Beunruhigung ist ein Prinzip kritischer Bildung
Rassismuskritisches Lernen ist ein beunruhigender Vorgang. Zum einen muss ich einsehen, dass ich als weißer Mensch in rassistische Verhältnisse eingebunden bin. Meine Kritik an Rassismus bringt immer ein Stück neuen Rassismus mit sich. Zum anderen kann ich nicht einfach aufhören, Kritik an weißer Vorherrschaft zu üben. Ich würde Rassismus damit hinnehmen. Ein Weg kann es jedoch sein, diese doppelte Beunruhigung als Herausforderung anzunehmen. Das bedeutet, die Kritik an rassistischen Gewaltverhältnissen zugleich als Kritik an mir selbst aufzufassen und mich im Blick auf mein Denken und Handeln immer wieder beunruhigen zu lassen.[1] Mit einer Erinnerung an die Lebensgeschichte des jungen Dietrich Bonhoeffer möchte ich nun darüber nachdenken, wie eine rassismuskritische Haltung auch im Rahmen religiöser Bildung eingeübt werden kann.
[1] Vgl. Astrid Messerschmidt, Weltbilder und Selbstbilder, Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt am Main 2009, 257.
Bonhoeffer und das Evangelium in Harlem
Ein Jahr lang (1930/31) lebt der 24 Jahre alte Bonhoeffer in New York. Hier studiert er am Union Theological Seminary und lernt durch seinen Kommilitonen Albert Franklin Fisher die Schwarze Kirche kennen. In der Abyssinian Baptist Church – gelegen in Harlem, dem Schwarzen kulturellen und politischen Zentrum der USA – besucht Bonhoeffer nicht nur jede Woche den Gottesdienst, sondern engagiert sich in der Arbeit mit Jugendlichen und Frauen. Hier, so berichtet er später mit kritischem Blick auf die Theologie des weißen Seminars, ist das Evangelium zu spüren, weil es um die Abgründe der menschlichen Erfahrung und die Hoffnung auf Gott geht.[1] Das Leben mit der Schwarzen Kirche beschreibt er schließlich als eines der „entscheidendsten und erfreulichsten“[2] Ereignisse seiner Zeit in New York. Mit dem Schwarzen Theologen Reggie L. Williams lerne ich, diese Begegnung mit der Schwarzen Kirche nicht als eine kurz zu erwähnende Zwischenstation Bonhoeffers auf dem Weg zum „protestantischen Heiligen“ zu verstehen, wobei dann der Einfluss Schwarzer Theologie „entinnert“ [3] wird. Vielmehr begreife ich Bonhoeffers Harlem- Erfahrung mit Williams als einen existentiellen und damit auch theologischen Einschnitt im Leben des jungen Bonhoeffer.[4]
[1] Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Studienbericht für das Kirchenbundesamt (1931), in: Reinhard Staats/Hans Chris- toph von Hase u.a. (Hg.), Barcelona, Berlin, Amerika (1928–1931), Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW) 10, München 1991, 271–275.
[2] Dietrich Bonhoeffer, Studienbericht für das Kirchenbundesamt (1931), DBW 10, 274.
[3] Vgl. Nicola Lauré al Samarai, Inspirited Topography. Über/lebensräume, Heim-Suchungen und die Veror- tung der Erfahrung in Schwarzen deutschen Kultur- und Wissenstraditionen, in: Maureen Maisha Eg- gers/Grada Kilomba u.a. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutsch- land, Münster 2005, 118–134.
[4] Hierzu im folgenden Reggie L. Williams, Bonhoeffer’s Black Jesus. Harlem Renaissance Theology and an Ethic of Resistance, Waco 2014, vor allem 53–106.
