Körperpolitik
Feministisch-antirassistische Reflexionen zu Weißsein als Mythos und Terror

Rassismus

Publiziert: 2003

Vortrag auf der zweiten Europäischen Frauensynode für verstärkten interreligiösen Dialog vom 5. bis 10. August 2003.

Guten Morgen!

Zunächst möchte ich den Veranstalterinnen dafür danken, dass sie mich eingeladen haben, heute hier zu sprechen. Das ist eine große Auszeichnung für mich – und eine große Verantwortung. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, werde ich mich bemühen, mein Anliegen so auszudrücken, dass es hoffentlich alle verstehen. Angesichts der zahl­losen Unterschiede, die wir verkörpern, muss Verantwortung auch bedeuten, sich einer vereinnahmenden Rede von „wir“ zu verweigern. Ich tue es aber trotzdem. Ich möchte von einem „wir“ sprechen, ohne all das, was uns voneinander unterscheidet, zu missach­ten. Ich weiß nicht, was wir möglicherweise gemeinsam haben, doch ich möchte zwei Gemeinsamkeiten unterstellen:
Ich unterstelle, dass es etwas gibt, das uns verbindet, nämlich das Ringen um umfassende Gerechtigkeit. Ich behaupte, dass wir alle Gewaltstrukturen wie Sexismus, Rassismus, Klassenherrschaft und Behindertenfeindlichkeit verabscheuen und bereit sind, diese Gewaltformen zu bekämpfen.
Ich unterstelle zweitens, dass jede von uns – wirklich jede – bereit ist, ein bißchen zu rü­cken, damit Platz ist für alle.
Der Titel meiner Rede lautet: Körperpolitik – feministisch-antirassistische Reflexionen zu Weißsein als Mythos und Terror.
Doch bevor ich zu diesem Thema komme, möchte ich einige Überlegungen zu den Beg­riffen „Unterschiede“ und „Vielfalt“ anstellen und fragen, was sie mit Gewalt zu tun ha­ben.

