Vortrag beim Festakt zum fünfzigjährigen Bestehen der Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau am 26. November 2014 in Darmstadt.
Original erschienen bei der Werkstatt Kritische Bildungstheorie (http://www.werkstatt-kritische-bildungstheorie.de/index_htm_files/Messerschmidt_Weltoffene%20Bildung.pdf).
Einleitung
1964, als die Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau gegründet worden ist, kann als ein Jahr wirtschaftlicher Stabilität in der Bundesrepublik angesehen werden. Ein steigendes Bruttosozialprodukt, Reallohnzuwächse sowie Vollbeschäftigung waren zu verzeichnen – genügend Gründe also, um sich zufrieden in die Wohnzimmer zurück zu ziehen. Doch gleichzeitig bot die gesellschaftliche und kulturelle Situation Anlässe, Fragen zu stellen, die das Potenzial hatten, alles in Frage zu stellen, was bisher zum Selbstbild der Anständigkeit gehört hatte. Aus Justiz, Literatur und Theater kamen Anstöße zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Der erste Auschwitz-Prozess hatte begonnen, dem bis 1968 zwei weitere vor dem Landgericht Frankfurt am Main folgen sollten.[1] Als Prozessbeobachter arbeitete Peter Weiss an seinem Dokumentartheaterstück „Die Ermittlung“, das 1965 im Rahmen einer Ringuraufführung an fünfzehn west- und ostdeutschen Theatern sowie in London uraufgeführt wurde. Was im Nachhinein wie die Initialzündung einer umfassenden Aufarbeitung wirken mag, war jedoch von Diskontinuitäten, Ignoranz und Verweigerung durchsetzt. Zugleich handelte es sich nicht um einen Anfang, denn längst waren Überlebende der Konzentrationslager für die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen eingetreten, ohne allerdings in der Breite der bundesdeutschen Bevölkerung auf angemessene Resonanz zu stoßen. Es dauerte bis in die 1980er Jahre und benötigte viel Engagement gegen die Schlussstrichbedürfnisse, bis die Relevanz der Wissensvermittlung über die NS-Verbrechen und der Bewusstseinsbildung über deren Bedingungen und Wirkungen bildungspolitisch so verankert worden ist, dass sie zu einem Bestandteil allgemeiner Bildung in den Schulen der Bundesrepublik wurde.[2] In der Erwachsenenbildung steht die Auseinandersetzung mit der Geschichte und Wirkung des Nationalsozialismus für ein thematisches Feld, auf dem historisches Wissen mit biografischen Bezugnahmen vermittelt wird.[3] Bis heute ist dieses Feld zentral für die gesellschaftliche Selbstverständigung, wobei sich die Art und Weise der zeitgeschichtlichen Beziehungen im Generationenwechsel und durch die Umbrüche in Europa nach 1990 diversifiziert hat. Die Bildungsarbeit im Kontext von Geschichtsbewusstsein und Gedenken ist internationaler geworden. In der Erwachsenenbildung wird diese Arbeit bis heute marginalisiert. Ein „Jugendmythos“ umgibt die Thematik,[4] so als handele es sich um einen Gegenstand, über den zwar Jugendliche aufzuklären, mit dem Erwachsene aber bereits fertig geworden seien. Umso bedeutender sind erwachsenenbildnerische Projekte für ein zeitgeschichtliches Bewusstsein, wie sie insbesondere in der evangelischen Erwachsenenbildung konzipiert und durchgeführt worden sind.[5] Angesichts der funktionalisierenden und formalisierenden Trends im Feld der Erwachsenenbildung, die sich zunehmend als Weiterbildung legitimieren muss, sind die Bedingungen dafür noch schwieriger geworden.
[1] Vgl. Irmtrud Wojak (2010): Fritz Bauer, der Auschwitz-Prozess und die deutsche Gesellschaft, in: Joachim Perels (Hg.): Auschwitz in der deutschen Geschichte, Hannover, S. 141-167.
[2] Vgl. Klaus Himmelstein/Wolfgang Keim (Hg.) (1996): Die Schärfung des Blicks. Pädagogik nach dem Holocaust, Frankfurt/M./New York.
[3] Vgl. Paul Ciupke/Norbert Reichling (1996): „Unbewältigte Vergangenheit“ als Bildungsangebot. Das Thema Nationalsozialismus in der westdeutschen Erwachsenenbildung 1946-1989, Frankfurt/M.
[4] Norbert Reichling (1998): Vom antifaschistischen Pathos zur „normalen“ Bildungsarbeit? Probleme und Perspektiven für die historisch-politische Erwachsenenbildung. In: Heidi Behrens-Cobet (Hg.): Bilden und Gedenken. Erwachsenenbildung in Gedenkstätten und an Gedächtnisorten. Essen, 223-238, hier: S. 235.
[5] Vgl. Fred Dorn/Klaus Heuer (Hg.) (1991): „Ich war immer gut zu meiner Russin“. Zur Struktur und Praxis des Zwangsarbeitersystems im Zweiten Weltkrieg am Beispiel der Region Südhessen, Pfaffenweiler.
Zwischen Etablierung und Kritik
Die gesellschaftliche Situation um 1964 bot zwischen Selbstbestätigung und Beunruhigung einen Raum, in dem sich Erwachsenenbildung institutionalisieren konnte. Der wachsende Wohlstand breiterer Bevölkerungsteile förderte die bürgerliche Etablierung, die Freiräume des Nachdenkens und des Wissenserwerbs bereit stellte. Die Frage nach der Vorgeschichte und den Bedingungen dieses Wohlstands eröffnete ein großes Feld für gesellschaftliche Debatten, die es zu organisieren und zu moderieren galt. Die Ambivalenz von Etablierung und Kritik bildet ein Bedingungsgefüge für die Institutionalisierung der Erwachsenenbildung und kennzeichnet die zeitgeschichtliche Situation um 1964. Eine breite Institutionalisierung von Erwachsenenbildung benötigt ein gewisses Maß an bürgerlicher Etablierung, durch die es für eine nennenswerte Anzahl an Erwachsenen erst möglich wird, sich mit Fragen zu beschäftigen, die über produktive und reproduktive Arbeit hinaus reichen. Doch etablierte gesellschaftliche Zustände schaffen noch keinen Bedarf an einer allgemeinen, nicht berufsbezogenen Erwachsenenbildung. Motive für Kritik, Impulse zu Beunruhigung, Irritationen über die Beschaffenheit von Gesellschaft und Kultur müssen dazu kommen. Angebote der Erwachsenenbildung, wie sie im Raum der evangelischen Kirchen seit den 1960er Jahren organisiert worden sind, wenden sich an diejenigen, die sich mit den kulturellen Gegebenheiten und den gesellschaftlich dominierenden Selbstbildern nicht fraglos identifizieren können, die etwas daran beunruhigt und die diese Beunruhigung einordnen wollen.