Bonhoeffers Wendung vom weißen zum Schwarzen Christus
Zunächst erkennt Bonhoeffer mit Schwarzen Menschen das wahre Anliegen des dominanten Christentums: Weiße Menschen nutzen das Evangelium zum Rechtfertigen ihrer Vor- herrschaft, indem sie das Bild eines weißen Christus erfinden. Damit erschaffen Weiße eine wirkmächtige Ideologie, die das Göttliche mit Weißsein verbindet und Schwarze Menschen zum Gehorsam gegenüber weißen Normen zwingt. Durch die Lektüre Schwarzer Literatur und das Mitwirken in den Harlemer Gottesdiensten lernt Bonhoeffer dagegen die Vorstellung eines Schwarzen Christus kennen.[1] Dieser Christus, so die Schwarze religiöse Tradition, identifiziert sich als Gekreuzigter mit den Gewalterfahrungen Schwarzer Menschen und entlarvt Rassismus als Sünde. Als Auferstandener ist dieser Christus in der Arbeit an einer anderen gesellschaftliche Ordnung gegenwärtig, in der ein freies gutes Leben Schwarzer Menschen möglich ist.[2] In Harlem beginnt nun Bonhoeffers lebenslanges Ringen damit, den weißen Christus loszuwerden und seine theologische Praxis zu verändern – hin zu einer Praxis der Verantwortung gegenüber einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung in der Solidarität mit marginalisierten Menschen. Bonhoeffer, so erklärt Williams, vollzieht durch die Begegnung mit der Schwarzen Kirche die Wendung zum Schwarzen Christus. Dies wird etwa darin deutlich, dass er kurz nach seiner Rückkehr nach Deutschland fordert, die nationalsozialistische Gewalt gegenüber dem deutschen Judentum nicht hinzunehmen, sondern ihr als Kirche zu widersprechen.[3]
[1] Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Literaturbericht „18. Febr. Negro literature“, in: DBW 10, 391–392.
[2] Hierzu auch die grundlegende Arbeit von James H. Cone, The Cross and the Lynching Tree, New York 2011.
[3] Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Die Kirche vor der Judenfrage, in: Carsten Nicolaisen/Ernst-Albert Scharffenorth (Hg.), Berlin (1932–1933), DBW 12, München 1997, 349–358.
Selbstkritik gehört zur christlichen Praxis
Prägend wird für Bonhoeffer nun eine selbstkritische Haltung, die sich nicht als die vermeintlich richtige und sichere Position ausgibt, sondern das stets das Scheitern und das Bruchstückhafte allen christlichen Handelns bedenkt.[1] Diese Haltung ist von Bonhoeffer im Interesse eines rassismuskritischen Bewusstseins zu lernen. Sie führt nicht dazu, die Hände in den Schoß zu legen und angesichts meiner Verwicklung in Rassismus zu verzweifeln. Vielmehr fordert sie mich auf, Kritik an meiner Verwicklung immer wieder anzunehmen und danach zu fragen, was ich durch ein verantwortliches Handeln zu einem weniger rassistischen Zusammenleben beitragen kann.
[1] Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Brief an Eberhard Bethge vom 23. Februar 1944, in: Christan Gremmels/Eberhard Bethge u.a. (Hg.), Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW 8, München 1998, 335–336.
Religiöse Bildung muss rassismuskritisch werden
Ein solcher Beitrag wäre für mich das Entwickeln einer Didaktik rassismuskritischer religiöser Bildung. Zielt religiöse Bildung im Sinne von Inklusion auf die Subjektwerdung aller Menschen, muss sie das Empowerment Schwarzer Lernender unterstützen. Außerdem muss sie weißen Lernenden die Beunruhigung über ihre privilegierte Identität ermöglichen, die zum Ausbilden eines rassismuskritischen Selbstverständnisses befähigt. Dies macht solidaritätsfähig.[1] Solches Lernen könnte zum einen dadurch geschehen, dass die Rede vom Schwarzen Christus in ihrem historischen Kontext Schwarzer Selbstbehauptung auf- gearbeitet und in seiner Relevanz heute zum Thema gemacht wird – gegen die „Entinnerung“ Schwarzer Geschichte. Zum anderen könnte an der Biographie Bonhoeffers die Irritation über weiße Privilegien und das konstruktive Umgehen mit eigenem Scheitern als Herausforderung christlichen Handelns bedacht werden. Hierbei sollte weißen Lernenden keine „Märtyrerbiographie“ auferlegt werden. Sehr wohl könnte aber gemeinsames Nach- denken darüber beginnen, was es für ein solidarisches Zusammenleben – im Sinne rassismuskritischer Arbeit innerhalb und außerhalb der Kirche – bedeuten kann, den weißen Christus loszuwerden.
[1] Zur Subjektorientierung zum Beispiel Martin Rothgangel, Religionspädagogische Konzeptionen und didakti- sche Strukturen, in: Martin Rothgangel/Gottfried Adam u.a. (Hg.), Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 2014, 84–87. Zur Inklusion vor allem Annebelle Pithan, Inklusion, in: Wissenschaftlich- Religionspädagogisches Lexikon (WiReLex), bibelwissenschaft.de/stichwort/100019/ (7.12.2015). Zu Em- powerment und Kritischem Weißsein zum Beispiel Wiebke Scharathow, Empowerment, in: Diakonie Württem- berg (Hg.), Woher komme ich? Reflexive und methodische Anregungen für eine rassismuskritische Bildungs- arbeit, Stuttgart 2015, 120–122.