Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht … oder?

Gedanken zum Verhältnis von Christenmenschen zu Sorgen und Ängsten

 

 

 

 

Antisemitismus

Wurzeln des säkularen Antisemitismus

In der bundesdeutschen und europäischen Antisemitismusforschung spielen Theologie und Kirchengeschichte kaum eine Rolle. Sowohl die Wurzeln des säkularen Antisemitismus, wie auch Teile seiner Gegenwart sind aber christlich religiös bestimmt. Deshalb kommen unter Absehung dieser Bestimmung zentrale Motive, die zum Verstehen von Antisemitismus beitragen könnten, nicht in den Blick.

Für die christliche Theologie gilt, dass die Bearbeitung des Antisemitismus zentral ist für die Aufarbeitung eigener Gewalttraditionen, für ein Akzeptieren der Ambivalenzen im Glauben und für den Verzicht auf christliche Identitätsbildung durch immer wieder auch gewaltförmige Ab- und Ausgrenzung. Abwehr von Ambivalenzen, Identitätsbildung durch Ausgrenzung gerade im Bereich des Nationalen sind auch im säkularen Antisemitismus virulent. Die Antisemitismusforschung müsste sich zum besseren Verstehen theologischen Fragen öffnen.[1] Dann würde sichtbar, dass der säkulare Antisemitismus, fast ließe sich sagen, „gnadenlos“ christlich grundiert ist und erst dann wohl adäquat zu bearbeiten wäre.

Im 20. Jahrhundert haben Horkheimer/Adorno diesen Zusammenhang wohl am deutlichsten gesehen und zum Ausdruck gebracht.

» Schwerlich aber ist die religiöse Feindschaft, die für zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb, ganz erloschen. Eher bezeugt der Eifer, mit dem der Antisemitismus seine religiöse Tradition verleugnet, daß sie ihm insgeheim nicht weniger tief innewohnt als dem Glaubenseifer früher einmal die profane Idiosynkrasie. Religion ward als Kulturgut eingegliedert, nicht aufgehoben. «[2]

Die Art und Weise, wie sich christliche Judenfeindschaft in den säkularen Anitsemitismus eingeschrieben hat und einschreibt, soll hier nicht Gegenstand sein. Dazu wird es in Kürze die Veröffentlichung einer Tagungsdokumentation geben, die um dieses Thema kreist.[3]

An dieser Stelle soll es um eine sicher zu kurze Darstellung christlicher Antisemitismen, den Formen der Bearbeitung und die Desiderate gehen, sowie beispielhaft um christliche Bilder, wie sie sich im „säkularen“ Antisemitismus wiederfinden.

Dabei werde ich vielleicht für manche überraschend den historischen Quellen und Motiven viel Raum geben, weil ich davon überzeugt bin, dass diese Bilder und Motive gegenwartsrelevant und oft übersehen sind.

Vielleicht ist es für eine vermutlich Theologie und Christentum eher fern stehende Leser*innenschaft wichtig, kurz die im Christentum virulenten Themen der Feindschaft gegen das Judentum zu skizzieren.

[1] vgl. dazu auch Klaus Holz, der im modernen Antisemitismus eine von Rekombination von Säkularem und Religiösem sieht. Luthers Abweg. Die evangelische Kirche stellt sich dem Judenhass des Wittenberger Reformators. Für die unselige Geschichte, wie der Protestantismus völkisch wurde, bleibt sie blind, in: Die ZEIT, 24. November 2016, S. 49.

[2] Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung, in: Dies., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt am Main 1998, 177-217, hier 185.

[3] Klaus Holz, Christian Staffa (Hg), „Antisemitismus als politische Theologie“, epd Dokumentation voraussichtlich im April  2017.

 

 

Gottesmord

Da ist zunächst der klassische und tatsächlich schon im Neuen Testament angelegte Vorwurf des Gottesmordes. Dies setzt erstens voraus, dass Jesu Tod am Kreuz nicht den Römischen Behörden, sondern den Juden zugeschrieben, sowie zweitens dass Jesus Christus nicht nur als Sohn Gottes sondern als gottgleich verstanden wird. Das eine ist historisch und das andere biblisch kaum zu belegen[1] und weist auf die spätere (un-)heilsgeschichtliche Erzählung. Die innere christliche Logik des Todes von Jesus Christus als durch seine Auferweckung bestätigtes Heilsgeschehen an Juden und den Völkern, also allen Menschen wird mit dem Mordvorwurf an die Juden konterkariert. Zugespitzt und theologisch etwas unterkomplex gesagt: wäre es ein an den Juden zu bestrafender Gottesmord, dann wäre es kein Erlösungsgeschehen. Ist es ein Erlösungsgeschehen, dann bleibt es zwar ein römischer Justizmord, aber die Verantwortlichen sind zumindest Werkzeuge Gottes im Sinne der geglaubten Erlösung.
Der Gottesmordvorwurf an die Juden korrespondiert mit der für die spätere Kirche kränkenden, wie auch dem absoluten Wahrheitsanspruch der Kirche widerstreitenden Tatsache, dass die meisten Juden und Jüdinnen sich nicht zu dem sich auf die Verheißungen des Alten Testamentes beziehenden und aus ihnen geborenen neuen Glauben an den Messias Jesus bekannten.