Der Titel der Synode beinhaltet vieles: Kulturen teilen, zusammen Vielfalt leben, Diver­sität wagen… Was diese Aspekte zum Ausdruck bringen, ist die Wertschätzung von Ver­schiedenheiten und die Wichtigkeit, Vielfalt zu respektieren und zu teilen.
Aber wollen wir wirklich jede Form von Vielfalt wertschätzen? Ich möchte zu bedenken geben, dass Vielfalt keinen Wert an sich darstellt. Nehmen wir nur das Beispiel „Klasse“: sicherlich gibt es eine Vielfalt an Positionen, von Frauen, die ums Überleben kämpfen über die, die finanziell gerade über die Runden kommen bis hin zu Frauen, die im Luxus leben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine von uns tatsächlich diese Art von Vielfalt wertschätzen und respektieren möchte. Ich denke, wir sollten sorgfältig überlegen, wel­che Unterschiede es sind, die wir wagen und teilen wollen.
Wertschätzung und Respekt setzen etwas sehr Grundlegendes voraus: zum einen die Be­nennung von Verschiedenheiten und zweitens das Vermögen, alle Unterschiedlichkeiten als gleichwertig anzusehen.
Hinter dem Aspekt des Benennens steht die Frage, welche Verschiedenheiten wir über­haupt als solche wahrnehmen. Für welche Unterschiede haben wir Begriffe, für welche nicht? Ein Beispiel: Unterschied „Geschlecht“. Er meint „natürlich“ Frauen und Männer, zwei Schubladen. Aber es gibt nicht nur Frauen und Männer, es gibt intersexuelle Men­schen, transsexuelle Menschen. Sie fallen aus diesem Raster heraus – ihre Existenz wird unsichtbar gemacht. Das hat gravierende Folgen: in der Stadt, in der ich wohne, findet regelmäßig eine Frauendisko statt, und sein langem tobt eine hitzige Debatte darüber, ob Transsexuelle (in diesem Fall betrifft es Mann-zu-Frau-Transsexuelle) zugelassen werden sollen. Einige Frauen behaupten, diese Transsexuellen seien überhaupt keine „richtigen“ Frauen und hätten daher bei Frauendiskos nichts zu suchen. D.h.: Zuordnungen dienen nicht einfach dazu, Vielfalt zu beschreiben; sie dienen dazu festzulegen, wer zu einer Gruppe gehört und wer ausgeschlossen bleibt. Mehr noch: Zuordnungen werden nicht schlicht der Übersichtlichkeit halber vorgenom­men, sie tragen in sich den Keim der Auf- und Abwertung.
Auf- bzw. Abwertungen mit einem Begriff können auch unausgesprochen erfolgen. Bei­spiel „Europa“: wie viele von uns denken, wenn sie „Europa“ hören, eigentlich an WEST-Europa? Unausgesprochen erscheint Osteuropa oft als „nicht wirklich Europa“ oder als Europa zweiter Klasse.
Begriffe, die Bewertungen verhüllen, sind gefährlich – und verführerisch. Auch Feminis­tinnen verwenden solche Begriffe, z.B. „Differenz“. Da ist die Rede von „Differenzen unter Frauen“ bezüglich der Kultur, Nation, Hautfarbe, Klasse, Lebensform, Religion, Alter usw. Was mich wirklich stört am Begriff „Differenz“ ist seine vermeintliche Neutralität; in den Aufzählungen von Unterschieden sind scheinbar keine Wertungen enthalten. Die Rede von Differenzen verschleiert eine schmerzliche Wirklichkeit: die Gewaltunter­schiede zwi­schen Frauen.
Nicht nur Männer tun Frauen Gewalt an – auch Frauen tun Frauen Gewalt an. „Gewalt“ ist ein starkes Wort. Dominante Feministinnen – und damit meine ich vor allem Weiße, westliche Frauen der Mittelschicht – ziehen es vor, von „Diskriminierung“ oder „Be­nachteiligung“ zu sprechen. Ich denke, wenn wir uns weigern, das Wort „Gewalt“ zu be­nutzen, weigern wir uns anzuerkennen, wie sehr wir andere Frauen in ihrer Integrität, ih­rer Würde verletzen können und es auch tun, bewusst oder unbewusst. Wenn wir von an­deren Frauen Gewalt erleiden, mögen wir das herunterspielen und behaupten, unsere Pei­nigerin habe es doch gar nicht so gemeint. Gewiss, die heterosexuelle Pfarrerin, die mir Geld anbot für eine Gehirnoperation, damit man mir das „lesbische Gewebe“ aus meinem Kopf entfernt, hat es bestimmt gut gemeint. Dennoch: es war Gewalt, ein Angriff auf meinen Körper und meine Würde als Lesbe. Wenn ich mich gegenüber einer Schwarzen Frau rassistisch verhalte, übe ich Gewalt gegen sie aus. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob ich bewusst oder unbewusst handele – an der Verletzung, die ich ihr zufüge, ändert das nichts.
In gewalttätigem Handeln spiegeln sich Gewaltstrukturen. Sie durchziehen unseren All­tag, sie prägen unser Denken und beeinflussen unser Handeln. Von kleinauf lernen wir, was als „normal“ gilt und was nicht. Wir lernen zu unterteilen in die „einen“ und die „Besonderen-Minderen-Anderen“. Diese Unterteilung erfolgt oft im Bruchteil einer Se­kunde, durch eine Blick auf das, was vermeintlich alle Erzählungen und Begründungen beherbergt: den Körper.

B.