Der vorherrschenden Weiterbildungsvorstellung liegt ein linearer Fortschrittsbegriff zugrunde, so als würde sich die Gesellschaft immer weiter zum Besseren entwickeln und dies eben durch Weiterbildung befördern. Ein kritisches Bildungsverständnis reflektiert demgegenüber die Diskontinuitäten der Geschichte, ihre innere Dialektik. Dafür lohnt es sich, den Begriff der Erwachsenenbildung gegen die Vereinnahmungen durch Weiterbildung zu verteidigen und für eine kritische Perspektive in Bildungstheorie und Bildungsgestaltung einzutreten. Er rekurriert auf erwachsene Subjekte, die eine Bildungssozialisation durchlaufen haben, und er steht für eine anspruchsvolle Inhaltlichkeit.
Bildungslagen
Im Jahr 1964 sprach Georg Picht von der „Bildungskatastrophe“ und formulierte damit eine bildungspolitische Sorge angesichts sinkender Ausgaben für Schulen und Hochschulen.[1] Die Quote der bundesdeutschen Schüler_innen, die einen Realschulabschluss erreichten, betrug damals etwa 25%. Picht vermutete für 1970 eine Abiturientenquote von nur 8%. Heute beträgt diese in Hessen 26,9% und bundesweit 33,9.[2] Man könnte also von einer Bildungsexpansion sprechen, doch es ergibt sich ein disparates Bild, wenn berücksichtigt wird, dass der Anteil der Schüler_innen mit „besonderem Förderbedarf“ sich seit 2010 auf 29% verdoppelt hat und dass die Schülerzahlen an Privatschulen sich seit 1998 um 26% erhöhten. Zwischen Förder- und Privatschulexpansion wird die wachsende soziale Ungleichheit sichtbar, die auch Picht bereits vor fünfzig Jahren beschäftigt hat, der die zu frühe Einordnung der Schüler_innen in Leistungsgruppen und die damit einher gehende soziale Positionierung beklagte. Der in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich sehr enge Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulerfolg setzt sich auch im tertiären Bildungssektor fort, wird dort aber weniger diskutiert. Da die Erwachsenen- und Weiterbildung vorwiegend diejenigen erreicht, die bereits einen breiten Bildungshintergrund mitbringen, wird mittlerweile von einer „doppelten Selektivität“ gesprochen. „Weiterbildung erreicht nur einen Teil der potentiellen Adressaten und dann nur die eher privilegierten. Das gibt Anlass zur Sorge um eine wachsende Polarisierung zwischen denen, die lebenslang Anforderungen und Möglichkeiten zum Lernen annehmen und nutzen, und denen, die am Rande dieser neuen ‚Lerngesellschaft’ zurückbleiben“.[3] Nach wie vor gibt es nur wenige Ansätze, die Zielgruppen jenseits der bildungsbürgerlichen sozialen Milieus erreichen und geeignet sind, zu mehr Gleichheit durch Weiterbildung beizutragen.
Die Erwachsenenbildung ist seit den 1990er Jahren immer mehr auf berufsbezogene Weiterbildung verengt worden, der Raum für nicht berufliche, allgemeine politische und kulturelle Erwachsenenbildung ist enger geworden, wenn auch diese Verengung durch den demografischen Faktor etwas relativiert wird. Denn schließlich geht eine wachsende Zahl derjenigen in Rente, denen es noch möglich gewesen ist, während ihres Berufslebens ein Vermögen aufzubauen und dadurch eine relativ entspannte Existenz im Alter führen zu können, die ihnen eben auch ermöglicht, sich kulturell und politisch weiter zu bilden und dafür eben Angebote der Erwachsenenbildung zu nutzen. Doch damit öffnet sich die soziale Schere der Zugänge zu Erwachsenenbildungsangeboten weiter, wenn nur diejenigen diese wahrnehmen können, die ökonomisch ausgesorgt haben. Die soziale Ähnlichkeit der Teilnehmenden verengt den Raum der Begegnungen. Erwachsene, die auch im Alter einer Lohnarbeit nachgehen, um eine unzureichende Rente aufzubessern, bleiben unsichtbar in diesem Raum. Es setzt sich damit etwas fort, was im schulischen Kontext in der Forschung zur sozialen Verarmung der Lebenswelten von Hauptschüler_innen erforscht wird[4] – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Doch wenn Etablierte in Bildungsinstitutionen nur noch auf Etablierte treffen, wird dies kaum als Problem erachtet, obwohl gerade dies in einer Gesellschaft, deren Pluralität mit Ungleichheit vermittelt ist, zu Fehlwahrnehmungen führt.
[1] Georg Picht (1964): Die deutsche Bildungskatastrophe. Olten/Freiburg i. Brsg.
[2] Vgl. Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, Bielefeld.
[3] Peter Faulstich (2001): Weiterbildung: Doppelte Selektivität statt Chancengleichheit, in: EWI-Report, Heft 24/2001, S. 22-23, hier: S. 22.
[4] Vgl. Heike Solga/Sandra Wagner (2004): Die Zurückgelassenen – die soziale Verarmung der Lernumwelt von Hauptschülerinnen und Hauptschülern, in: Rolf Becker/Wolfgang Lauterbach (Hg.): Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungerechtigkeit, Wiesbaden, S. 195-224.