[1] S. dazu Klaus Wengst, Nicht im Kontrast, sondern in seinem Kontext: Zum Verstehen des Neuen Testaments, in: Edith Perschnigg, Irmtraud Fischer (Hrsg.), Der „Jüdisch-Christliche Dialog“ veränderte die Theologie. Ein Paradigmenwechsel aus ExpertInnensicht. Wien 2016, S. 112-147, S.120. „Setzt man diese (die dogmatische, cs) Brille ab und nimmt die entsprechenden Aussagen in ihrem biblisch-jüdischen Kontext wahr, kann von einer Gottheit Jesu keine Rede sein, sehr wohl aber das Zeugnis vernommen werden, dass in diesem jüdischen Menschen kein Geringerer als Gott selbst zu Wort und Wirkung kommt.“

Verrat

Das angebliche Verratsmotiv des Judas ist wiederum eine Steigerung in diesem der inneren Logik des als Teil des göttlichen Heilsgeschehen verstandenen Todes Jesus widerstreitenden Glaubens- und Denkmodell. Judas verrät Jesus an die römischen Soldaten angeblich durch einen Kuss. Der Bruch mit der inneren Logik des Heilsgeschehens ist bereits erwähnt. Die zweite Irritation entsteht, wenn wir wissen, dass Jesus ja schon einige Berühmtheit erlangt hatte, die Sicherheitsbehörden also kaum auf ein körperliches Signal zur Markierung des zu Ergreifenden angewiesen waren. Dass für diese Markierung auch noch Geld bezahlt worden sein soll, ergänzt die Theorie der Verstrickung und sie endet fast notwendig mit der Bestätigung des Bösen durch seinen Selbstmord.

Für die Kirchenväter der alten Kirche wurde dann Judas zum Sinnbild für die Juden.

»Eusebius (347–420) schreibt in seinem Kommentar zu Ps 109 (= LXX Ps 108): „Was sich im Einzelnen als Geschichte des Judas darstellt, ist generell die Geschichte der Juden.“ Wenn es in Ps 109,9 heißt „seine Kinder sollen  Waisen werden und seine Frau eine Witwe“, so bezieht Eusebius dies in spiritueller Hinsicht auf Judas, der laut biblischer Überlieferung keine Kinder hatte: „Wer sind wohl die Söhne von Judas? Die Juden. Die Juden tragen nämlich ihren Namen nicht nach Juda [dem Sohn Jakobs], der ein heiliger Mann war, sondern nach dem Verräter Judas. In der Linie von Juda sind wir [Christen] Juden im Geiste – in der Linie des Verräters Judas aber stehen die Juden nach dem Fleisch.«[1]

Juden sind also nach dieser Lesart nicht nur Nachfolger des Judas und damit eben auch die Gottes-Verräter, sondern fortan das umfassend negative Gegenbild zu den Christen. Alt gegen neu, Fleisch gegen Geist, Gesetz gegen Gnade, Rache gegen Liebe und in moderneren Zeiten unter anderem direkt an diese Dualismen anschließend Partikularität gegen Universalität und Gewalt gegen Gewaltlosigkeit.

Sehen wir auf das wenige, was wir historisch über Judas wissen können, wie auch über das gesellschaftliche und politische Umfeld zu Zeiten Jesu, verstehen wir in aller Vorsicht einmal mehr, warum Judas zu dieser Zerrfigur wird. Judas, der Zelot, gehörte einer Gruppe an, die die Römer aus dem Land treiben wollte. Diese angestrebte Befreiung wurde von manchen Gruppen verbunden mit einer umfassenden Hoffnung auf den Beginn des verheißenen Reiches Gottes[2]. Judas´ Hoffnung auf Jesus, den Christus, also den Messias war – das verlässt nun den historisch sicheren Grund, aber ermangelt nicht der Plausibilität – diese und die wirkliche Veränderung der Welt hin zu Gerechtigkeit und Frieden, wie sie in den Schriften der hebräischen Bibel, des sogenannten Alten Testamentes, angekündigt werden. Amoz Oz hat in seinem großartigen Buch Judas diese Hoffnung des Judas ausgelegt.

