Vortrag in der Bildungsstätte Steinbach/Taunus im Oktober 2015
Fortbildung der IG Bauen-Agrar-Umwelt
Abstract
Ausgehend von einem migrationsgesellschaftlichen Selbstverständnis skizziert der Vortrag Praktiken des Fremdmachens und abwertende Unterscheidungsmuster, die dazu dienen, den Raum der gesellschaftlichen Zugehörigkeiten nationalistisch zu verengen. Weil kulturelle Identitätsbehauptungen gegenwärtig an Popularität gewonnen haben, gibt der Text Einblicke in die Auseinandersetzung mit Kulturrassismus und regt eine kritische Auseinandersetzung mit dessen Erscheinungsformen an.
Durch Migrationen werden die nationalen Ordnungen der Zugehörigkeit in Bewegung gebracht. Die Abwehr dagegen ist gesellschaftlich ausgeprägt, der Wunsch an einem abstammungsorientierten homogenen Konzept von gemeinschaftsbildender Nationalstaatlichkeit festzuhalten, hat sich zumindest in Deutschland nicht erledigt. National-rassistische Denkmuster einerseits und Erfahrungen mit der Aufarbeitung der damit verbundenen Verbrechen andererseits haben Einfluss auf nationale Selbstbilder in der bundesdeutschen Gegenwart. Die antisemitische und rassistische NS-Gemeinschaftsideologie wirkt nach, wenn nationale Herkunft und Verwandtschaft über gesellschaftliche Zugehörigkeit entscheidet, worin das deutsche Abstammungsdispositiv zur Geltung kommt. Damit bezeichne ich die machtvolle Überzeugung, dass Deutsche(r) letztlich nur sein kann, wer einer deutschen Familie entsprungen ist, die keinerlei „fremde“ Wurzeln aufweist und einem bestimmten nordeuropäischen Phänotyp entspricht. In Anlehnung an Deleuze und Foucault (vgl. Deleuze 1991; Foucault 1978) hebt der Begriff des Dispositivs die Einbindung in eine Machtkonstellation hervor und macht auf deren Reproduktion durch eigenes Zutun aufmerksam. Es handelt sich somit nicht um ein repressives Element. Das Abstammungsdispositiv, an dem sich Alltagsrassismus heute immer wieder festmacht, stellt kein Verhängnis dar, sondern wirkt durch den Mangel an Kritik und durch die Nichtthematisierung genetischer nationaler Zugehörigkeitsordnungen. Erst wenn die dominierende Unterscheidung von unhinterfragt Zugehörigen und fremd gemachten Hinzugekommen hinterfragt wird, kann eine „Verschiebung dominanter Zugehörigkeitsordnungen“ (Mecheril 2004, S. 223) in Gang kommen und hat eine „Pädagogik der Mehrfachzugehörigkeit“ (ebd., S. 220) eine Chance, die als politische Pädagogik aufzufassen ist, weil sie konzeptionell die Auseinandersetzung um die Subjekte in der Polis und ihre Rechte provoziert.