Bildungsstrukturen im Kontext von Arbeitsmigration
In einer Gesellschaft, die zunehmend durch Prozesse der Ein- und Auswanderung geprägt wird, ist sozial-ökonomische Ungleichheit vermittelt mit den Lebenslagen, die durch Arbeitsmigration entstanden sind. Die Geschichte der Arbeitsmigrationen in und nach Deutschland beginnt nicht erst 1955 mit den Anwerbeabkommen, wird aber von da an zu einer Geschichte gewollter und abgewehrter Arbeitsmigration. D.h. es sollten Arbeiter_innen kommen und wieder zurück kehren. Beide Elemente – die soziale Struktur der Migrant_innen als Industrie-Arbeiter_innen und die Rückkehroption – prägen das gesellschaftliche Verhältnis zur Einwanderung. Die da gekommen sind, sind in der Mehrheit nicht bildungsbürgerlich ausgerichtet und erscheinen deshalb als defizitär. Ihre Zugehörigkeit zu einer Arbeiterschicht wird aber wenig berücksichtigt, sondern überlagert von kulturellen Wahrnehmungen, die sie fremd erscheinen lassen. Arbeitermigrantenmilieus werden zu kulturellen Identitäten umgedeutet.
Aufgrund der politisch verankerten Rückkehroption wird jahrzehntelang keine Integration von den sogenannten und sich auch selbst so verstehenden Gastarbeiter_innen erwartet. Integrationsangebote werden kaum gemacht. Erst in den 2000er Jahren wird Integration zunehmend in der Öffentlichkeit als Bringschuld der Migrant_innen thematisiert. Im Vordergrund steht dabei das Beherrschen der deutschen Sprache bei gleichzeitiger Missachtung von Mehrsprachigkeit.[1] Kultur und Sprache sind zu bevorzugten Aufhängern für die Markierung von Nichtzugehörigkeit und Desintegration geworden.
Die Probleme des bundesdeutschen Bildungssystems im Umgang mit Migration lassen sich insbesondere an einer strukturellen Schlechterstellung von Migrant_innen im Schulwesen ablesen. Indikatoren dafür sind die Überrepräsentation von migrantischen Schüler_innen an Haupt- und Sonderschulen und deren Unterrepräsentation an Gymnasien.[2] Schule trägt in ihrer Organisation dazu bei, das Schema von ‚Anderen’ und ‚Nicht-Anderen’, von Deutschen und Einwanderern sozial wirksam werden zu lassen, indem migrantische Schüler_innen an Orten positioniert werden, die kaum Bildungsaufstieg ermöglichen. Gleichzeitig liegt aber der Schule der programmatische Gedanke demokratischer Beteiligung und das Konzept gleicher Bildungschancen für alle zugrunde. Schule möchte von ihrem Selbstverständnis her Gleichheit fördern und trägt aufgrund ihrer institutionellen Verfasstheit zur Vertiefung von Ungleichheit bei. Diese Spannung muss innerhalb des Schulsystems eine chronische Beunruhigung erzeugen. Migration ist ein zentraler Ausgangspunkt für diese Beunruhigung. Sie wird zum Problem für ein Bildungssystem, das Heterogenität als Bedrohung auffasst und möglichst reduzieren will, indem es Mechanismen des Aussortierens entwickelt, so dass die Begegnung mit Verschiedenheit möglichst vermieden wird. Dem steht die Aufgabe des Bildungssystems gegenüber, für eine Entwicklung zu sorgen, die Lernende auf einen Weg bringt, der ihnen neue Perspektiven eröffnet, also einen Bildungsprozess zu ermöglichen. Alle Beteiligten an diesem Bildungssystem geraten damit in eine Spannung zwischen ihrem Anspruch, alle Schüler_innen zu fördern, und der institutionellen Praxis der Ungleichheit. Diese Spannung wahrzunehmen und reflektieren zu können, betrachte ich als einen wichtigen Ansatzpunkt für die pädagogische Ausbildung im Studium und für die Fortbildung von Lehrkräften. Die Ambivalenz der Schule bietet insofern eine Chance, sich damit auseinander zu setzen, wie Pädagog_innen selbst mit dieser Zwiespältigkeit umgehen, wenn sie in diesem System professionell handeln möchten.
[1] Annita Kalpaka (2006): „Hier wird Deutsch gesprochen“ – Unterschiede, die einen Unterschied machen, in: Gabi Elverich/Annita Kalpaka/Karin Reindlmeier (Hg.): Spurensicherung. Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt/M./London, S. 263-297.
[2] Vgl. Paul Mecheril (2004): Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim, S. 134.
Erwachsenen- und Weiterbildung in der Migrationsgesellschaft
Erwachsenen- und Weiterbildung bieten potenziell die Möglichkeit, Migration und „Heterogenität als Normalfall“[1] für pädagogisches Handeln anzuerkennen. Doch der Normalfall Migration trifft auf die Macht der Nationalität, die nach wie vor das einflussreichste Kriterium für die Zuteilung von Rechten geblieben ist. Demgegenüber dient der Begriff der Migrationsgesellschaft als Konzept, mit dem ein „dritter Raum“[2] neben den dualistischen Identifikationen von Einheimischen und Ausländer_innen artikulierbar wird. Doch der Begriff der Migration ist selbst zu einer Eigenschaft von zu Gruppen gemachten Gruppen erklärt worden. Insbesondere im schulpädagogischen Kontext werden mit Migration Eigenschaften von Schüler_innen, Familien und Eltern verbunden, ein Signalwort für potenzielle Unterrichtsprobleme ist entstanden. Aus dem faktischen Alltagsphänomen ist ein diskursives Phänomen von Thematisierungen geworden. Darin taucht immer wieder die unausgesprochene Frage auf: „Wer ist Wir“? wie ein Buchtitel von Navid Kermani (2009) lautet.[3] Zwischen Öffnung und Abwehr trifft diese Frage auf ein Bildungsverständnis, in dem die Imago nationaler und europäischer Identität immer noch zur Selbstvergewisserung eingesetzt wird.