»Ich glaubte, der Tod könne ihm nichts anhaben. Ich war überzeugt, dass sich heute in Jerusalem das größte Wunder von allen ereignen würde. Das letzte Wunder, nach dem es auf der Welt keinen Tod mehr geben würde….Das Wunder, das das himmlische Königreich bringen würde, so dass es auf der Welt nur noch Liebe gäbe.«[3]

Judas also ist der personifizierte Einspruch gegen die nicht eingetretene und doch versprochene radikale Weltveränderung: die Entthronung der Mächtigen, die Erhöhung der Niedrigen und je nach Glaubensrichtung die Überwindung des Todes. Dieser Einspruch, der eben auch der jüdische Einspruch gegen das christliche Messiasverständnis ist, saß wie ein Stachel im Fleisch der sich der weltlichen Macht anschmiegenden Kirche, und wurde dementsprechend denunziert. Zugespitzt ließe sich sagen, dass die eigene Unsicherheit wegen der ausstehenden Erfüllung der Verheißungen zu einer Selbsterhöhung von Kirche und zu einer dramatisch und realen, spätestens ab dem Beginn des zweiten Jahrtausends auch zu einer tödlichen Ausgrenzung dieser dann dem Judentum zugeschriebenen Frage bzw. der Frager geführt hat.

[1] Zitiert bei: Volker Haarmann, Hintergrund: Judas, der Jünger Jesu, in neutestamentlichen Überlieferungen und in der Alten Kirche, in: Der Jude als Verräter, Eine Arbeitshilfe zum Wittenberger „Reformationsaltar“ von Lucas Cranach dem Älteren im Kontext des christlich-jüdischen Verhältnisses, Düsseldorf 2015, S. 4-7, S.6.

[2] Kaum jemand hat das zeitliche und gesellschaftliche Umfeld Jesu so eindrücklich geschildert wie Lion Feuchtwanger im „Jüdischen Krieg“, Frankfurt a.M. 1982.

[3] Amoz Oz, Judas, Berlin 2015, S. 295

Nicht Ablösung, sondern Mutter-Tochter oder gar Geschwisterbild – fragliche Ursprünge

Die neuere Forschung hat nun die Komplexität noch erhöht.[1] Es ist sehr viel unsicherer geworden, wie eigentlich von den jeweiligen Parteien der neutestamentlichen Geschichte zu reden sei. Der Satz die ersten Christen waren Juden gilt wohl für alle Autor*innen des Neuen Testamentes. Was heißt das für die Beziehungen von Juden und Christen, von judenfeindlichen Äußerungen im Neuen Testament? Zunächst einmal so viel: Es sind zumeist feindliche Äußerungen einer jüdischen Gruppe gegenüber einer anderen mit jeweiligen Ausschlussforderungen und Ausgrenzungsargumenten. Diese innerjüdischen Argumente werden in der Hand der dann spätestens seit dem  4. Jahrhundert sich als nichtjüdische Christen verstehenden Kirche, die zur Staatsreligion wird, zu Waffen gegen das Judentum, das sich dem christlichen Glauben nicht anschließt.

[1] S. Daniel Boyarin, Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums. Arbeiten zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte. Bd. 10; Arbeiten zur Bibel und ihrer Umwelt. Bd. 1. Berlin/Dortmund 2009, oder Die jüdischen Evangelien. Die Geschichte des jüdischen Christus. Judentum – Christentum – Islam. Interreligiöse Studien. Bd. 12, Würzburg 2015.

Projektion

An diesen drei Beispielen lässt sich sehen, dass Judenfeindschaft auf einem Selbstbild aufbaut. Dieses kirchliche Selbstbild kann schwer seine eigene Bedingtheit im Judentum und seine Angewiesenheit auf das Judentum akzeptieren. Der schwer zu akzeptierende Umstand sich nicht einstellen wollender spürbarer und sichtbarer „Erlösung“ wird dem Unglauben der Juden zugeschrieben. Sie werden zu den Prototypischen Ungläubigen, die gerade dadurch den Glauben der Christen bestätigen. Nicht mehr der Glaube wird bewiesen, sondern der Unglaube der anderen. Diese Figur der Projektion verweist einmal mehr darauf, dass es im Antisemitismus nicht um irgendeine reale Eigenschaft oder historische Beschreibung von Juden, sondern um die Sicherung und Entwicklung eines christlichen oder dann in Folge bzw. parallel nationalen, kulturellen Selbstbildes geht.

Im Kern ist also die Judenfeindschaft getragen von einem Selbstbild, das alles Ambivalente und/oder Negative bis hin zu dem eigenen permanent drohenden Fall in den Unglauben, weil eben im biblisch radikalen Sinne so wenig zu sehen ist von einer positiven Veränderung der Welt, anderen zuweist und es an ihnen auch bekämpft oder im wahrsten Sinne des Wortes exekutiert.

Drei Horizonte scheinen mir nach dieser etwas gundlegenderen kurzen Einführung für die Fragen nach dem Zusammenhang christlicher Glaubensüberzeugungen und christlicher Theologie mit antisemitischen Einstellungen in dem schier unübersehbaren Material hilfreich für ein ansatzweises Verständnis in der Gegenwart.