Historisch reflektierter Rassismusbegriff
Der Begriff des Rassismus kennzeichnet eine Diskriminierungspraxis und enthält gleichzeitig die Rassekategorie, die er kritisiert, da der Rassismusbegriff immer bereits die ideologische Praxis der rassifizierenden Einordnung anzeigt. Im Begriff der „Rasse“ äußert sich ein Zusammenhang von Wissen und Macht, in dem humanwissenschaftliche Behauptungen über „Menschenrassen“ zur Grundlage von Herrschaftspraktiken werden. Im Rassismus kommt ein komplexes soziales Verhältnis zum Ausdruck, in dessen Entwicklung sowohl biologisierende Begründungen genetischer Unvereinbarkeit wie auch die Zuschreibung kultureller Andersartigkeit ineinander wirken. Der biologistisch argumentierende naturwissenschaftliche Rassismus erlebte in Europa im 19. Jahrhundert seine Blütezeit und kann auf Menschenbilder zurückgreifen, die sich im Kontext kolonialer Herrschaftspraktiken entwickelten. Sie basieren auf den in der europäischen Aufklärung entwickelten Vorstellungen überlegener europäischer Vernunft und Zivilisation. Der europäische Kolonialismus verankerte in den Denkmustern weißer EuropäerInnen Vorstellungen von einer Ungleichwertigkeit der nicht-europäischen kolonisierten Bevölkerungen, die bis in die Gegenwart nachwirken. Im Zentrum des modernen Rassismus sieht Wulf D. Hund die Vernunft, „die als Garant von Fortschritt und Zivilisation galt“ (Hund 2006, S. 25) und macht deutlich, dass die kulturalistischen Muster der Über- und Unterlegenheit dem biologistisch begründeten Rassismus bereits eingeschrieben sind. Zur Popularität des Rassismus trug die „körperliche Visualisierung kultureller Eigenschaften“ bei (ebd.). Dabei kommt der an der Hautfarbe festgemachten Ungleichwertigkeit die Funktion zu, „einem globalen Herrschaftsprogramm den Anschein naturbedingter Notwendigkeit (zu) verleihen“ (ebd.). Der Unterschied dunkler und heller Haut, wurde zu einem „Spektrum kolonialistisch und imperialistisch verwertbarer Differenzen“ entfaltet (ebd., S. 33).
Kulturrassismus
Allzu lange hat sich die pädagogische Diskussion, sofern sie sich überhaupt auf die Tatsache der Migrationen eingelassen hat, auf Diversität und kulturelle Differenz bezogen und die politischen Fragen der rechtlichen Gleichstellung und der Partizipation an den gesellschaftlichen Ressourcen vernachlässigt. Die dem Rassediskurs eigenen Eindeutigkeits- und Überlegenheitsbehauptungen gingen auf den Kulturbegriff über, ohne dass dieser Mechanismus sichtbar werden musste. Für Étienne Balibar ist Kultur der Bereich, „in dem Identität identifiziert wird“ (Balibar 2002, S. 139), wobei die Diskurse um kulturelle und nationale Identität stets aufeinander bezogen sind. „Identität ist niemals eine friedliche Errungenschaft“, sie antwortet auf die Macht des Anderen und geht aus asymmetrischen Verhältnissen hervor (ebd., S. 148).
Was Walter Benjamin für kulturelle Monumente, Dokumente, Kunst- und Bauwerke festgehalten hat, gilt genauso für das kulturelle Identitätsprodukt: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist“ (Benjamin 1974: 696). Benjamin verankert also das, was das Andere der Kultur sein soll – die Barbarei – im Kulturbegriff selbst, und auch der Prozess der Vermittlung kulturellen Wissens transportiert die Gewaltgeschichte der Kultur, eine Geschichte von Überwältigung, Verletzung und Bemächtigung. War das griechische bárbaros eine Bezeichnung für die nicht griechisch sprechenden Völker und diente als Abgrenzung gegenüber denen, die nicht „wir“ sind, wird „Barbrei“ in Benjamins Kulturkritik zu einer immanenten Bezeichnung, die sich auf die eigene Kultur richtet. Wird nun die Kulturkategorie selbst zum Instrument spaltender und ausgrenzender Identifizierungsprozesse, sind es nicht mehr nur die Dokumente der Kultur, die Benjamin in Kunst und Literatur anspricht, sondern der Gebrauch der Kulturmarkierung selbst, der gewaltsam geworden ist.
