins wichtig:
„Kleiner methodischer Vorschlag zur kulturgeschichtlichen Dialektik. Es ist sehr leicht, für jede Epoche auf ihren verschiednen ‚Gebieten‘ Zweiteilungen nach bestimmten Gesichtspunkten vorzunehmen, dergestalt daß auf der einen Seite der ‚fruchtbare‘, ‚zukunftsvolle‘, ‚lebendige‘, »positive«, auf der andern der vergebliche, rückständige, abgestorbene Teil dieser Epoche liegt. Man wird sogar die Konturen dieses positiven Teils nur deutlich zum Vorschein bringen, wenn man ihn gegen den negativen profiliert. Aber jede Negation hat ihren Wert andererseits nur als Fond für die Umrisse des Lebendigen, Positiven. Daher ist es von entscheidender Wichtigkeit, diesem, vorab ausgeschiednen, negativen Teile von neuem eine Teilung zu applizieren, derart, daß, mit einer Verschiebung des Gesichtswinkels (nicht aber der Maßstäbe!) auch in ihm von neuem ein Positives und ein anderes zu Tage tritt als das vorher bezeichnete. Und so weiter in infinitum, bis die ganze Vergangenheit in einer historischen Apokatastasis in die Gegenwart eingebracht ist. (GS V/1, 573)
Ich versuche das Gleichnis vom großen Weltgericht in Mt 25 im Lichte der Benjamin’schen Infinitesimalrechnung zu lesen und stelle mir darum als einen „kleine(n) methodische(n) Vorschlag“ nur die eine Zusatzfrage vor: Diejenigen, die das Elementare taten, die Hungrigen zu essen und Dürstenden zu trinken gaben, Fremde aufnahmen, Nackte kleideten, um Kranke sich kümmerten und Gefangene besuchten, könnten gefragt werden: „Immer?“ Und die, die es nicht taten, könnten gefragt werden: „Nie?“ Gibt es dann die, die ganz eindeutig auf die eine oder die andere Seite gehören? Gibt es die ganz Guten und die ganz Bösen? Vielleicht könnten einige sagen: Nicht immer, aber doch öfter. Und andere: Nicht nie, aber doch selten. Oder wieder andere: Nicht immer und immer seltener. Und wieder andere: Lange gar nicht, aber seit einiger Zeit immerhin zuweilen. Und wo verliefe dann die Grenze? Dürfen wir darauf setzen, dass zuletzt auch die gerettet werden, die auch nur einmal taten, was zu tun geboten war? Müssen wir damit rechnen, dass auch die auf die Seite des Todes fallen, die auch nur einmal nicht taten, was zu tun geboten war?
Ich will nicht unterschlagen, dass mir bei diesem Versuch, Mt 25 zu lesen, nicht nur Benjamins nicht atheologisches Verstehen der Apokatastasis hilfreich wurde, sondern auch und zuerst eine konkrete Raumerfahrung. Beim Münchner Kirchentag 1993 hielt ich eine Bibelarbeit über den Text vom großen Weltgericht an einem besonderen Ort, nämlich im Zirkus-Krone-Bau.
Nicht nur eine Zwischenbemerkung: Gerade bei diesem Kirchentag wurde mir auch an anderer Stelle deutlich, dass nicht nur die Zeiten, sondern auch die Räume, in denen Biblisches zur Sprache kommen soll, das Sprechen und das Hören mitbestimmen. Eine weitere Bibelarbeit nämlich hielt ich in der Kirche des Karmelitinnenklosters im Gelände des KZs Dachau. Bibeltext war das Buch Ruth. Nur die eine Impression: Wie liest sich, wie klingt an dieser Stelle der wohl berühmteste Satz dieses Buches: „Wo du hingehst, will auch ich hingehen“?
Aber zurück zum Zirkus-Krone-Bau und in ihm eine Auslegung von Mt 25. Der Raum war, wie es sich bei einem Zirkus versteht, rund. Wie steht es da mit denen zur Rechten und denen zur Linken? Ernst Jandls Zeilen boten sich an:
„Manche meinen, lechts und rinks kann man nicht velwechsern. Werch ein Illtum!“
(So Jandls durchaus politisches Gedicht „Lichtung“, in: Ders., Laut und Luise, Olten 1966, 175.)