Ergebnisse kirchlicher Reflexionsprozesse

Schauen wir auf kirchliche Stellungnahmen der jüngeren Geschichte mit Akzent auf protestantische. Denn durch die Reformationsgeschichte und die überdurchschnittlich hohe Kollaborationsbereitschaft und Verstrickung  mit dem NS Regime ist dem deutschen Protestantismus Gewaltaffinität und Judenfeindschaft mehr als der katholischen Seite zur Bearbeitung aufgegeben. Die zentralen Themen der protestantischen Erklärungen und wohl auch das Movens der sehr offenen katholischen Grundlegung eines neuen Verständnisses im Zweiten Vaticanum 1964 waren die erschütternde Mit-Schuld an der Shoah, deren Gründen in der Theologie nachgegangen wurde.

Das Neue (Neues Testament, Neuer Bund, neues Jerusalem und Neues Israel …) wurde in der Geschichte der Kirchen als das Gute verstanden, das Alte (Judentum, Altes Testament-also der hebräische Teil der Bibel, der traditionell Altes Testament genannt wird) als das Schlechte. Alle prophetische Rede im Alten Testament zur gelingenden Zukunft und der Kritik an Herrschaftsverhältnissen biblischer Zeiten wurde und wird zum Teil noch heute verstanden als Kritik am Judentum. Die verheißene und in Teilen gelingende Zukunft wurde als die christliche verstanden. In christlicher Rezeption wurde das Alte abgelöst, für untauglich und feindselig erklärt, denunziert, diskriminiert und dann um der Sichtbarmachung der eigenen Erlösung willen negativ markiert und letztlich fast ausgelöscht.

Inzwischen haben nun die meisten Landeskirchen folgende Elemente in ihren Grundordnungen aufgenommen:
» die Absage an den Antisemitismus,

das Eingeständnis christlicher Mitverantwortung und Schuld am Holocaust,

die Erkenntnis der unlösbaren Verbindung des christlichen Glaubens mit dem Judentum,

die Anerkennung der bleibenden Erwählung Israels,

die Bejahung des Staates Israel.«[1]

Das ließe sich auch zusammenfassen mit dem einen Satz:  Judenfeindschaft und Antisemitismus sind Unglaube.

Damit löst sich die protestantische Kirche von den Grundlagen der Judenfeindschaft in ihrer Theologie und gibt diesen Erkenntnissen gleichsam Verfassungsrang.

Dem lassen sich noch zwei wichtige neue Erklärungen der EKD  hinzufügen, eine von 2015 zum Reformationsjubiläum und eine von 2016 zur Abwehr von Judenmission.

» Wir stellen uns in Theologie und Kirche der Herausforderung, zentrale theologische Lehren der Reformation neu zu bedenken und dabei nicht in abwertende Stereotype zu Lasten des Judentums zu verfallen. Das betrifft insbesondere die Unterscheidungen „Gesetz und Evangelium“, „Verheißung und Erfüllung“, „Glaube und Werke“ und „alter und neuer Bund“.

Wir erkennen, welchen Anteil die reformatorische Tradition an der schmerzvollen Geschichte der „Vergegnung“ (Martin Buber) von Christen und Juden hat. Das weitreichende Versagen der Evangelischen Kirche gegenüber dem jüdischen Volk erfüllt uns mit Trauer und Scham. Aus dem Erschrecken über historische und theologische Irrwege und aus dem Wissen um Schuld am Leidensweg jüdischer Menschen erwächst heute die besondere Verantwortung, jeder Form von Judenfeindschaft und -verachtung zu widerstehen und ihr entgegenzutreten.«[2]

Hier wird auf grundlegende Kategorien der Reformation verwiesen, die die Abwertung jüdischen Glaubens implizieren. Damit ist ein in der kirchlichen Diskussion nicht unumstrittener Arbeitsauftrag der Prüfung gegeben, theologische Kategorien, die in der Geschichte judenfeindlich wirksam wurden, nicht als akzidentielle oder kontextuelle Folge zu werten, sondern auf die Theologie selbst zu zielen.

»Wir bekräftigen: Die Erwählung der Kirche ist nicht an die Stelle der Erwählung des Volkes Israel getreten. Gott steht in Treue zu seinem Volk. Wenn wir uns als Christen an den Neuen Bund halten, den Gott in Jesus Christus geschlossen hat, halten wir zugleich fest, dass der Bund Gottes mit seinem Volk Israel uneingeschränkt weiter gilt. Das nach 1945 gewachsene Bekenntnis zur Schuldgeschichte gegenüber den Juden und zur christlichen Mitverantwortung an der Schoah hat zu einem Prozess des Umdenkens geführt, der auch Konsequenzen im Blick auf die Möglichkeit eines christlichen Zeugnisses gegenüber Juden hat.
Christen sind durch den Juden Jesus von Nazareth mit dem Volk Israel bleibend verbunden. Das Verhältnis zu Israel gehört für Christen zur eigenen Glaubensgeschichte und Identität. Sie bekennen sich „zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist“ (EKIR, Synodalbeschluss von 1980).