Zeitgeschichtliche Kontexte des Rassismusthematisierung
Um rassismuskritisch arbeiten zu können, ist es erforderlich, sich mit den kolonialen Herrschaftspraktiken und mit den Nachwirkungen des Kolonialismus in der Gegenwart auseinander zu setzen. Dieser Bezugspunkt ist im deutschsprachigen Raum lange vernachlässigt worden. Das Wissen über Ausmaß, ideologische Begründungen und politische Praktiken des europäischen Kolonialismus kann nicht vorausgesetzt werden. Eine historisch informierte und auf die gegenwärtigen Wirkungen bezogene postkoloniale Bewusstseinsbildung sollte daher in pädagogischen Studiengängen und in der Fortbildung stärker verankert werden. Eine rassismuskritische Bewusstseinsbildung ist als Voraussetzung für eine migrationsgesellschaftliche Professionalisierung zu betrachten und verlangt von den Professionellen in der Pädagogik, sich selbst in einem Verhältnis zu Geschichte und Gegenwart von Rassismus zu verstehen, die eigene Verantwortung, Rassismen entgegen zu treten, wahrzunehmen und Rassismuserfahrungen anzuerkennen.
Der Rassismusbegriff wird in Deutschland immer wieder auf die nationalsozialistische Judenverfolgung fixiert und erscheint als vergangenes Problem. Zugleich begünstigt dies die Nichtbefassung mit den ideologischen Elementen des Antisemitismus, wenn dieser unter dem nationalsozialistischen Staatsrassismus subsumiert wird. Die Vorstellung, man hätte nach der Demokratisierung die rassistischen und antisemitischen Weltbilder überwunden, steht einer Auseinandersetzung mit alltäglichen Rassismusphänomenen und aktuellen Formen von Antisemitismus im Wege und behindert eine Aufarbeitung der zeitgeschichtlichen Bedeutung von kolonialem Rassismus einerseits und der völkischen Gesellschaftsbilder in der nationalsozialistischen Ideologie andererseits (vgl. Messerschmidt 2009). Für letztere war der Antisemitismus ein tragendes volkspädagogisches Instrument. Die rassistische Strukturierung des Antisemitismus im NS diente der Vermittlung des Vernichtungsprogramms. Zum Feindbild trat die Vorstellung einer abstammungsbezogenen Reinheit. Die extreme Gewaltgeschichte, die mit der Umsetzung dieses Programms verbunden gewesen ist, erzeugt bis heute Abwehrreaktionen seitens derer, die sich in einer familiären Beziehung dazu befinden. Die Grausamkeit soll auf Abstand gehalten werden, um das Bild von sich selbst nicht zu beschädigen. Bis heute fällt es besonders schwer anzuerkennen, dass es Rassismus in der deutschen Gesellschaft alltäglich gibt, wenn auch nicht als programmatischen Staatsrassismus, sondern in Form normalisierter institutioneller Routinen, die gesellschaftliche Zugehörigkeiten nach Abstammungskriterien, Aussehen, Sprache und kultureller Zuschreibung ordnen. Der distanzierende Umgang mit dem NS blockiert oftmals eine Reflexion des gegenwärtigen Rassismus in der Demokratie (vgl. Messerschmidt 2010). Umgekehrt verzerrt eine Gleichsetzung gegenwärtiger alltagsrassistischer Praktiken mit dem NS-Rassismus und seiner systematischen Politik der Ausgrenzung und Verfolgung die zeitgeschichtliche Analyse und Kritik der Politik der Volksgemeinschaft.
Die gesellschaftliche und persönliche Beziehung sowohl zur Verbrechensgeschichte des NS wie zu dessen Aufarbeitungsgeschichte betrachte ich als postnationalsozialistische Konstellation. Sie kennzeichnet den kulturellen Kontext, aus dem heraus ich über gegenwärtigen Rassismus spreche. In dieser Konstellation wirken die Muster deutscher Selbstbilder nach, die das Erbe der Ideologie der Volksgemeinschaft ausmachen. Darin wirken sich aber auch die Selbstbilder aus, die durch die Jahrzehnte der sowohl abgewehrten wie intensiv betriebenen Aufarbeitung der NS-Ideologie und ihrer Verfolgungspraktiken entstanden sind. Zu den Nachwirkungen der NS-Ideologie, die neben dem zur Verfügung stehenden Antisemitismus auf die Rassenforschung der Kolonialmächte zurückgreifen konnte, gehört das deutsche Abstammungsdispositiv. Damit bezeichne ich die machtvolle Überzeugung, dass Deutsche(r) letztlich nur sein kann, wer einer deutschen Familie entsprungen ist, die keinerlei „fremde“ Wurzeln aufweist und einem bestimmten nordeuropäischen Phänotyp entspricht.