Die Erwachsenenbildung hat angesichts der bisher kaum breiter erfolgten Thematisierung von Migration die Chance, hier anders anzusetzen und die Fehler der nationalpädagogischen schulischen Bildungsforschung und Bildungspraxis nicht zu wiederholen. Nur wenige thematisieren überhaupt den Kontext der Migrationsgesellschaft als relevanten gesellschaftlichen Rahmen für die Organisation und Gestaltung von Erwachsenen- und Weiterbildung. Konzeptionell geht es in einer migrationsgesellschaftlichen Perspektive auf institutionalisierte Bildung um die Kritik und Analyse der Bedingungen von Zugehörigkeit, Partizipation und Anderssein. Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft haben aufzuarbeiten, wie das Andersmachen und Fremdmachen erfolgen und welche Wirkungen das für ungleich positionierte und zu Gruppen gemachte Gruppen in der Gesellschaft hat. Dabei ist der Prozess der Aufarbeitung unabschließbar, denn er meint auch, sich von selbstverständlich gewordenen Sichtweisen zu verabschieden und ein etabliertes Wissen über Andere zu „verlernen“.[4]
Für den Zusammenhang der beruflichen Weiterbildung spielt die Nicht-Anerkennung von Bildungsabschlüssen eine wichtige Rolle bei der Dequalifizierung von Migrant_innen. In der Weiterbildungsforschung ergibt sich ein Bild, das zum einen institutionelle Barrieren deutlich macht und zum anderen ein Ansteigen der Bildungspartizipation von Migrant_innen aufzeigt, bei gleichzeitig geringem Migrant_innenanteil im Weiterbildungspersonal. Eine interkulturelle Öffnung steht an vielen Orten organisierter Erwachsenen- und Weiterbildung noch aus. Auf dem Hintergrund hoher Bildungsaspiration von Eingewanderten plädiert Annette Sprung für eine doppelte Perspektive, die geeignet ist, sowohl die Subjekte in ihrer Handlungsfähigkeit wahrzunehmen, als auch Ausgrenzungspraktiken zu erkennen und zu untersuchen.[5] Die arbeitsmarktpolitische Diskriminierung erfolgt in hohem Maß dadurch, dass Migrant_innen auf dequalifizierende Tätigkeitsfelder festgelegt werden. Dazu tragen arbeitsmarktpolitische Strategien bei, die der Vermittlung in Arbeitsverhältnisse mehr Wert beimessen, als der qualifikationsadäquaten Beschäftigung. Es kommt zu einer Reproduktion sozialer und kulturalisierter Ungleichheit. Denn im Kontext von Migration werden sozialstrukturelle Faktoren und ökonomische Verhältnisse zu kulturellen Problemen umgedeutet.
Kultur ist zu einem bevorzugten Fremdmacher geworden und wird als Identitätskategorie dazu benutzt, Abgrenzungen zu verfestigen. Der pädagogische Diskurs zu Migration hat Anteil an fremd machenden Unterscheidungen. Sein eigener Fortschritt ist zugleich seine Sackgasse. Die erziehungswissenschaftlich vollzogene begriffliche und konzeptionelle Entwicklung von der Ausländerpädagogik zur interkulturellen Pädagogik hat in den Praxisfeldern das Selbstbild eigener Fortschrittlichkeit erzeugt. Dem steht eine breite erziehungswissenschaftliche Kritik der Kulturalisierungen in der interkulturellen Pädagogik gegenüber (vgl. Kiesel 1996; Höhne 2001). Dieser Diskurs greift einen zentralen bildungstheoretischen Topos an, nämlich das Wissen. Das „Wissen über Kulturen“, wie es in zahlreichen Angeboten zur interkulturellen Kompetenz versprochen wird, bietet einen machtvollen Zugriff auf diejenigen an, die als anders gelten. Durch Kulturalisierungen, die immer noch nationalkulturell erfolgen – trotz aller Ansätze zu Transkultur (Welsch 1995) und Hyperkultur (Han 2005) – wird Fremdheit identifiziert, um sie beherrschen zu können. Ein wissensskeptisches Verständnis des Interkulturellen als Chiffre für die „Undurchschaubarkeit und die Nichtvorhersagbarkeit von kommunikativen Situationen“ und für die „Grenzen des Berechenbaren, Planbaren und Erwirkbaren“, wie es Paul Mecheril formuliert, [6] prallt auf das pädagogisch machtvolle Versprechen, durch das Wissen über Andere, die zuvor zu Fremden gemacht worden sind, deren Verfügbarkeit sicher zu stellen und selbst nicht allzu sehr verunsichert zu werden. Es ist das Selbstbild der Souveränität in pädagogischen Professionen, das das ignorante Festhalten an überholten Vorstellungen vom „interkulturellen Lernen“ ermöglicht. Das Label „interkulturell“ kommt dabei als ein Versprechen gleichberechtigter Kommunikation daher und verdrängt Machtungleichheiten, noch bevor diese überhaupt angesprochen werden könnten.
Auch nachdem sie in dieser Gesellschaft sozialisiert sind, werden Personen, deren familiärer Hintergrund mit einer Migrationsgeschichte verbunden ist, mit der Unterstellung kultureller Fremdheit konfrontiert und damit immer wieder auf die Herkunft ihrer Vorfahren verwiesen. Es bedarf deshalb einer kulturalisierungskritischen Auseinandersetzung mit den Wirkungen des interkulturellen Paradigmas.[7] Der Kulturalismus der interkulturellen Pädagogik[8] hat mit dazu beigetragen, Alltagsrassismus in der Gegenwart unsichtbar zu machen, ihn sogar für überwunden halten zu können und sich doch der im rassistischen Diskurs herausgebildeten Vorstellungen von den Identitäten anderer zu bedienen. Die „Pädagogik der Mehrfachzugehörigkeiten“ und die Perspektive auf Postmigration betrachte ich als alternative Ansätze für eine zeitgemäße migrationsgesellschaftliche Bildungsarbeit. Paul Mecheril entwickelt mit dem Ansatz der „natio-ethno-kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten“ eine rassismuskritische Perspektive für die Erziehungswissenschaft. Erol Yildiz beschreibt mit der postmigrantischen Generation eine urbane Alltagspraxis, die abstammungslogische Sortierungen unterläuft und in der beansprucht wird, auf vielfältige Weise dazu zu gehören, ohne jede Differenz abstreifen zu müssen.[9] Die Anerkennung von Postmigration als gesellschaftlicher Tatsache, in der neue und alte Zugehörigkeiten verbunden sind, ohne vertraut sein zu müssen, beruht auf einem gehörigen Maß an Urbanität.[10] Für die evangelische Erwachsenenbildung ist diese städtische Orientierung von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Der Anregungsraum der Städte mit ihren Möglichkeiten für Anonymität und temporäre Begegnungen hat dazu beigetragen, eine Vielzahl erwachsenenbildnerischer Veranstaltungsformate zu entwickeln, die das Feld kultureller Bildung erwachsenengemäß modernisiert haben.[11] Im Kontext städtischen Alltagslebens wird die Gleichzeitigkeit prekärer und etablierter Existenzen erfahrbar. Erwachsenenbildung ist darin gefragt, die Ambivalenz von Pluralität und Ungleichheit zu thematisieren.