Wo in Verkündigung und Unterricht, Seelsorge und Diakonie das Judentum verzeichnend oder verzerrt dargestellt wird, sei es bewusst oder unbewusst, treten wir dem entgegen. Wir bekräftigen unseren Widerspruch und unseren Widerstand gegen alte und neue Formen von Judenfeindschaft und Antisemitismus.«[3]

Welch ein weiter Weg hier zurückgelegt wurde, lässt sich aus der Differenz zum Wort des in der Regel als linksprotestantisch verstandenen Bruderrats von 1948 ersehen, das ein Bußwort sein sollte zur eigenen Verstrickung in die NS-Ideologie:

» Die Erwählung Israels ist durch und seit Christus auf die Kirche aus allen Völkern, Juden und Heiden, übergegangen… Israel unter dem Gericht ist die unaufhörliche Bestätigung der Wahrheit, Wirklichkeit des göttlichen Wortes und die stete Warnung Gottes an seine Gemeinde. Daß Gott nicht mit sich spotten läßt, ist die stumme Warnung den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht.«[4]

Für die katholische Kirche ist, wie schon erwähnt, eine ähnlich grundlegende Umkehr zu konstatieren:

» Die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den Juden Nosta aetate Nr. 4 ist das kürzeste und mutigste Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils . Sie war auch die am meisten umstrittene Erklärung, die am Ende aber fast einstimmig verabschiedet wurde. In ihr heißt es: Das jüdische Volk darf nicht des Gottesmordes bezichtigt – es darf nicht als von Gott verworfen und verflucht dargestellt werden – Antisemitismus ist in jedem Fall verwerflich.«[5]

Trotz dieser enorm positiven und angesichts der langen Geschichte institutionell getragener christlicher Judenfeindschaft, der langen antisemitischen Grundhaltung  auch nach Albert Scherrs Einschätzung kaum zu überschätzenden Entwicklung kirchlicher Positionierungen seit 1945 bleibt die Frage nach der Tiefenwirkung dieser positiven Entwicklung berechtigt und eine Herausforderung an säkulare Forschung, wie an christliche Selbstreflexion, Forschung und Lehre.

»Mit diesen Feststellungen ist aber zunächst noch nichts darüber ausgesagt, ob und ggf. wie gleichwohl eine Tradierung von antisemitischen Haltungen und Stereotypen in evangelisch geprägten Milieus sowie im institutionellen Alltag der evangelischen Kirche (schulischer Religionsunterricht, Konfirmandengruppen und evangelische Jugendarbeit, Gottesdienste und sonstige Kommunikation in  den Kirchengemeinden) erfolgt. Denn es kann ersichtlich nicht davon ausgegangen werden, dass sich die kirchliche Alltagskommunikation und den Einstellungen von Kirchenmitgliedern unmittelbar an gegenwärtigen amtskirchlichen und theologischen Vorgaben orientieren.«[6]

Dabei ist eine Formulierung in Scherrs Gutachten zu bestreiten. Er fordert dazu auf, die »genuin antisemitischen Inhalte im neuen Testament« einer Bearbeitung zu unterziehen. Folgen wir den neueren Erkenntnissen der Judaistik jüdischer und christlicher Provenienz, dann ist deutlich, dass das Neuen Testament ein jüdisches Buch ist. Korrekt und von großer Bedeutung wäre dann eine Formulierung, die von antisemitisch rezipierten Stellen im Neuen Testament spricht und was sie im historischen Kontext bedeutet haben mögen.[7]

Interessanter scheint es mir, in kirchlichen Bildungskontexten und auch in der Theologiebildung die Frage zu stellen, wie es denn zu dieser Not kommen kann, dass der eigene Unglaube am Juden gesehen und gestraft wird, das Selbstbild als Christin oder Christ  in der Geschichte verlangte, dass die Juden als die anderen markiert und des Lebens beraubt wurden?

[1] S. Den Rheinischen Synodalbeschluss zum Verhältnis von Christen und Juden weiterdenken

Eine Arbeitshilfe zum trinitarischen Reden von Gott, zum Verhältnis der Völker zu Israel, zur theologischen Bedeutung des Staates Israel und zur Gestaltung von Gottesdiensten in Verbundenheit mit dem Judentum, Düsseldorf 2008, S.118.

[2]https://www.ekd.de/synode2015_bremen/beschluesse/s15_04_iv_7_kundgebung_martin_luther_und_die_juden.html

[3] Kundgebung „… der Treue hält ewiglich.“ (Psalm 146,6) – Eine Erklärung zu Christen und Juden als Zeugen der Treue Gottes, 09. November 2016, http://www.ekd.de/synode2016/beschluesse/s16_05_6_kundgebung_erklaerung_zu_christen_und_juden.html

[4] http://www.theology.de/download/1947%20Darmstaedter%20Wort.doc (02/2006)

[5] http://weltkirche.katholisch.de/Themen/Interreligi%c3%b6ser-Dialog/Br%c3%bccken-bauen-zwischen-Christen-und-Juden