Entgegen einem dominierenden Distanzierungsbedürfnis geht es darum, die Beziehungen zum Erbe des NS zu betonten und zu bearbeiten. Solange der Nationalsozialismus als ganz und gar entfernt und abgeschlossen aufgefasst wird, bleiben Nachwirkungen ideologischer Muster ausgeblendet, so als gäbe es keine Nachgeschichte und keinerlei Weiterwirken von Überzeugungen. Distanzierung lässt Geschichte erstarren und macht sie handhabbar für die Pflege eines unproblematischen gesellschaftlichen Selbstbildes. Diese Distanznahmen betrachte ich weniger als individuelles Problem, sondern sie sind bedingt in den Selbstbildern einer Demokratie, die sich auch als Antwort auf die Verbrechensgeschichte versteht und sich als das ganz Andere im Gegensatz dazu repräsentiert. Schließlich geben die Verbrechen im NS-Herrschaftskontext immer eine Kontrastfolie für eine Gegenwart ab, die demgegenüber heil, friedlich und gerecht erscheint. Die zeitgeschichtlichen Beziehungen werden erst dann reflexiv bearbeitbar, wenn die Motive des eigenen Engagements gegen Rassismus explizit gemacht werden können. Das ist nicht immer möglich, und es ist auch nicht immer aussprechbar.
Antimuslimischer Rassismus
In den heutigen Ausprägungen kulturalisierter Nationalismen in Europa handelt es sich weniger um manifeste Ideologien oder gesellschaftspolitische Programme, sondern eher um populär gewordene Sichtweisen und damit verbundene Praktiken. Für die aktuellen kulturrassistischen Repräsentationen der Muslime in Europa wird das geschlechterpolitische Muster zu einem Instrument der Popularisierung. Es bewirkt eine breite Abwehr einer als unemanzipiert wahrgenommenen Gruppe, gegenüber der sich die Mehrheitsgesellschaft auf der Seite des Fortschritts sehen kann. Dabei kommt es zu einer Abspaltung der in der Mehrheitsgesellschaft nach wie vor vorhandenen sexuellen Gewalt gegen Frauen und der nach wie vor vorhandenen strukturellen Ungleichheitsverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Auch dient das Sprechen über die Situation der muslimischen Frau der Nichtthematisierung gesamtgesellschaftlicher Emanzipationsdefizite. Die Projektion kann nur funktionieren, wenn die Muslime als gesonderte und fremde Gruppe in der Gesellschaft wahrgenommen werden und nicht als Zugehörige zur bundesrepublikanischen Gesellschaft, die eine Migrationsgesellschaft ist. Letzteres wird allerdings von Teilen der bundesdeutschen BürgerInnen nicht anerkannt, wobei die Abwehr sich insbesondere gegen die muslimische Minderheit richtet. Der Menschenrechtsforscher Heiner Bielefeldt sieht darin ein „antipluralistisches Ressentiment“ (Bielefeldt 2007: 14), eine grundsätzliche Abwehr gesellschaftlicher Pluralität, die sich zunehmend gegen Muslime richtet. Um diese eher unmoderne Haltung zu legitimieren, werden auf diese Gruppe Eigenschaften projiziert, die selbst als unmodern gelten.