[1] Annita Kalpaka (2006): Heterogenität als der Normalfall. In: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in Nordrhein Westfalen (IDA) Hg.: Impulse: Bildungsmaterialien aus dem Aktionsprogramm ‚Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus’, Düsseldorf, S. 56-57.
[2] Homi K. Bhabha (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen.
[3] Navid Kermani (2009): Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime, München.
[4] María do Mar Castro Varela (2002): Interkulturelle Kompetenz – ein Diskurs in der Krise, in: Georg Auernheimer (Hg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität, Opladen, S. 35-48, hier: S. 46.
[5] Vgl. Annette Sprung (2011): Zwischen Diskriminierung und Anerkennung. Weiterbildung in der Migrationsgesellschaft, Münster.
[6] Paul Mecheril (2004): Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim, S. 131.
[7] Astrid Messerschmidt (2014): Weder fremd noch integriert – kulturalisierungskritische Bildung im Kontext von Migration und Globalisierung. In: Florian von Rosenberg, Alexander Geimer, Hg.: Bildung unter Bedingungen kultureller Pluralität, Wiesbaden, S. 109-123.
[8] Bereits 1996 hat Doron Kiesel diese Kritik breit entfaltet. Vgl. Doron Kiesel (1996): Das Dilemma der Differenz. Zur Kritik des Kulturalismus in der interkulturellen Pädagogik, Frankfurt/M.
[9] Paul Mecheril (2010): Anerkennung und Befragung von Zugehörigkeitsverhältnissen. Umriss einer migrationspädagogischen Orientierung, in: ders. et al: Migrationspädagogik, Weinheim, S. 179-191. Erol Yıldız (2010): Die Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe, http://www.uni-klu.ac.at/frieden/downloads/yildiz-artikel-postmigrantisch.pdf . Zugriff: 03. Januar 2015.
[10] Vgl. Erol Yıldız (2013): Die weltoffene Stadt. Wie Migration Globalisierung zum globalen Alltag macht, Bielefeld.
[11] Vgl. Gerald Hintze (1993): NachtStadtTag. Ein Nachtprogramm der Evangelischen Erwachsenenbildung Frankfurt am Main, in: Medien praktisch, Heft 17/1993, S. 23-27.
Beobachtungen in der realdemokratischen Gegenwart
Heute erlebt Deutschland wirtschaftliche Stabilität trotz Krisen in der europäischen Nachbarschaft. Die bürgerliche Mitte hat hier immer noch viel zu verlieren, und das zeigt sich an neueren populistisch-rassistischen Artikulationen in der Abwehr verarmter Einwanderergruppen, deren Armut zu einem kulturellen Zeichen wird. Zunehmend prägen ein „Wohlstandschauvinismus“ sowie die öffentliche Diffamierung derer, die einwandern, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, die gesellschaftlichen Thematisierungen von Migration. Eingewanderte und Geflüchtete werden sowohl ökonomisch wie kulturell als Bedrohung dargestellt. In der Kombination von ökonomischer Sorge und kultureller Abgrenzung werden abwertende Stereotype artikuliert. In populistischen Bürgerbewegungen gegen Flüchtlingswohnheime, gegen Moscheebauten und gegen die Einreise von Roma aus Bulgarien, Rumänien und den postjugoslawischen Staaten sind die Muster der Armutsdiffamierung und des antiziganistischen Fremdmachens immer wieder erkennbar.[1]
Die anerkannten bürgerlichen Erwerbsformen gelten als ehrwürdig und anständig, beruhen aber zumindest partiell auf struktureller und direkter Ausbeutung und materieller Ungleichheit. Die eigene normative Besetzung von Arbeit und deren Kombination mit Bildung zu einem Synonym für wertvolles Leben bleibt unhinterfragt, wenn es darum geht, die Zuschreibung des Bettelns als unzutreffend und diffamierend zurück zu weisen, ohne dass eine gesellschaftliche Kontextualisierung und Kritik von Arbeitsnormen und nicht anerkannten Erwerbsformen erfolgt.[2] Die gegenüber Sinti und Roma vorherrschenden Zuschreibungen verweisen in besonderer Weise auf die kapitalisierte Normativität der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Lebensformen. Die Kritik daran sollte sich nicht darin erschöpfen, zu beweisen, dass sie nicht zutreffen und pauschalisierend eingesetzt werden. Eine antiziganismuskritische Kritik sollte weiter gehen und das Nachdenken über Funktionen und Wirkungen der Unterscheidungen von wertvollen und wertlosen Lebensformen anregen. Somit reicht diese Kritik weit in die gesellschaftlichen Wertvorstellungen hinein. Hier eröffnet sich ein Feld des Engagements, das für die Zukunft vermutlich hoch relevant werden wird. Beobachtbar ist, dass eine populistische Arbeits- und Anständigkeitsideologie gegenüber verarmten Geflüchteten in Stellung gebracht wird. Eine Leerstelle in der Auseinandersetzung mit der NS-Arbeitsideologie und die unzureichend betriebene Aufarbeitung der Zwangsarbeit begünstigen aus meiner Sicht diese Auffassungen und Äußerungen.[3] Das Selbstbild, rechtmäßig zum eigenen Wohlstand gekommen zu sein, stellt alle unter Verdacht, die jetzt einwandern, um mit eigener Arbeit und entsprechenden Sozialabgaben an diesem Wohlstand zu partizipieren. Aufklärende empirische Studien über den realen Beitrag von Eingewanderten zu den Sozialversicherungskassen irritieren diese Haltungen kaum, da Überzeugungen, aus denen Selbstbilder erwachsen sind, den Tatsachen überlegen bleiben.[4] Mit diesen Berechnungen zu argumentieren, bleibt zudem ambivalent, weil damit das Nützlichkeitsdenken bestätigt wird. Aufklärende Bildungsarbeit erreicht nach meiner Erfahrungen ohnehin nur diejenigen, die nicht derartig abwehrenden Überzeugungen anhängen, sondern die offen sind für die Komplexität der sozialen Verhältnisse und die in dieser Komplexität nach Orientierungen suchen.