[6] Albert Scherr, Expertise‚ Verbreitung von Stereotypen über Juden und antisemitischer Vorurteile in der evangelischen Kirche, 2011, http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/Gesellschaft/Verfassung/Expertenkreis_Antisemmitismus/scherr.pdf?__blob=publicationFile, S.4

[7] S. a.a.O., S. 15

Bleibend offene Fragen

Alle zitierten Beschlüsse der Kirchen, so grundlegend sie die Position zum Judentum neu formulieren, legen keine Rechenschaft darüber ab, warum denn in der Kirchengeschichte es zu dieser gewaltförmigen Negativsicht auf das Judentum gekommen ist. Sie kommen den Mechanismen nicht auf die Spur, die, so ließe sich jedenfalls fragen, vielleicht schon in der komplizierten Konstruktion von schon und noch nicht angelegt ist, also von schon jetzt im Glauben erfülltem Heil und doch noch ausstehender Erlösung, von schon geschehenem Sieg über den Tod in Jesu Auferweckung und dem täglichen Sterben. Im guten Falle bezieht sich die Weltsicht christlichen Glaubens demütig auf das Judentum als Volk Gottes, von dem als Hinzukommende zu lernen sei, wie es sich in der Geschichte mit der Weisung Gottes und dem eigenen immer wiederkehrenden Abweichen vom Weg bewegt hat. Im schlechten Falle aber wiederholen die Christen endlos das Opfer, an dessen Kraft sie nicht glauben können.[1] Sie stellen die Juden zum Erweis der christlichen Wahrheit bewusst schlechter, um sich so in erfahrbar wenig erlöster Wirklichkeit ihrer ungewissen Wahrheit doch zu vergewissern.
Der Kirchenvater Augustinus (354-430) formuliert das in De Civitate Dei (420) so: » Die Juden sind Zeugen ihrer Bosheit und unserer Wahrheit.“[2] Erst bei der Wiederkehr Jesu Christi würden sie sich bekehren; bis dahin seien sie für Gottes Heilsplan notwendig. Darum müssten christliche Herrscher sie schützen. Deshalb seien die Juden in untergeordneter Stellung zu halten, um an ihnen die Überlegenheit des Christentums spürbar also gleichsam alltagsrelevant demonstrieren zu können.

»Wir beachten also die Sakramente nicht, die dort vorgeschrieben sind, weil wir verstehen, was dort vorhergesagt ist [von Christus], und weil wir besitzen, was dort versprochen ist. […] und wie sollten sie aufrecht sein und ihr Herz erheben, über die vorhergesagt ist: ‚Und ihr Rücken sei stets gebeugt‘ (Ps 69, 24).«[3]

Sehr verdichtet scheint hier der Zusammenhang von Enterbung oder Substitution, Selbstrechtfertigung (wir sind aufrecht) und wahrlich körperlicher Unterdrückung (gebeugt) der Juden auf.

Warum also brauchte und braucht in Teilen noch immer  der christliche Glaube eine Negation, an der er sich als gut erweisen kann?   Warum ist er oder sind die Christen auf die Abwertung des eigenen Ursprungs- und bleibenden Geschwisterglaubens angewiesen?

Die schiere Existenz des Judentums war den Kirchen in ihrer Geschichte – und auch das gilt nicht selten bis heute – eine narzisstische Kränkung.

Die eigene Unsicherheit, der eigene Unglaube, in christlicher Sprache auch Sünde genannt, wird der fortwährenden Existenz des Judentums in gewaltförmiger Umkehrung zugewiesen. Deshalb ist das Judentum immer das je phantasierte machtvolle und falsche andere.[4]

[1] S. das vielleicht beste Bild für die Begründung christlichen Antisemitismus: »Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Ihr Gelüste ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis. Den Juden mit dieser Schuld beladen, als Herrscher verhöhnt, schlagen sie ans Kreuz, endlos das Opfer wiederholend, an dessen Kraft sie nicht glauben können.«
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Elemente des Antisemitismus, in: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S.151-186, Frankfurt a.M. 1971, S.151.

[2] Ernst Bammel: Die Zeugen des Christentums. In: Herbert Frohnhofen: Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus: Ihre Motive und Hintergründe in den ersten drei Jahrhunderten. Theologischer Verlag, Zürich 1990, S. 171

[3] S. Karl Heinrich Rengstorf, Siegfried von Kortzfleisch (Hrsg.): Kirche und Synagoge: Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen, Band 1. 1968, S. 94

[4] Vgl. dazu die grundlegende Arbeit in der Linie des ähnlich großen Wurfes Geschichte des Antisemitismus von Leon Poliakov den Durchgang durch die Geschichte des Antisemitismus von David Nirenberg, Antijudaism – The western tradition“, New York 2013

Säkularisierte Glaubensfiguren

Diesen Projektions- und Delegationsmechanismen auf die Spur zu kommen und damit auch den historischen und gegenwärtigen Konstruktionen des Selbst- und Weltbilds, ist bleibend Desiderat in der Theologie und auch in der kirchlichen Bildungsarbeit. Die positiven Näherungen, die die Ev. Religionspädagogik an die Anderen bevorzugt, ist als Bearbeitungsform unzureichend. Lässt diese Form der Annäherung doch die eigenen Negativprojektionen unbearbeitet und damit unverstanden. Die Schulderklärungen der Kirchen helfen da mehr, aber benötigen Begleitung durch fundamentale Veränderungen in den Lehrinhalten und Reflexion der christlichen Selbstbilder. Diese Aufgabe liegt bleibend vor uns.