In den letzten Jahren hat ein kulturalisierter globaler Diskurs dazu beigetragen, dass die politischen Ursachen von Konflikten vernachlässigt worden sind. Das Aufleben eines antiwestlichen Islamismus ist dadurch als kulturelles Phänomen gedeutet worden, so dass die herrschaftspolitischen Zusammenhänge nicht angemessen beachtet worden sind. Die dynastisch strukturierten diktatorischen Regime auf der arabischen Halbinsel und in Nordafrika wurden von Europa lange als Garanten für wirtschaftspolitische Stabilität angesehen, während ihr Einfluss auf die Islamisierung der Gesellschaften unterschätzt worden ist. Statt dessen waren einzelne terroristische Gruppen im Blick, nicht aber das machtpolitische Problem der Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich in den Aufständen von Tunis, Kairo, Damaskus, Sanaa und anderen Städten der von Europa aus als islamisch, nicht aber als diktatorisch wahrgenommenen Teilen der Welt Bahn gebrochen haben (vgl. Roy 2011). In den neuen Demokratiebewegungen einer jungen Generation, die Olivier Roy als „postislamisch“ kennzeichnet, rücken die verdrängten Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Selbstbestimmung wieder auf die weltpolitische Agenda. Es vollzieht sich eine „Umkehrung der Stereotypen“ (Meddeb/Stora 2011: 23), die auf die sogenannte „islamische Welt“ angewandt worden sind, indem diese als traditionalistisch erstarrt wahrgenommen worden ist, ohne zu sehen, dass es unter der Decke der autoritären Traditionen brodelt. Benjamin Stora regt an, „die Dinge andersherum zu lesen. Im Zentrum des Erfolgs, der Demokratisierung und der Chancengleichheit stehen die Schule sowie die politischen und gesellschaftlichen Freiheiten“ (ebd.: 23). Auf diesem aktuellen Hintergrund gewinnt eine kritische Auseinandersetzung mit dem westlichen Bild vom Islam eine neue Relevanz.
Aktuelle Herausforderungen für eine kritische politische Bildung
Heute erlebt Deutschland wirtschaftliche Stabilität trotz Krisen in der europäischen Nachbarschaft. Die bürgerliche Mitte hat hier immer noch viel zu verlieren, und das zeigt sich an neueren populistisch-rassistischen Artikulationen in der Abwehr verarmter Einwanderergruppen, deren Armut zu einem kulturellen Zeichen wird. Zunehmend prägen ein „Wohlstandschauvinismus“ sowie die öffentliche Diffamierung derer, die einwandern, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, die gesellschaftlichen Thematisierungen von Migration. Eingewanderte und Geflüchtete werden sowohl ökonomisch wie kulturell als Bedrohung dargestellt. In der Kombination von ökonomischer Sorge und kultureller Abgrenzung werden abwertende Stereotype artikuliert. In populistischen Bürgerbewegungen gegen Flüchtlingswohnheime, gegen Moscheebauten und gegen die Einreise von Roma aus Bulgarien, Rumänien und den postjugoslawischen Staaten sind die Muster der Armutsdiffamierung und des antiziganistischen Fremdmachens immer wieder erkennbar (vgl. End 2014).
Die anerkannten bürgerlichen Erwerbsformen gelten als ehrwürdig und anständig, beruhen aber zumindest partiell auf struktureller und direkter Ausbeutung und materieller Ungleichheit. Die eigene normative Besetzung von Arbeit und deren Kombination mit Bildung zu einem Synonym für wertvolles Leben bleibt unhinterfragt, wenn es darum geht, die Zuschreibung des Bettelns als unzutreffend und diffamierend zurück zu weisen, ohne dass eine gesellschaftliche Kontextualisierung und Kritik von Arbeitsnormen und nicht anerkannten Erwerbsformen erfolgt (vgl. Scholz 2009). Die gegenüber Sinti und Roma vorherrschenden Zuschreibungen verweisen in besonderer Weise auf die kapitalisierte Normativität der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Lebensformen. Die Kritik daran sollte sich nicht darin erschöpfen, zu beweisen, dass sie nicht zutreffen und pauschalisierend eingesetzt werden. Eine antiziganismuskritische Kritik sollte weiter gehen und das Nachdenken über Funktionen und Wirkungen der Unterscheidungen von wertvollen und wertlosen Lebensformen anregen. Somit reicht diese Kritik weit in die gesellschaftlichen Wertvorstellungen hinein. Hier eröffnet sich ein Feld des Engagements, das für die Zukunft vermutlich hoch relevant werden wird.