In den letzten zehn Jahren sind insbesondere Migrant_innen, die einer Herkunft aus muslimisch geprägten Gesellschaften zugeordnet werden, als religiös konstituierte Gruppe wahrgenommen worden. Der Kategorie der Religion, die im Kontext bundesdeutscher Arbeitsmigration bis 2001 weitgehend unbedeutend gewesen ist, wurde dabei identitätskonstitutive Bedeutung zugewiesen. Sie avancierte zum „identitäre[n] Schicksal“ bestimmter Subjekte.[5] Dabei ist es zu einer Islamisierung in der Wahrnehmung der Arbeitsmigration gekommen, während den Nachkommen der Arbeitsmigrant_innen zugleich vorgeworfen wird, sich selbst allzu religiös, d.h. allzu islamisch zu geben. In dieser paradoxen Adressierung wird das Label „islamisch“ identifiziert mit islamistisch/djihadistisch/salafistisch. Alles Islamische erscheint zwingend extremistisch und gefährlich. Zur Professionalisierung von Pädagog_innen sollte gehören, Unterscheidungen in dieses Begriffswirrwarr einzubringen. Die Rede vom Islamismus als Bezeichnung für fundamentalistische Religionsausübung und terroristische Aktion hat sich als ungeeignet erwiesen, da sie eine ganze Weltreligion diffamiert. Die Kategorie der Arbeit, die im Fokus der Nachkriegsmigration gewesen ist, verschwindet hinter der Religionsthematisierung, die eine Ausprägung von Kulturalisierung darstellt. Über Arbeitsverhältnisse, Märkte und Lebensbedingungen muss unter der Prämisse der Religionsproblematisierung nicht mehr gesprochen werden. Die religionsbezogene Thematisierung von Migration hat zur Hervorbringung „eines ‚nicht-muslimischen‘ Wir-Narrativs“[6] geführt und die binäre Ordnung von national-kulturell Zugehörigen und Fremden verfestigt. Eine migrationsgesellschaftlich inspirierte Kritik richtet sowohl gegen das verachtende Sprechen über Muslime und die damit verbundenen Diskriminierungspraktiken, wie auch gegen die politische Vereindeutigung des Islams, die im Grunde dem Diskurs derer entspricht, die diese Religion für Herrschaftszwecke instrumentalisieren. Sie beanspruchen genau jene homogene ‚islamische Welt’, die von den islamfeindlichen Kräften immerzu beschworen wird. Die Diffamierung des Islams in den populistischen Äußerungen aus der bürgerlichen Mitte macht aus der Religion eine fremde Identität und überlagert den Alltag der Migrationsgesellschaften, so als gäbe es niemanden von nebenan, der_die genauso muslimisch ist, wie viele katholisch oder evangelisch sind.
Dass es zu ausgrenzenden und abwertenden Sichtweisen auf Migrant_innen kommt, die erst dadurch zu einer Gruppe gemacht werden, hat viele Gründe. Die verspätet gegenüber den Arbeitsmigrant_innen und ihren Nachkommen von staatlicher Seite geäußerte Integrationsforderung überlagert eine kritische Aufarbeitung des Umgangs mit Arbeitsmigration in Europa. Entwickelt hat sich eine „antipluralistische Engführung des Integrationsdiskurses“,[7] bei der das Sprechen über Integration dazu benutzt wird, insbesondere muslimische Migrant_innen als kulturell Fremde zu adressieren. Aus der dominanzgesellschaftlichen Positionierung derer, deren nationale Zugehörigkeit nicht in Frage gestellt wird, werden neue Formen der Abgrenzung von der migrantischen Bevölkerung ausgeübt. Für eine migrationsgesellschaftliche Professionalisierung wird es deshalb relevant, Kenntnisse darüber zu erwerben, wie die Kategorien Religion und Sprache für die Konstitution von Nichtzugehörigkeit instrumentalisiert werden.
Für die Erwachsenenbildung ergeben sich aus diesen Beobachtungen und aus der Forschung zum Zusammenhang von Migration und (Weiter-)bildung thematische Aufgaben. Fragen gesellschaftlicher Selbstbilder sind in der Spannung von Weltoffenheit und Neo-Nationalismus aufzugreifen und so aufzubereiten, dass eine reflektierte Diskussion ermöglicht wird, die weder heraufbeschworene Ängste noch paternalistische Helferstilisierungen bedient.
[1] Vgl. Markus End (2014): Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation (im Auftrag des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma) Heidelberg.
[2] Vgl. Roswitha Scholz (2009): Antiziganismus und Ausnahmezustand. Der „Zigeuner“ in der Arbeitsgesellschaft, in: Markus End/Kathrin Herold/Yvonne Robel (Hg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments, Münster, S. 24-40.
[3] Vgl. Michael Wildt (2014): „Arbeit“ im Nationalsozialismus. Zur Bedeutung des Begriffs in Ideologie und Praxis des NS-Staats, in: Einsicht 12: Bulletin des Fritz-Bauer-Instituts, 6. Jg., Oktober 2014, S. 14-19.