Dabei ist nicht zu übersehen, dass immer noch konkrete Themen, die in den Erklärungen als zu bearbeiten angesprochen werden, nicht in produktiver Weise in Gemeinden und Konfirmanden- und Religionsunterricht bearbeitet werden. Zu nennen sind beispielhaft hier das immer wieder auftauchende Bild des jüdischen Rachegotts, das Bild des jüdischen Heuchlers, das im Reden vom Pharisäer nicht nur in den Medien bleibend ein Klassiker ist, das Bild des Juden, der und die sich als Besonderes gebärdet – Stichwort Erwählung, die Bilder vom guten Judentum, das sich universell versteht und nicht partikular, Gott bewahre, gar national. Letzteres führte der Pfarrer Jochen Vollmer vor, in einer Weise, die zu berechtigten großen Einsprüchen, aber auch zu Solidarisierungseffekten führte.
Auch kaum zu übersehen ist, welche Rolle die Kirchen in der Herausbildung und Einwurzelung antisemitischer Stereotypen in die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht nur der sogenannten westlichen Zivilisation gespielt haben. Ihre Verantwortung gilt deshalb auch dem Aufspüren der christlichen Bestände im säkularen Antisemitismus.

Opferstilisierungen

»Darauf spekuliert tatsächlich einer der wesentlichen Tricks von Antisemiten heute: sich als Verfolgte darzustellen; sich zu gebärden, als wäre durch die öffentliche Meinung, die Äußerungen des Antisemitismus heute unmöglich macht, der Antisemit eigentlich der, gegen den der Stachel der Gesellschaft sich richtet, während im allgemeinen die Antisemiten doch die sind, die den Stachel der Gesellschaft am grausamsten und am erfolgreichsten handhaben.«[1]

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist Adornos Vortrag alt, doch das von Adorno erwähnte heute ist noch längst nicht unser gestern.

Antisemitische Welterklärungsmuster beschreiben sich als den Juden unterlegen und suggerieren Angst vor vom Antisemiten phantasierten und selbst gewünschten jüdischen geheimen Mächten.

Die im Antisemitismus grundlegende Selbststilisierung als Opfer der Juden und das damit einher gehende Unterlegenheitsgefühl gehen zurück auf christliche Tradition. Da ist vermutlich das erwähnte Gottesmordmotiv Grund legend, das durch Identifikation der Christen mit ihrem Christus die Juden in der Verfolgerrolle phantasiert. Unter Bedingungen kirchlicher Herrschaft und realer Verelendung und Verfolgung von Juden wird diese Zuschreibung zwar absurd, aber gleichwohl durchgehalten.

Zu Luthers Zeiten, als aus den meisten deutschen Ländern die Juden vertreiben waren, klingt diese Phantasie so:

»… Nun siehe, welch eine feine, dicke, fette Lüge das ist, da sie klagen, sie seien bei uns gefangen. Es sind über 1400 Jahre, daß Jerusalem zerstöret ist, und wir Christen zu der Zeit schier 300 Jahre lang von den Juden gemartert und verfolget sind in aller Welt (wie droben gesagt), daß wir wohl möchten klagen, sie hätten uns Christen zu der Zeit gefangen und getötet, wie es die helle Wahrheit ist. Dazu wissen wir noch heutigen Tages nicht, welcher Teufel sie her in unser Land gebracht hat; wir haben sie zu Jerusalem nicht geholet.« [2]

­Dieser Mechanismus ist wohlbekannt in allen Schattierungen. Selbststilisierungen als Opfer (nicht nur der jüdischen Finanzlobby) sind Legion.

[1] Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. In: Das Argument 29, Jg.6 1964

[2] Martin Luther, Von den Jüden und ihren Lügen, Weimarer Ausgabe LIII, S. 520

Geld

»Da ist zum Beispiel die Frage des Geldes und des Wuchers, was aus dem Mittelalter überkommen ist, das ist auch ein Motiv, was sich im christlichen Antijudaismus findet. Und dann, was immer kommt, auch im modernen Antisemitismus, ist auch die Frage des Kindermordes, also dass Juden zu Pessach Kinderblut gebrauchen, um ihre Matze zu backen. Und das findet man dann bis heute auf Demos, die sich mit dem Palästinenserkonflikt befassen, wenn dort „Kindermörder Israel“ gerufen wird. Dann ist das zumindest ein Resonanzraum.«[1]