In rassistisch-sexistischen Gesellschaften ist es sehr schwierig, sich “Kulturen” oder Ver­schiedenheiten vorzustellen, ohne auf den Körper Bezug zu nehmen. Scheinbar vermittelt der Körper ein grundlegendes Wissen darüber, wer „anders“ ist und wer nicht, wer weib­lich, wer männlich ist und wer Weiß ist und wer nicht. Körper gelten als Träger einer un­veränderlichen Differenz, die wir in einem Augen-Blick sehen können.
Neben Geschlecht ist es die Kategorie „Rasse“, die dem Körper scheinbar unverlierbar anhaftet. Zwar ist heute wissenschaftlich erwiesen, dass es keine menschlichen „Rassen“ gibt, und folglich wird der Begriff in vielen Ländern Europas nicht mehr benutzt. Doch auch wenn der Begriff verschwunden ist, bleibt sein Inhalt lebendig, nämlich die Vor­stellung, es gäbe körperliche Merkmale, vermittels derer die gesamte Menschheit in we­nige Großgruppen aufgeteilt und bewertet werden kann. Dass diese Rassekonstruktionen nicht Schnee von gestern sind, wissen die am besten, die Opfer dieser Konstruktionen sind und rassistische Gewalt tagtäglich erleben. Der Schwarze Deutsche Paul Mecheril schreibt zum Begriff „Rasse“: „Es gibt eine symbolische und faktische Rangordnung der Physiognomien. [ … ] hier gibt es nur einen Namen, der die reale Gewalttätigkeit nicht unterschlägt: ‚Rasse’. Das Wort ist böse, es sticht, es tut weh – kein anderes Zeichen, das besser passte.“[1]
Rassismus ist eine Gewaltstruktur und ein Lügengespinst, das behauptet, es gäbe „Schwarze Körper“ und „Weiße Körper“ sowie einige Farbabstufungen dazwischen. Rassismus behauptet, es gäbe diese Unterschiede und sie seien biologisch festgelegt, ja mehr noch, es gäbe eine Rangordnung dieser Unterschiede: die Weißen seien klüger, zi­vilisierter, schöner und vernünftiger als Schwarze. Und es ist nicht schwer herauszufin­den, wer sich diese Lügen ausgedacht hat: Weiße. Seit dem 18. Jahrhundert haben sich Weiße an die Spitze der Menschheit gesetzt, haben von Menschenrechten, von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gesprochen und gleichzeitig Milliarden Menschen – Frauen, Männer und Kinder – gefan­gen genommen, versklavt und getötet. Rassismus diente dazu, diese Gewalt zu rechtferti­gen. Dieses Erbe von Unterdrückung und Massenmord ist ein Erbe Europas – es ist (ob wir wollen oder nicht) auch unser Erbe.
Wussten Sie, dass in den USA Weiße Menschen auch „European-Americans“ – Europä­isch-AmerikanerInnen – genannt werden? Die Vorstellung, ganz Europa sei Weiß und immer Weiß gewesen, ist ein Mythos.

[1]   Paul Mecheril, Rassismuserfahrungen von Anderen Deutschen – eine Einzelfallbetrachtung, in: Ders. und Thomas Teo, Psychologie und Rassismus, Reinbek, 1997, 198.

B1. Weißsein als Mythos

Der Mythos bezeichnet eine überlieferte Erzählung aus grauer Vorzeit; er erzählt, wie die Dinge waren und noch immer sind. Der Mythos erklärt nicht, begründet nicht, sondern stellt fest[1]. Die Gewalt Weißer Vorherrschaft ruht auf dem Mythos Weißer Überlegen­heit: er besagt, Weiße seien die besseren Menschen. In den Worten des Weißen deutschen Philoso­phen Immanuel Kant: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen“.
Der Mythos macht aus Lügen ewige, universale und un­umstößliche Wahr­heiten, die wir als selbstverständlich hinnehmen sollen. Der Mythos von Weißsein erzählt uns, dass es seit Menschengedenken Weiße gab, dass es Weiße wa­ren, die Geschichte gemacht, Kunst geschaffen, die Demokratie erfunden haben und in deren Händen die Zukunft aller Menschen liegt. Der Mythos von Weißsein spiegelt sich in Bildern, die wir nicht nur in den Medien und auf der Straße zu sehen bekommen, son­dern auch in christ­lichen Kirchen: Adam und Eva, die Jungfrau Maria, Jesus Christus und Gott selbst wer­den als Weiß dargestellt – Weißsein erhält die Aura des Heiligen, Guten und Göttlichen.
Dass vielen von uns dies nicht bewusst ist, hat damit zu tun, dass der Mythos Weißsein heute nicht mehr erzählt, sondern nur mehr angedeutet wird. Es ist nicht nötig, Weißsein zu betonen oder auch nur zu benennen, denn es ist längst verschmolzen mit dominanten Vorstellungen vom Menschsein an sich, von Vernunft und bestimmten Territorien. Mehr noch: wir reden vielleicht nicht mehr von „Rassen“, sondern vornehm von „Ethnizitä­ten“, wir mögen die Stirn runzeln beim Wort „Weißsein“/ Whiteness/ Blancitud/ Blan­cheur. Aber das bedeutet nicht, dass der Mythos der Weißen Überlegenheit verschwun­den ist. Im letzten Jahr ergab eine Umfrage in Deutschland, dass ein Sechstel der Be­fragten folgenden Satz als ganz bzw. eher zutreffend bezeichneten: „Die Weißen sind zu Recht führend in der Welt.“[2]
Mythen sind nicht abstrakte Ideen oder schlichter Ausdruck individueller Einstellungen – sie prägen die ganze Gesellschaft, sie rücken Menschen zu Leibe, sie schreiben sich ein in Körper. Dem Märchen von Weißsein entspricht eine machtvolle Realität: Weißer Ter­ror.