[4] Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung hat im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung den erheblichen Beitrag Eingewanderter zu den deutschen Sozialkassen in Höhe von 22 Mrd. € (2012) berechnet.
[5] Paul Mecheril/Oscar Thomas-Olalde (2011): Die Religion der Anderen, in: Birgit Allenbach/Urmila Goel/Merle Hummrich/Cordula Weissköppl (Hg.): Jugend, Migration, Religion. Interdisziplinäre Perspektiven, Baden Baden, S. 35-66., S. 37.
[6] Ebd., S. 45.
[7] Heiner Bielefeldt (2007): Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld , S. 18.
Gegenpositionen in Ungleichheitsverhältnissen
Das Engagement für eine kritische Bildungsarbeit kommt ohne Leidenschaft nicht aus, doch diese zu artikulieren, ist schwieriger geworden. Die politische Gegenwart ist von Konsensempfehlungen und Alternativlosigkeiten besetzt. Gegnerschaften sind darin kaum vorgesehenen. In den Bildungsinstitutionen sind alle für Vielfalt und gegen Diskriminierung, bei gleichzeitiger normalisierter institutioneller Ausgrenzung. Wie können Gegenpositionen in einer Konsensdemokratie eingenommen werden, ohne die alten Muster der Entlarvung anzuwenden, die kaum Selbstkritik ermöglichen? Heutiges Engagement gegen neue Populismen und alte Rassismen braucht keine Feindbilder, sondern Gegnerschaften. Das Konzept der Gegnerschaft erkennt die Legitimität des Gegenübers an, es kommt ohne Dämonisierung aus, denn die normale Repräsentation neoliberaler Weltbilder reicht völlig aus, um sich abzugrenzen. Für die demokratietheoretische Diskussion gehen Chantal Mouffe und Ernesto Laclau[1] von einem agonistischen Modell aus, bei dem die „konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, „dass es für den Konflikt keine rationale Lösung gibt“.[2] Dieses Modell grenzt sich sowohl von einem antagonistischen Freund-Feind-Schema ab als auch von deliberativen Konkurrenzbeziehungen. In der einen Variante würden die Gegner dämonisiert, in der anderen wären sie ausschließlich über Leistung definiert. Mouffe entwickelt demgegenüber ein differenzsensibles Konfliktmodell als Ansatz, Gegensätze im Pluralismus auszutragen. Ein liberaler Ansatz von Pluralismus ist dafür ungeeignet, weil darin kollektive Identitäten nicht anerkannt werden,[3] wobei letztere bei Mouffe nicht als essentialistische Identitäten gedacht werden, sondern als „Ergebnis von Identifikationsprozessen“ und somit „niemals vollständig fixierbar“.[4] Mouffe erkennt die „affektive Dimension der Politik“[5] an und geht nicht von deren völliger Rationalisierbarkeit aus. Schließlich macht es eine Besonderheit der Pädagogik aus, dass sie ohne Identifikationen und Leidenschaften nicht auskommt, die aber zugleich alle Türen für den Missbrauch pädagogischer Beziehungen öffnen, wenn sie nicht problematisiert werden. Deshalb ist die Bildungsarbeit disziplinär und aus ihren systematischen Begründungen heraus auf Selbstreflexion angewiesen. Bürgerliche Pädagogik ist als Wissenschaft und Praxis integriert in die Zwänge der Selbstverwertung, die in neoliberalisierten Verhältnissen immer mehr internalisiert worden sind und die Selbstbilder von Professionellen in Bildungskontexten und wie die von ihren Teilnehmenden prägen. „Die Vereinnahmung der Individuen nimmt äußere wie innere Verhältnisse in Beschlag; sie reicht bis in psychische Tiefenstrukturen hinein“.[6] Zugleich erfolgen die neoliberalisierten Vereinnahmungen unter ungleichen Bedingungen und haben ungleiche Auswirkungen auf sozial unterschiedlich positionierte Individuen und Gruppen. Bildungsarbeit mit Erwachsenen erfordert deshalb neben der Analyse der Zielgruppen eine Auseinandersetzung mit den eigenen sozialstrukturellen Ausgangsbedingungen und mit der eigenen Bildungssozialisation. Dazu gehören auch die angelernten Muster der Abwertung und die Vorstellungen von national-kultureller Nichtzugehörigkeit, die gegenwärtig reaktiviert werden.
Dominanz stabilisiert sich durch den Mangel an Kritik, und das Fehlen von Kritik bedeutet effektiv Zustimmung. Mit der Bezeichnung „Dominanzkultur“[7] akzentuiert Birgit Rommelspacher das Funktionieren von Praktiken sozialer Spaltung durch Konsensstrukturen. Im Unterschied dazu ist Herrschaft nach Rommelspacher ein Prozess aktiver Unterdrückung. Dominante Auffassungen von Überlegenheit und Unterlegenheit werden durch soziale Strukturen internalisiert und reproduzieren „in eher unauffälliger Weise politische, soziale und ökonomische Hierarchien“.[8] Rommelspacher unterscheidet Herrschaft, die in erster Linie auf Repression beruht, von Dominanz, die „sich auf weitgehende Zustimmung stützt“.[9] Solange Dominanzstrukturen nicht bekämpft werden, erfahren sie oft unausgesprochen Zustimmung. Für professionell Handelnde in sozialen und pädagogischen Feldern wird damit die eigene Mittäterschaft in Verhältnissen der Dominanz hervor gehoben.[10]
Sich in reine Gegensatzpositionierungen zu begeben, ist offensichtlich schwieriger geworden. Ein professionelles und institutionalisiertes Feld kann sich nicht in ein Außen stellen, es ist immer involviert innerhalb der machtvollen Anforderungen, die oftmals existenziell sind für Träger und Mitarbeitende. Doch wenn aus diesen Verwicklungen keine Affirmation werden soll, dann muss benannt werden, was das Unbehagen daran ausmacht und wo der Reiz liegt, sich dem Trend anzuschließen. Denn beides ist der Fall, Widerwillen und Anpassung. Dies offen zu legen, kann dazu beitragen, Kritik in unreinen Verhältnissen zu artikulieren. Die dominanten Selbstregierungstechniken tendieren dazu, Kritik zum Verschwinden zu bringen. Doch kann es nicht darum gehen, etwas Verlorenes wieder zu gewinnen, sondern andere Praktiken der Kritik in pädagogischen Kontexten zu entwickeln, denn nicht von ungefähr wird eine entlarvende, auf die Fehler anderer ausgerichtete Kritik, die sich selbst nie involviert sieht, abgelehnt, und zwar sowohl von Etablierten wie von Marginalisierten.
