Thesen zur rassismuskritischen Religionspädagogik

AntisemitismusRassismus

Thesenreihe vorgestellt auf dem Fachtag zu rassismuskritischer Religionspädagogik und Theologie an der Evangelischen Akademie zu Berlin in Kooperation mit der BAG K+R und dem Comenius-Institut am 11. Juli 2016

Bescheiden

Im Hintergrund rassismuskritischer Bildung steht ein Menschenbild der Bescheidenheit oder der „Demut“, das theologisch und säkular begründet werden kann. Judith Butler erklärt im kritischen Anschluss an Theodor W. Adorno: „Man muss nicht souverän sein, um moralisch zu handeln, vielmehr muss man seine Souveränität einbüßen, um menschlich zu werden.“[1]

[1] Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt 2002, 11.

Unabgeschlossen

Begreifen wir unser Leben als Fragment und als ein Sein „auf dem Weg“ (mit Gott), muss Bildung stets unabgeschlossen bleiben. Bildungskonzepte, die auf eine geschlossene Identität hinauslaufen, sind anzufragen, weil sie die Auseinandersetzung mit eigenem Falschliegen und die Offenheit für Veränderungen verhindern.[1]

[1] Hierzu Henning Luther, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: Theologia Practica 4 (1985), 317–338 und Christian Staffa, Theo-politische Implikationen christlicher Bildungspraxis, in: Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus u.a. (Hg.), Vor Gott sind alle Menschen gleich. Beiträge zu einer rassismuskritischen Religionspädagogik, Berlin 2016, 22–25.

Beunruhigend

Vor diesem Hintergrund ist rassismuskritische Bildung kein Sicherheit gebender, sondern ein beunruhigender Vorgang, der eigene Weltbilder und Selbstbilder kritisch zum Thema macht – und damit auch wissenschaftliche Disziplinen (Theologie und Religionspädagogik) und Bildungsinstitutionen (Schule, Universität, Kirche) in ihrem Selbstverständnis und ihrer Praxis anfragt.[1]

[1] Vgl. Astrid Messerschmidt, Weltbilder und Selbstbilder, Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt am Main 2009, 257.

Reflexiv

Wir (privilegierte Lehrende und Lernende) werden in antisemitismus- und rassismuskritischer Bildung zu Selbstreflexion, zur „Meditation des Fehlers“, befähigt, wollen wir uns in befreiender Weise als Sünder_innen ernstnehmen (S. Radosh-Hinder, 2016).[1] Diese Selbstreflexion muss durch die Bezugnahme auf jüdische und schwarze Perspektiven geschehen, sonst ist sie „bloße“ Selbstreferenz.

 

[1] Hierzu Silke Radosh-Hinder, Theo-politische Implikationen christlicher Gemeindepraxis, in: Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus u.a. (Hg.), Vor Gott sind alle Menschen gleich. Beiträge zu einer rassismuskritischen Religionspädagogik, Berlin 2016, 19–22.

Geduldig

Rassismuskritische Religionspädagogik braucht Geduld: Geduld, Verstrickungen in die dominante Kultur zu ertragen und „umzustricken“: Aus Gewaltgeschichte und ihren Nachwirkungen gibt es kein einfaches „Entkommen“.[1] Gerade die ständige und geduldige Bearbeitung eigener Haltungen ist ein von Gott unterfangener Vorgang.

[1] Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, Righting Wrongs – Unrecht richten, Zürich/Berlin 2008, 47.

Selbstironisch

Zur Bildung gehört auch das Lachen über eigene Verstrickung in Widersprüche und die Unfähigkeit diese in ihrer Tiefe zu bearbeiten. Das Lachen nimmt Bildung den Charakter des zwanghaften Gelingens, eröffnet aber gerade dadurch neue Wege des Denkens und ist in dieser Weise auch handlungswirksam.[1] Das Lachen kann theologisch als ein „freundliches“ Lachen mit Gott angesichts des Scheiterns von Menschen verstanden werden und ermöglicht neue Handlungsperspektiven.[2]

[1] Vgl. Paul Mecheril, Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim/Basel 2004, 221–224.

[2] Hierzu Reinhold Niebuhr, The Irony of American History, New York 1955 und Gisela Matthiae, Clownin Gott. Eine feministische Dekonstruktion des Göttlichen, Stuttgart 1999.

Hoffnungsvoll

Die schwierigen, unabschließbaren Bildungsprozesse wird rassismuskritische Religionspädagogik nicht als Missmutigkeit oder als ein Kultivieren von Handlungsunfähigkeit verstehen, sondern als eine Praxis, die immer wieder Enttäuschungen erlebt, aber doch Hoffnungspraxis ist. Diese Praxis wird auf eine weniger dominante Zukunft hoffen und hinwirken, nicht aber ein bestimmtes Zukunftsbild propagieren.[1] Theologisch gesagt, setzen wir in allem Handeln doch immer darauf, dass Gott uns „heilsam“ dazwischenkommt, geben das Handeln aber nicht auf.

[1] Vgl. María do Mar Castro Varela, Von der Notwendigkeit eines epistemischen Wandels. Postkoloniale Betrachtungen auf Bildungsprozesse, in: Thomas Geier/Katrin U. Zaborowski (Hg.), Migration: Auflösungen und Grenzziehungen. Perspektiven einer erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung, Wiesbaden 2016, 43–59.