Predigt gehalten am 17. Juni 2016 in der Oldenburger evangelisch-lutherischen Nikolaikirche
Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
I.
In der Mitte unserer Gesellschaft hat sich Hass breitgemacht: Hass auf Juden, Muslime, Schwarze, Sinti und Roma. Viele Menschen, so das Ergebnis einer neuen Studie, finden den Einfluss von Juden auf Deutschland zu groß. Etwa die Hälfte aller Befragten fühlt sich angesichts der Gegenwart von Muslimen „fremd im eigenen Land“ und findet, dass Muslimen generell die Zuwanderung verboten werden sollte. Eine weitere Hälfte ist der Auffassung, Sinti und Roma neigten zu Kriminalität und sollten aus den deutschen Innenstädten vertrieben werden. Viele Befragte verbinden diese rassistischen Haltungen mit der Forderung nach mehr Mut zu einem starken deutschen Nationalgefühl.
Auch in der Mitte der Kirche sind solche Haltungen verbreitet. Einige Befragungen ergeben sogar, dass Kirchenangehörige häufiger antisemitische und rassistische Auffassungen vertreten als Menschen, die keiner Kirche angehören. Demnach scheinen Nächstenliebe und Nächstenhass nah beieinander zu liegen.
Ist dieser Rassismus etwas Neues? Kommt er erst mit Pegida und AfD ans Tageslicht, mit den beiden Gruppen, die beanspruchen, das „christliche Abendland“ vor den „Fremden“ retten zu wollen? Ich meine, nein. Der Rassismus ist nicht neu, er ist vielmehr uralt – auch in der Kirche. Denken wir zum Beispiel an die christliche Feindschaft gegenüber Juden, die man als bedrohliche Gottesmörder verfolgte, an die Unterwerfung schwarzer Menschen, die man missionieren und „zivilisieren“ wollte – und denken wir an den Hass auf Sinti und Roma, die man als Heiden und notorische Diebe diskriminierte. Diese Geschichte begleitet uns. Wir können nicht, und schon gar nicht im Blick auf die Gegenwart solcher Rassismen, davon ausgehen, dass diese Geschichte einfach so vorübergeht – auch nicht in der Kirche.
II.
Gemeinsam mit anderen versuche ich die Geschichte und Gegenwart dieser Haltungen zu bearbeiten und ihnen etwas entgegenzusetzen. Davon möchte ich heute berichten: Lassen Sie uns zunächst aber danach fragen, was das Wesen dieser feindlichen Einstellungen ist: Rassismus ist, so würde ich sagen, die kranke und gewalttätig gewordene Suche nach Identität, nach der Beantwortung der Frage „Wer sind wir eigentlich?“.
Im Rassismus suchen wir Vergewisserung über unsere Identität, indem wir Lügen über unsere Mitmenschen erzählen: Wir machen unsere Mitmenschen zu „Anderen“, zu „Fremden“ und oft auch zu „Minderwertigen“. Wenn wir so denken, können wir uns als die „Normalen“, die „Einheimischen“ und oft auch „Höherwertigen“ profilieren. Mit so einer Logik versuchen wir, uns eine Antwort auf die Frage zu geben, wer wir sind. Rassismus arbeitet dabei mit gemeinen Grenzziehungen, die unsere Identität absichern sollen: Hier die Deutschen – dort die Muslime, hier die Christinnen – da die Juden, hier die Weißen – dort die Schwarzen.
Sie merken vielleicht, dass ich von einem „Wir“ spreche. Das tue ich, weil ich meine, dass wir uns – sofern wir Angehörige der deutschen Mehrheitsgesellschaft sind – dieser Krankheit des Rassismus nicht ganz entziehen können. Ich verstehe Rassismus wie einen sauren Regen, der leise auf uns niederrieselt, sodass wir ihn nicht merken. Rassismus lässt niemanden von uns davonkommen – ich verstehe das in etwa so wie Paulus im Römerbrief: Keiner kann der Macht der Sünde entkommen (Röm 7,15–20).
III.
Was können wir der Sünde des Rassismus entgegensetzen? Können wir uns von der biblischen Tradition einen Weg aus dem Rassismus weisen lassen? Eine wichtige biblische Ressource bei der Suche nach einer Antwort ist die Rede von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen.
Am Anfang der Bibel – im ersten Schöpfungstext – wird überliefert, dass Gott die Menschen zu einem Ebenbild seiner selbst erschafft: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf Gott ihn.“ (Gen 1,27). An dieser Stelle kommt zum Ausdruck, dass alle Menschen von Gott gewollt sind. Hierin ist die Würde der Menschen angelegt. So verstanden steht die Gottesebenbildlichkeit den rassistischen Denkweisen entgegen, die Menschen zu „Fremden“, „Anderen“ und „Minderwertigen“ machen: Als Ebenbild Gottes kann niemand ein Fremder sein.
Ich möchte nun noch einen Schritt weitergehen und fragen, was es heißt, dass wir nach biblischer Auffassung die Ebenbilder Gottes sind, also nicht die Ebenbilder unserer selbst, die im Spiegel alles einfach über sich erkennen können. Was heißt es, dass wir nach biblischer Vorstellung die Ebenbilder einer Anderen sind – und was könnte dies für unsere Suche nach einem Weg aus dem Rassismus bedeuten?
IV.
Ein wichtiger Lehrer der Gottesebenbildlichkeit ist für mich der Theologe Henning Luther. Er protestiert in seinen Arbeiten gegen den Wahn der Ich-Identität und plädiert dafür, dass wir die Frage, wer wir sind, offen halten sollen – eben, weil wir die Ebenbilder eines Anderen sind (Religion und Alltag. Bausteine für eine Praktische Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992).