[1] Mouffe, Chantal/Ernesto Laclau (2006): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien.
[2] Chantal Mouffe (2007): Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt/M., S. 30.
[3] Vgl. ebd., S. 17.
[4] Ebd., S. 27.
[5] Ebd., S. 36.
[6] Vgl. Ludwig Pongratz (2013): Unterbrechungen. Studien zur Kritischen Bildungstheorie. Opladen/Berlin/Toronto, S. 59.
[7] Birgit Rommelspacher (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin.
[8] Ebd., S. 26.
[9] Ebd.
[10] Vgl. Astrid Messerschmidt (2013): Bildungspolitische Normalisierungen. Pädagogische Mittäterschaften und Bewegungen in Widersprüchlichkeiten, in: Thorsten Fuchs/May Jehle/Sabine Krause (Hg.): Normativität und Normative in der Pädagogik. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft III, Würzburg.
Weltoffene Bildung für alle
Dass Bildung ‚für alle’ sein soll, ist keine anstößige Forderung mehr. In einer Gesellschaft, die Bildung jedem und jeder abfordert, wirkt sie affirmativ. Doch dieser Eindruck, aus dem längst eine Erfahrung geworden ist, kann sich nur deshalb durchsetzen, weil Bildung individualisiert und personalisiert und nicht mehr im Zusammenhang einer Beanspruchung kollektiver Gleichheit verstanden wird. Im Gegenteil, der Begriff der Gleichheit ist weitgehend diskreditiert und wird absichtsvoll verwechselt mit Gleichförmigkeit, also mit Homogenität. Diese Besetzung des Gleichheitsbegriffs macht aus Bildung das, was Adorno als „Halbbildung“[1] gekennzeichnet hat – ein persönliches Eigentum, das in gesellschaftlichen Konkurrenzverhältnissen eingesetzt werden kann. Ausgeschlossen wird damit die Möglichkeit solidarischer Bildung.
Diese bürgerlich-individualisierende Besetzung ist seit der Aufklärung mit dem deutschsprachigen Bildungsbegriff verbunden. Zwar haben sich die Bezeichnungen verändert und es ist heute eher vom ‚lebenslangen Lernen’ die Rede, aber auch hier geht es wieder um die Integrationsleistung der einzelnen, die sich nun eben durch unaufhörliche Weiterbildung auf dem Markt zu behaupten haben. Wer in dieser Bildungstradition (aus)gebildet worden ist, hat also einige Mühe, Solidarität mit Bildungsprozessen in Verbindung zu bringen. Ein individualistisches Bildungskonzept kennzeichnet die hiesige Bildungspraxis, die in erster Linie auf die Selbstbestimmung des einzelnen setzt, ohne diesen einzelnen in sozialen Beziehungen zu betrachten, in Verhältnissen gegenseitigen Aufeinander-angewiesen-seins. Wer also in den Bildungsinstitutionen mit dem Anspruch auftritt, Solidarität zu vermitteln, kann nicht davon ausgehen, selbst die Voraussetzungen dafür mitzubringen. Es müsste zunächst eine Auseinandersetzung mit den angelernten und verinnerlichten Vorstellungen von Bildung stattfinden. Für ein migrationsgesellschaftliches Bildungsverständnis sind daher normative Klärungen zu treffen. Wenn pädagogisch Handelnde hier eine alternative Sichtweise auf die Migrationsgesellschaft vermitteln wollen, um sich von populistischen und neo-nationalistischen Identitätsbehauptungen abzugrenzen, dann benötigen sie selbst eine normative Orientierung an Solidarität und Gleichheit, die aus den Mottenkisten vergangener Konfrontation geholt werden müssen. Eine solidarische migrationsgesellschaftliche Bildungspraxis hat die menschlichen Bedürfnisse zu thematisieren, die mit Migrationsprozessen einher gehen. Universale Ansprüche an das Überleben und an das würdige Leben verbinden über alle Differenzen hinweg. Normative Orientierungen an Solidarität und Gleichheit sind derzeit Mangelware im Bildungsdiskurs. Evangelische Erwachsenenbildung unterscheidet sich hier aufgrund ihrer theologisch begründbaren Ethik universaler Gleichwertigkeit und aufgrund ihrer Traditionen in der ökumenischen Bewegung. Die Ökumenische Bewegung hat sich immer wieder explizit gegen Rassismus ausgesprochen und entsprechend gehandelt, insbesondere bei der Bekämpfung von Apartheid. Zugleich ist sie herausgefordert, mit unterschiedlichen Traditionen und Orientierungen umzugehen und den Raum der Kirchen und Theologien zu erweitern. Statt Identitäten zu reaktivieren, sind durch die Ökumene Beziehungen entstanden und weltweite Netze der Solidarität geknüpft worden. Dies bildet aus meiner Sicht einen spezifischen Erfahrungshintergrund evangelischer Bildungsarbeit, den die Erwachsenenbildung inhaltlich und strategisch nutzen kann: Inhaltlich finden sich darin zeitgeschichtlich heraus geforderte Positionierungen zu Rassismus und Pluralität. Strategisch ist an die Geschichte der Ökumene zu erinnern, wenn es darum geht, spezifisch kirchliche Argumente für eine zeitgemäße migrationsgesellschaftliche Öffnung in die Debatte zu bringen, insbesondere dann, wenn diese Öffnung zum Profilverlust umgedeutet wird.
[1] Theodor W. Adorno [1959] (1972): Theorie der Halbbildung, in: ders.: Gesammelte Schrift Bd. 8: Soziologische Schriften I. Hg.: Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main, S. 115-121.