[1]   Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964, S.131.

[2]   Wilhelm Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse, in: Ders., Deutsche Zustände. Folge 1, Frankfurt a.M., 2002, 25

B2. Weißsein als Terror

Die Schwarze Kulturkritikerin bell hooks beschreibt in einem Essay, was Weißsein in der Schwarzen Vorstellungswelt bedeutet. Sie spricht von der „weißen Terrorherrschaft“[1], die darauf zielt, Schwarze zu unterwerfen und zu kontrollieren. Dieser Terror ist eine Macht, die verwundet, Schmerzen zufügt und quält.
hooks betont, „dass Weißsein eine Gefahr darstellt, ein Gefühl der Bedrohung auslöst“[2] und dass diese Bedrohung auch von Weißen Feministinnen ausgeht. Den meisten Weißen Feministinnen ist es unbehaglich bei der Vorstellung, sie seien für Schwarze Frauen be­drohlich. Daher hören sie lieber weg, wenn Schwarze Frauen von Weißsein als Terror sprechen. Schwarze Frauen kommen in Weißen feministischen Zusammenhängen dann zu Gehör, wenn sie Versöhnliches zu sagen haben oder sich zumindest darauf beschrän­ken, über „Differen­zen unter Frauen“ zu sprechen. Wenn sie über Rassismus, Weiße Vorherrschaft und Weißen Terror reden, müssen sie damit rechnen, dass Weiße Frauen ärgerlich werden oder ihre Analyse ins Lächerliche ziehen.
Doch wenn denjenigen von uns, die Weiß sind, etwas an einer Zusammenarbeit mit Schwarzen Frauen gelegen ist, dann kommen sie/wir nicht darum herum, deren kritische Analysen ernst zu nehmen und dem rassistischen Terror direkt in die Augen zu sehen – auch wenn diese Augen uns aus dem Spiegelbild anblicken.
Rassismus und Weißer Terror existieren in tausenderlei Gestalt. Er prägt gesellschaftli­che Institutionen wie Gesetzgebung, Rechtsprechung, die Polizei, Bildungseinrichtungen wie auch die Sprache. Ich möchte im Folgenden beschreiben, wie Rassismus und Weißer Terror als Bestandteile von Körperpolitik konkret wirksam sind.
Die Schwarze feministische niederländische Theologin Doreen Hazel berichtet:
„Als ich vor einiger Zeit irgendwo eingeladen war, einen Vortrag zu halten und zu früh eintraf, nahm man an, ich sei diejenige, die den Kaffee ausschenkt. Ich begann, Kaffee einzugießen, wie man es von mir erwartete; als schwarze Frau hatte ich mich demütig und fürsorglich zu verhalten. In der Zwischenzeit fingen alle an, sich Sorgen zu machen, weil sie nicht verstanden, was Frau Hazel aufgehalten haben könnte. Nun, es ist nichts daran auszusetzen, jemandem Kaffee einzugießen; was aber falsch ist, ist die Tatsache, dass erwartet wurde, dass ich das tue auf der Basis meiner Hautfarbe und meines Frau­seins.“[3]
Wie konnten die Weißen VeranstalterInnen auf die Idee kommen, Doreen Hazel sei die Küchenhilfe? Es war ihr Schwarzer weiblicher Körper, der die Frage, welche Rolle sie bei der Veranstaltung spielen sollte, umgehend zu beantworten schien. Die Geschichten, die Körper vermeintlich erzählen, sind Bestandteile von Körperpolitik. Körperpolitik klassifiziert und wertet Körper und verweist sie in unterschiedliche Räume: in die Mitte, auf das Podium, an den Rand, neben die Kaffeemaschine oder ganz und gar weg in ein geographisches Außen.
Körper erzählen Geschichten von Zugehörigkeit – auch nationaler. Rassistische Körper­politik erschafft einen „Volkskörper“, der die Mitglieder eines Volkes als organische Einheit vorstellt, ein nationalen Körper, der befleckt, verseucht und krank werden kann durch Inva­sionen der sogenannten Anderen. Rassistischer Körperpolitik zufolge gilt es, den Volks­körper gesund und rein zu halten, und sein Zustand ist – angeblich – sichtbar. In meinem Heimatland gilt: man kann sehen, wer deutsch ist. Alle Deutschen – so heißt es – sind Weiß, daher kön­nen Schwarze keine Deutschen sein. Weißer Terror in meinem Land bedeutet u.a., dass Schwarze Deutsche immer und immer wieder von Weißen Deut­schen gefragt werden, wieso sie so gut deutsch sprechen, woher sie kommen und wann sie wieder zurück gehen – nach Afrika oder Asien oder Lateinamerika. Die Schwarze deut­sche Dichterin und Päda­gogin May Ayim schreibt: „Wer nicht typisch deutsch aussieht – maßgebend ist noch immer der arische Idealtypus -, der bzw. die gehört hier scheinbar nicht hin.“[4] Wer hier­her gehört und wer nicht, entscheidet der Weiße Blick auf den Kör­per. Schwarze Deut­sche werden zu AusländerInnen gemacht – die Optik entscheidet.
Rassistische Körperpolitik erfindet Schwarze Körper als andere-mindere und schiebt sie an den Rand oder zielt darauf, sie zu vertreiben oder gänzlich auszulöschen.