Gerade die Unmöglichkeit, in einem runden Bau zwischen rechts und links zu entscheiden, wurde mir zum realsymbolischen Unterpfand einer (mit Benjamins Worten) „Verschiebung des Gesichtswinkels (nicht aber der Maßstäbe!)“. Die Unterscheidung von „gut“ und „böse“ bleibt zentral, aber sie ist nicht die „der Guten“ und „der Bösen“ – und am Ende hat der Messias das letzte Wort und nicht der „Universalmoralist“.
Noch eine jüdische Variante einer solchen „Infinitesimalrechnung“, die ich freilich nur mündlich erzählt kenne und frei weiter erzähle: Sie handelt von einem Rabbi, der so bewährt lehrte und lebte, dass ihm vergönnt wurde, nach seinem Tod sogleich der kommenden Welt teilhaftig zu werden. Als er das Tor zum olam ha-ba durchschreiten sollte, blieb er stehen und sagte: „Ich bin mir des großen Geschenks bewusst und ich bin voller Dankbarkeit. Aber wie hätte ich so Tora lehren können, wären da nicht die gewesen, von denen ich gelernt habe? Ich kann nur hineingehen, wenn auch meine Lehrer mit hineingehen dürfen.“ Das wurde ihm bewilligt. „Aber“, hob er wieder an, „müssen dann nicht auch meine Schüler in die kommende Welt hineingehen dürfen, die das, was sie bei mir gelernt haben, aufgenommen und weitergegeben haben? Ohne ihr Tun wären meine Worte doch leeres Stroh geblieben.“ Nun, auch sie kommen hinein. „Und was“, hebt er noch einmal an, „ist mit denen, die meine Schüler hätten werden wollen, es aber aus von ihnen nicht verschuldeten Gründen nicht konnten – weil sie für den Unterhalt der Familie arbeiten mussten oder schlicht, weil sie Frauen waren?“ Gerechter Weise kommen auch sie herein. „Und was ist“, bleibt jener Rabbi beharrlich, „mit denen, die …“ – und so plädiert er weiter und weiter, und er wird jenes Tor nicht durchschreiten, bis wir alle mit hinein dürfen.
Die Apokatastasis kann erhofft, ersehnt, erwartet werden. Man kann von ihr in benjaminischer Weise nicht atheologisch, wenn auch nicht in unmittelbar theologischen Begriffen sprechen und man kann davon in der Form von Geschichten wie z.B. der eben wiedergegebenen erzählen. Aber sie soll nicht zu einer Doktrin werden, denn dann würde sie den Maßstab aufgeben, in dem das Tun oder Nicht-Tun als „gut“ und als „böse“ bemessen ist und bleibt. Auf die Apokatastasis setzen und sie doch nicht zum Lehrsatz machen – wie geht das zusammen oder auch nicht zusammen? Dazu ein berühmt gewordenes Diktum, das mitunter ganz verschiedenen Autoren zugeschrieben wird. Es dürfte von dem schwäbischen Theologen und Missionsschriftsteller Christian Gottlob Barth (1799-1862) stammen – also weder von Karl Barth noch von Christoph Blumhardt – und es lautet:
„Wer nicht an die Allversöhnung glaubt, ist ein Ochs; wer sie aber lehrt, ist ein Esel.“
VII.
Nicht in ihrem Inhalt, wohl aber in ihrer Sprach-und Denkform kommt dieser Satz über die Apokatastasis, auf die zu setzen ist, die aber nicht zu einem Lehrsatz werden darf, in die Nähe einer „negativen Dialektik“, wie sie vor allem Adornos Haltung prägt. Die Spannung zwischen These und Antithese geht gerade nicht in einer Synthese auf, sondern sie verweigert sich ihrer Stillstellung. Dazu zunächst ein vergleichsweise einfaches Beispiel in den „Minima Moralia“. In einem ihrer ganz kurzen Texte unter der Überschrift „Monogramme“ (Minima Moralia Nr. 122, GS 4, 217) notiert Adorno:
„Zwischen ‚es träumte mir’ und ‚ich träumte’ liegen die Weltalter. Aber was ist wahrer? So wenig die Geister den Traum senden, so wenig ist es das Ich, das träumt.“
Die Passage umfasst lediglich drei recht kurze Sätze. Jeder der Sätze steht gleichsam gleichnah zum Mittelpunkt (das gilt auch für die längeren Texte in den Minima Moralia, die deshalb den Charakter von Aphorismen behalten), und jeder der Sätze hat seinen eigenen Fokus. Da ist zunächst eine kulturgeschichtliche Unterscheidung von Phasen des menschlichen Bewusstseins in deren jeweiligem sprachlichem Ausdruck. Die Wendung „es träumte mir“ lässt den Träumenden den Empfänger und weder den Produzenten noch den Herrn des Traumes sein.