Stattdessen legt er uns nahe, unsere Existenz immer als Bruchstück, als Fragment wahrzunehmen. Wenn wir uns als Bruchstücke verstehen, lernen wir, unsere eigene Unvollkommenheit anzunehmen. Wenn wir davon befreit werden, immer gut sein zu müssen und nicht mehr gezwungen sind, Unvollkommenheit abzuwehren, können wir eigene Fehler angehen. Ein Nachdenken über Fehlbarkeit ist nicht etwas, was es loszuwerden gilt. Vielmehr gehört es zum Kern unserer Gottesebenbildlichkeit, sagt Henning Luther. Wir leben Gottesebenbildlichkeit, wenn wir unsere rassistischen Fehler und die Fehler der deutschen Gesellschaft bearbeiten lernen. Niemand ist vollkommen.
Aber Henning Luther hat noch mehr zu sagen: Begreifen wir unser Leben in seiner Unvollkommenheit, können wir uns selbst nicht genügen. Als Bruchstück weisen wir über uns selbst hinaus. Im Bearbeiten unserer Fehler sollten wir uns also nicht selbst verachten lernen, sondern darin die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass wir anders werden können, und dass die Gesellschaft, in der wir leben, anders werden kann. Als Gottes Ebenbilder geben wir uns nicht damit zufrieden, wer wir jetzt gerade sind. Vielmehr setzen wir auf eine Zukunft, in der wir in der Gemeinschaft mit unseren Mitmenschen und mit Gott anders sein werden. Vielleicht können wir das so verstehen wie die Beterin unseres Psalms, die sich mit Gott auf dem Weg weiß und sich daher als „Gast auf Erden“ versteht und kein Vorrecht gegenüber anderen reklamiert (Ps 119,19).
V.
Auf unserem Gottesdienstzettel finden Sie eine Abbildung eines Werkes von Paul Klee. „Einer, der versteht“ heißt das Werk, das von den Nationalsozialisten als „entartete Kunst“ verdrängt werden sollte. Für mich zeigt sich hierin etwas von dem, was Gottesebenbildlichkeit ist: Dieser eine, der nachdenkt und versteht, ist Bruchstück, weist über sich – über den Bildrand – hinaus und lässt sich nicht festlegen darauf, wer er ist oder zu sein hat.
VI.
Der Gott Israels, der auch der Gott Jesu ist, ist ein Gott der immer wieder die Beziehung zu den Menschen sucht. Als Ebenbilder dieses Gottes, die wir uns selbst manchmal fremd sind, sind wir auf die Beziehung zu unseren Mitmenschen und Gott angewiesen – vor allem, meine ich, auf die Beziehung zu denen, die in der Geschichte des Rassismus als die „Fremden“ auf das Tiefste verletzt wurden.
„Schwarze Leben zählen“ – „Black Lives Matter“ – ist für mich in dieser Frage ein wichtiger Satz geworden. Angesichts der Erschießung hunderter schwarzer Frauen und Männer durch die vornehmlich weiße Polizei in den U.S.A. erinnert mich dieser Satz daran, dass wir die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen erst noch anzuerkennen haben: Auch Schwarze Leben zählen.
Der Schriftsteller Langston Hughes erinnerte in seinem Text „Auch ich“ (übersetzt von Ruth Klüger) aus den 1930er Jahren an eben diese Gottesebenbildlichkeit schwarzer Menschen:
Ich bin der dunklere Bruder.
Man schickt mich zum Essen in die Küche
wenn Gäste kommen,
Aber ich lache
Und esse mich satt
Und werde stark.
Morgen,
Werde ich am Tisch sitzen,
Wenn die Gäste kommen.
Niemand wird wagen
Mir zu befehlen:
„Iss in der Küche“,
Dann.
Außerdem
Wird man merken, wie schön ich bin
Und man wird sich schämen.
VII.
Langston Hughes bringt in seinem Text die Würde Schwarzer zum Ausdruck – und setzt auf schwarzen Widerstand. Er setzt darauf, dass Weiße sich aufgrund ihrer rassistischen Haltung schämen lernen und sich durchringen werden, eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen Schwarzen und Weißen aufzubauen. Vielleicht ist das sich Schämen-Können ein weiterer Aspekt unserer Gottesebenbildlichkeit. Scham ist ein Gefühl der Beunruhigung darüber, in was wir eigentlich verstrickt sind und wer wir eigentlich sind.
Der Gott, der sich im gekreuzigten Menschen Jesus – und vielleicht auch in den erschossenen Schwarzen in den U.S.A. – ins Bild setzt, ist auch einer, der beunruhigt. Der gekreuzigte Gott bringt meine Vorstellungen, von dem was ein allmächtiger Gott sein soll und wie wir als Menschen zusammenleben sollen, gehörig durcheinander.
Ich glaube, – und hiermit schließe ich hoffnungsvoll –, dass das heilsam ist. Als Ebenbilder dieses Gottes wünsche ich uns, dass wir uns als Beunruhigte verstehen. „Wir haben hier keine bleibende Stadt“, erklärt Paulus im Hebräerbrief (Hebr 13,14). So, wie es ist, kann es nicht bleiben: „Wir haben hier kleine bleibende Stadt.“
Rassismus fixiert Menschen und stellt sie mit dem Rücken zur Wand. Nichts verabscheut der Rassismus aber mehr als Menschen, die sich nicht fixieren lassen, die ständig in Bewegung sind, sich unaufhörlich selbst befragen und über Grenzen hinaus auf ein anderes Zusammenleben hoffen.
Nichts hasst der Rassismus mehr als die Ebenbilder Gottes.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.