Ein Spruch von Amnesty International lautet: „Schwarze haben in Deutschland nichts verloren – doch: ihr Leben.“ Auslöschen. Mord. Der finale Weiße Terror. So deutlich die deutsche Öffentlichkeit Morde an Schwarzen Menschen verurteilt, so deutlich weist sie auch darauf hin, dass die Weißen Täterinnen und Täter nicht normal seien, Verrückte eben, Ausnahmen. Normal hingegen ist es anscheinend, dass alle Kinder in Deutschland ler­nen, Schwarze Körper mit Tod in Verbindung zu bringen. Bis heute wird im Unterricht das rassistische Kinderlied „Zehn kleine Negerlein“ verwendet, welches davon handelt, wie Schwarze Kinder eines nach dem anderen sterben. Ein einziges überlebt, weil es Eu­ropa verlässt und nach Afrika geht. Eine pädagogische Handreichung aus dem Jahr 1994 empfiehlt das Lied als Gedächtnistraining: „Die Schüler können die Höraufgabe erhalten, sich zu merken, auf welche Weise die Neger umgekommen sind“[5]. Was sich die Schüler auf je­den Fall merken ist, dass die Schwarzen Kinder umgekommen sind.
Schwarze als Tote, als Opfer und/oder demnächst Auszuwandernde verzerrt die Wahr­nehmung und löscht einen Teil unserer kollektiven Erinnerung aus. Damit wir glau­ben, dass sämtliche Errungenschaften der europäische Geistes- und Kulturgeschichte Weißen Europäern zu verdanken sind, muss der Beitrag Schwarzer europäischer Intel­lektueller und KünstlerInnen ausgelöscht werden. Die Geschichtsbücher – ich denke, nicht nur deutsche – sind voll von diesen Auslöschungen. An wie viele Schwarze historische Per­sönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Politik Ihres Landes können Sie sich erin­nern? (Ich meine mit Schwarzen nicht nur Menschen afrikanischer Abstammung, son­dern alle, die als „nicht-Weiß“ bezeichnet werden.)
Ausgelöschte Erinnerungen, verwischte Spuren[6], für immer verlorene Stimmen sind Zeugnisse der Wirkmächtigkeit des Weißen Terrors. Was können wir tun?
Ich hatte eingangs unterstellt, dass wir alle für umfassende Gerechtigkeit eintreten. Wenn es uns ernst ist damit, dann gehört der Kampf gegen den Weißen Terror dazu. Diesen Kampf aufzunehmen bedeutet, Bündnisse zu schaffen, denn allein können wir nur wenig ausrichten. Bündnisse sind kein Ort von Identitätspolitik, denn diejenigen, die an ihnen beteiligt sind, verbindet nicht unbedingt die gemeinsame Erfahrung, Herkunft, Kultur oder Sprache. Die Gemeinsamkeit besteht vielmehr im gemeinsamen Engagement und der geteilten Sehnsucht nach einer Welt ohne Rassismus.
Es gibt viele Hindernisse auf dem Weg zur Bündnisarbeit: Schuldgefühle Weißer Frauen, Misstrauen Schwarzer Frauen, zu hohe Erwartungen und zu wenig Durchhaltevermögen. Oft verbinden wir mit Bündnissen Unangenehmes: Streit, Anklagen, Angst, Verlust und Verletzungen. Das sollen wir auch. Zu rassistischer Körperpolitik gehört es, uns in ge­trennte Räume zu verbannen und uns einzureden, es sei so am besten, weil sich Schwarz und Weiß eh nicht verstehen. Wir sollen glauben, Bündnisse seien vermintes Terrain und kein Zuhaus. Wir sollen gar nicht erst auf die Idee kommen, dass Bündnisse auch geteilte Lebensfreude, Lachen und gemeinsame Zukunft bedeuten können.
Bündnisse sind gefährlich, weil sie einen Ort bieten, die Mythen und Lügen zu hinterfra­gen, die man uns beigebracht hat. Bündnisse sind gefährlich, weil hier ganz andere Ge­meinsamkeiten eine Rolle spielen. May Ayim schreibt: „Die Wut der Schwarzen Frauen sollte auch die Empörung von weißen Frauen sein, denn wir alle werden mit Lügen, Halbwahrheiten und Mythen verdummt und manipuliert.“[7]
Vielleicht geht es gar nicht so sehr darum, Kulturen zu teilen oder Verschiedenheiten, sondern Wut zu teilen darüber, wie sehr der Weiße Terror uns alle verdummt und manipu­liert, wie sehr er unsere Sprache vergiftet, unsere Wahrnehmung verzerrt und unsere Träume einzäunt. Wut kann zu einer schöpferischen Kraft werden, wenn wir sie nicht ge­geneinander richten, sondern gegen die Gewaltstrukturen, die uns voneinander fernhalten wollen. Wut kann uns auf die Straße treiben, unseren Widerstand beflügeln und unser langer Atem sein.
Jedoch: neben der gemeinsamen Wut verlangen Bündnisse von Schwarzen und Weißen Frauen auch unterschiedliche Qualitäten. In den Worten der Schwarzen Aktivistin Elena Featherstone: „Weiße Frauen brauchen revolutionäre Entschlossenheit – Schwarze Frauen brauchen revolutionäre Geduld.“[8]
Im Kampf gegen den Weißen Terror können wir über alle Unterschiede hinweg Wut tei­len, Entschlossenheit leben und Geduld wagen. In jeder Minute unseres Lebens.