„Es träumte mir von einer Sommernacht“ – so beginnt eines von Heinrich Heines nachgelesenen Gedichten (III. Abteilung Lamentationen Nr. 33, Sämtl. Schr., hg. v. K. Briegleb, 6/1, München ²1985, 345-349), in dem sich der Träumende in vielen Figuren und Figurationen dem ewigen Gegensatz („Des Griechen Lustsinn und der Gottgedanke Judäas“) ausgesetzt sieht.
„Es träumte mir“ – so beginnt auch ein Gedicht von Georg Friedrich Daumer, das Brahms vertonte (op. 57 Nr. 3):
Es träumte mir,
Ich sei dir teuer;
Doch zu erwachen
Bedurft‘ ich kaum.
Denn schon im Traume
Bereits empfand ich,
Es sei ein Traum.
„Es träumte mir“ – das meint hier ein Widerfahrnis. In vielen Kulturen und Religionen sind es die Götter, welche den Traum schicken. Allerdings kann – inzwischen auf ganz andere Weise als damals bei Adorno bezeichnet – jenes „Es“, das mir träumte, selbst zum Subjekt bzw. zum Pseudosubjekt werden.
Seit einigen Jahren hört man immer seltener, dass Sinn gefunden, Sinn gestiftet wird, vielmehr heißt es: Es macht Sinn. Jenes ominöse „Es“, welches „Sinn macht“, tritt an anderer Stelle ebenso überraschend selbstreferenziell-reflexiv auf den Plan: Nicht jemand rechnet, sondern: „Es rechnet sich“. Die Vertauschung von Aktiv und Passiv oder Medium scheint mir kennzeichnend. Je weniger Sinn wir finden, desto mehr soll „Es“ Sinn machen; je mehr Dinge geschehen, mit denen niemand rechnen konnte, desto mehr soll „Es sich rechnen“. Jenes selbstreferenzielle „Es“ ist seinerseits eine Figur der in neuen Mythos umschlagenden instrumentellen Vernunft.
In der Wendung „ich träumte“ bin ich das Subjekt und das Träumen ist so etwas wie mein eigenes Tun; in der Formulierung „es träumte mir“ bin ich nicht der Herr meines Traums. „Aber was ist wahrer?“, fragt Adorno, und seine Antwort überführt beide Wendungen eines Falschen: „So wenig die Geister den Traum senden, so wenig ist es das Ich, das träumt.“
Nikolaus Kopernikus hatte den Menschen aus dem Mittelpunkt des Universums vertrieben, Charles Darwin hatte ihn der Alleinstellung im Reich der Lebewesen und ihrer Arten beraubt und Sigmund Freud hat – er nennt es die „dritte und empfindlichste Kränkung“ (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW XI, 294f.) – gezeigt, dass der Mensch nicht einmal Herr im eigenen Hause ist. Ist es also wirklich das „Ich“, welches träumt? Gleichwohl gibt es gerade bei Freud die Hoffnung, wo „Es“ sei, solle „Ich“ werden.
Adornos Fazit – „So wenig die Geister den Traum senden, so wenig ist es das Ich, das träumt“ – bleibt im Modus der „negativen Dialektik“. Nicht zur Lösung wird etwa eine Art Synthese, in welcher die Gegensätze versöhnt sind, oder eine Art Kompromiss, der das Bewusste und das Unbewusste vermitteln möchte. Stark zu machen wäre vielmehr das jeweils andere: Wenn ein zu großes „Ich“ meint, alles tun zu können oder, wenn das nicht gelingt, wenigstens an allem schuld zu sein, bedarf es der Kritik. Doch es gibt auch ein zu kleines „ich“ und man soll bei aller Kritik an einem zu groß geschriebenen Ich, am Wahn des Alles-Könnens und Alles-selbst-Machens, nicht das Kind mit dem Bade, soll heißen: nicht mit dem Verweis auf die „Dialektik der Aufklärung“ die Aufklärung selbst, ausschütten und so einem vorkritischen Obskurantismus oder Fatalismus das Wort reden.
VIII.