Beobachtbar ist, dass eine populistische Arbeits- und Anständigkeitsideologie gegenüber verarmten Geflüchteten in Stellung gebracht wird. Eine Leerstelle in der Auseinandersetzung mit der NS-Arbeitsideologie und die unzureichend betriebene Aufarbeitung der Zwangsarbeit begünstigen aus meiner Sicht diese Auffassungen und Äußerungen (vgl. Wildt 2014). Das Selbstbild, rechtmäßig zum eigenen Wohlstand gekommen zu sein, stellt alle unter Verdacht, die jetzt einwandern, um mit eigener Arbeit und entsprechenden Sozialabgaben an diesem Wohlstand zu partizipieren. Aufklärende empirische Studien über den realen Beitrag von Eingewanderten zu den Sozialversicherungskassen irritieren diese Haltungen kaum, da Überzeugungen, aus denen Selbstbilder erwachsen sind, den Tatsachen überlegen bleiben. Mit diesen Berechnungen zu argumentieren, bleibt zudem ambivalent, weil damit das Nützlichkeitsdenken bestätigt wird. Aufklärende Bildungsarbeit erreicht nach meinen Erfahrungen ohnehin nur diejenigen, die nicht derartig abwehrenden Überzeugungen anhängen, sondern die offen sind für die Komplexität der sozialen Verhältnisse und die in dieser Komplexität nach Orientierungen suchen. Sich auf diese ansprechbaren Teile der Öffentlichkeit zu konzentrieren, schont die eigenen Kräfte und stärkt die Gegenkräfte gegen dominante Auffassungen.
Literatur
Balibar, Étienne (2002): Kultur und Identität (Arbeitsnotizen). In: Demirovic, Alex/Bojadzijev, Manuela (Hg.): Konjunkturen des Rassismus. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 136-156.
Benjamin, Walter (1974): Über den Begriff der Geschichte. In: Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann (Hg.): Benjamin, Walter.: Gesammelte Schriften (GS) Band 1.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 693-704.
Bielefeldt, Heiner (2007): Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld.
Deleuze, Gilles (1991): Was ist ein Dispositiv? in: Francois Ewald/Bernhard Waldenfels (Hg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt/M., S. 153-162.
End, Markus (2014): Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation, im Auftrag des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg
Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin.
Hund, Wulf D. (2006): Negative Vergesellschaftung. Dimensionen der Rassismusanalyse, Münster.
Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim.
Meddeb, Abdelwahab/Stora, Benjamin (2011): Arabisches Erwachen. Die Wiederaneignung des eigenen Schicksals und eine sich öffnende Welt, in: lettre international, Heft 92, Frühjahr 2011, S. 23-27.
Messerschmidt, Astrid (2009): Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Kontext von Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt/M.
Messerschmidt, Astrid (2010): Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus, in: Anne Broden/Paul Mecheril (Hg.): Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisie-rung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft, Bielefeld, S. 41-57.
Roy, Olivier (2011): Postislamistische Zeiten. Säkulare Revolte – Das Ende des arabisch-muslimischen Exzeptionalismus, in: lettre international, Heft 92, Frühjahr 2011, S. 28-29.
Scholz, Roswitha (2009): Antiziganismus und Ausnahmezustand. Der „Zigeuner“ in der Arbeitsgesellschaft, in: End, End/Herold, Kathrin/Robel, Yvonne (Hg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments, Münster, S. 24-40.
Wildt, Michael (2014): „Arbeit“ im Nationalsozialismus. Zur Bedeutung des Begriffs in Ideologie und Praxis des NS-Staats, in: Einsicht 12: Bulletin des Fritz-Bauer-Instituts, 6. Jg., Oktober 2014, S. 14-19.