[1]   bell hooks, Weißsein in der Schwarzen Vorstellungswelt, in: Dies., Black Looks, Berlin, 1994, 207 [original: white supremacist terror]

[2]   hooks, 217 [ Original: “.. representation of danger, the sense of threat”

[3]   Vortrag Doreen Hazel, Consultation of the World Alliance of Reformed Churches on Challenges from the Emerging Ecclesiology to Ecclesial Renewal, Kampen, Niederlande, 19.-23.10. 1993, 3f (Übersetzung E.W.) Original: „When some time ago I was invited to give a lecture somewhere and arrived there too early, it was assumed that I was the one serving the coffee. I started to pour the coffee as they expected of me; as a black women I had to act both humbly and caringly. In the mean time everyone started to worry, because they did not understand what kept mrs. Hazel. Now there is nothing wrong with pouring coffee for someone else; but what is wrong is the fact that I was expected to act so on the basis of the colour of my skin and of my being a woman.”

[4]   Ayim, Grenzenlos und unverschämt, Berlin, 1997, 137.

[5]   Ayim, Grenzenlos, 118f.

[6]   engl.: „effaced itineraries“ (allusion to G. Spivak)

[7]   Ayim, Grenzenlos, 108.

[8]   Elena Featherstone, unveröffentlichter Vortrag, Amerika-Haus, Berlin 1991