Was leistet eine solche negative Dialektik? Ihre Kraft besteht nicht in einer Argumentation, sondern in der Beschreibung der Wirklichkeit. (Alexander García Düttmanns Kommentar zu den Minima Moralia hat darum den Titel „So ist es.“ [Frankfurt a.M. 2004]). Adorno bietet keine normativen Anweisungen dafür, aus dem, was so ist, heraus zu kommen; er benennt kein Sollen. Allerdings liegt nahezu alles an der Unterscheidung zwischen dem Satz „So ist es“ und dem Satz „So ist es nun einmal“. Es ist darum zu tun, die Realität wahrzunehmen, ohne ihr als Totalität zu verfallen.
Die Kraft eines solchen Blickes besteht zudem nicht so sehr in den Antworten auf die Fragen als in den Fragen auf die Antworten. Und sie besteht vor allem im Festhalten am Widerspruch und – ganz praktisch und ganz politisch – am Widersprechen. Aber gerade weil mir dieser Zug der Kritischen Theorie für Arbeit und Leben so wichtig geworden ist wie kaum etwas anderes, will ich die Kritik von Georg Lukács nicht unterschlagen und sie auch nicht mir selbst vom Leib halten.
Lukács nannte die „Frankfurter Schule“ einmal ein „Grand Hotel ‚Abgrund‘“ (so in Lukács’ 1933 verfasstem gleichnamigen Text, abgedruckt in: Frank Benseler [Hg.], Revolutionäres Leben. Georg Lukács. Eine Einführung in Leben und Werk, Darmstadt/ Neuwied, 1984, 179-196). Hat er Recht mit dem Vorwurf, Horkheimer und Adorno lebten als großbürgerliche Intellektuelle in jenem Hotel, von dessen Terrasse aus sie bei einem Aperitif das Elend der Welt betrachteten? Hat er Recht mit dem Urteil, diese Haltung sei unfähig zum „Salto vitale“. Und wie steht es in diesem Zusammenhang mit dem vermutlich meist zitierten Adorno-Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Minima Moralia, GS 4, 43)? Eines scheint mir jedenfalls deutlich: Dass die Gäste des „Grand Hotel ‚Abgrund‘“ mehr Einsicht in die Ökonomie und die Geschichte haben als die Bewohner der Slums, ist die Folge historischen, gesellschaftlichen und politischen Unrechts – und es trifft doch zu.
„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Damit habe ich den Titelsatz des Vortrags erreicht, ohne ihn jetzt interpretieren zu wollen. Ich möchte morgen mit Ihnen gemeinsam einige Texte aus Adornos „Minima Moralia“ lesen und ich schlage vor, dass wir dann mit dem beginnen, in dem jenes Zitat der berühmt gewordene Schluss-Satz ist.
Gershom Scholem reagierte übrigens auf die Übersendung der „Minima Moralia“ so, dass er sie „eines der bemerkenswerten Dokumente der negativen Theologie“ nannte (Adorno Scholem Briefwechsel, Frankfurt a.M. 2015, 83). Adorno antwortete mit der Bemerkung, er habe gegen diese Zuschreibung nichts einzuwenden, wenn sie ebenso esoterisch bleibe wie die Sache selbst (ebd. 84), wehrte sich aber zugleich gegen jede ungebrochene Übersetzung in theologische Kategorien. Dem sollten wir morgen weiter nachgehen, aber jetzt zum Abschluss noch ein Zitat. Es stammt aus einem Interview mit Leo Löwenthal, dem – neben Benjamin – Literaturtheoretiker der „Frankfurter Schule“ (Löwenthal ist, wenn Sie mir auch diese biographische Bemerkung gestatten, der einzige Vertreter der Kritischen Theorie, den ich persönlich erlebt habe). Der Satz bewegt mich immer wieder und immer neu, obwohl oder vielleicht auch weil ich ihn nicht ganz verstehe. Er lautet:
„… wenn wir eine wirklich menschenwürdige Gesellschaft auf der Welt hätten,
würden wir vielleicht zum erstenmal erfahren können, wie schwer es ist, ein Mensch zu sein.“
(Leo Löwenthal im Gespräch mit Matthias Greffrath, in: L. L., Schriften 4, Judaica, Vorträge, Briefe, Frankfurt a.M. 1984, 303)
Im Hintergrund steht hier eine Bemerkung in Kurt Mautz‘ Roman „Der Urfreund“ (Paderborn 1997), in dem der Dozent Amorelli vorkommt – ein deutliches Portrait Adornos. Dort heißt es: „Jeder Satz klang wie: so ist es, und nicht anders.“ (vgl. Stefan Müller-Dohm, Adorno. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 2003, 214f.).