Sicher ist es schon fast banal, dieses Thema anzuspielen. Gleichwohl sollte es nicht immer nur am Zinsverbot und den daraus resultierenden anfänglichen Zuweisungen des Geldverleihgewerbes an Juden fest gemacht werden. Weitere Dimensionen wären zu ergänzen, nämlich erstens im Sinne der Projektionsthese der eigene uneingelöste Wunsch nach Reichtum. Zweitens ließe sich auch hier noch einmal über die Judas Figur nachdenken, die für einen (nicht stattgehabten) Verrat bezahlt wird, verzweifelt, nicht sich zur Gruppe der Jünger zurück begibt, sondern unglücklich sich das Leben nimmt. Die Negativbesetzung des Geldes scheint mir hier gleichsam unheilsgeschichtlich also religiös verankert und als solche übersehen.
Sie spielt auch in einer befreiungstheologischen Perspektive auf Israel eine Rolle. So zitiert Ulrich Duchrow zustimmend: »„Im westlichen Imperium ist Israel also das Extrem der westlichen kolonialistischen, kapitalistischen, imperialen, wissenschaftlich-technischen, gewalttätigen Eroberungskultur der letzten 500 Jahre. «[2] Israel wird so zum Sinnbild der Negativität nicht nur des Geldes, sondern von allem, was damit zusammenhängend negativ anzuführen sein könnte.

[1] Stefanie Schüler Springorum,  DRadio Interview
http://www.deutschlandfunk.de/kirche-und-antisemitismus-antisemitismus-als-politische.886.de.html?dram%3Aarticle_id=378021

[2] Armut und Ausgrenzung überwinden : Impulse aus Theologie, Kirche und Diakonie : Festschrift für Dr. Wolfgang Gern, Leipzig 2016. Fussnote 33.

­Dieser Mechanismus ist wohlbekannt in allen Schattierungen. Selbststilisierungen als Opfer (nicht nur der jüdischen Finanzlobby) sind Legion.

[1] Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. In: Das Argument 29, Jg.6 1964

[2] Martin Luther, Von den Jüden und ihren Lügen, Weimarer Ausgabe LIII, S. 520

Kindermordvorwurf

Wer diese Interpretation und die Korrespondenz oder Verabredung mit biblischen Bildern als zu spekulativ empfindet, sei an das in der modernen emotionalisierten Israelkritik von Stefanie Schüler-Springorum schon erwähnte Motiv des Kindermordes erinnert. Ist es doch nicht leicht verständlich, dass fast ausschließlich Israel mit dem Kindermordvorwurf so explizit bedacht wird, in Parolen und auch in der Bildsprache der Medien. Aus meiner Sicht ist das nicht zu denken ohne die Geschichte des Ritualmordvorwurfes, der besagt, dass die Juden aus dem Blut der geraubten Kinder ihr Pesachbrot backen. Die Verknüpfung mit Pesach als der Zeit, in der Jesus gekreuzigt wurde, ist sicher kein Zufall. Stellt doch das Pesachfest ein prominentes Glaubenszeugniss des Judentums dar, das aus christlicher Perspektive gleichsam negativ mit dem Kreuzestod und dem eigenen Glauben korrespondieren. So wäre der Kindermordvorwurf – neben der sicher immer noch damit verbundenen Projektion eigener Aggressivität gegen Kinder – der Beleg für den Ausschluss Israels aus der (christlichen) Völkerfamilie.

­Dieser Mechanismus ist wohlbekannt in allen Schattierungen. Selbststilisierungen als Opfer (nicht nur der jüdischen Finanzlobby) sind Legion.

[1] Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. In: Das Argument 29, Jg.6 1964

[2] Martin Luther, Von den Jüden und ihren Lügen, Weimarer Ausgabe LIII, S. 520

Partikularität und Universalität

»Das Vermächtnis des jüdischen Volkes an die Menschheit ist der Glaube an den einen Gott und die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Gott hat den Menschen nach seinem Bild geschaffen. Darum ist der Mensch, jeder (!) Mensch, Gott heilig. Dieser Glaube wird im Schöpfungshymnus Gen. 1 bezeugt. In den nationalistischen Traditionen des Dtn. und des deuteronomistischen Geschichtswerks wird der universale Topos der Gottebenbildlichkeit verkannt und der Glaube vertreten, Gott würde um Israels willen die anderen Völker und Menschen preisgeben. «[1]

Verräterisch ist die Sprache: Das Vermächtnis des jüdischen Volkes. Wie das Wort alttestamentarisch schleicht sich ein unbewusster Beleg dafür ein, dass es mit diesem Volk vorbei ist. Immerhin hat es Großes hinterlassen, das im Christentum,  sich verewigt. Das Christentum ist der wahre Erbe des Judentums, weil es ohne jenes deuteronomistische Geschichtswerk auskomme und für Universalität stehe. Auffallend neben der Erbschafts- und damit tendenziellen Enterbungssprache ist wiederum das Auskommen ohne biblisch theologische Logik. Es wäre doch zu fragen, warum eben jene beiden Dimensionen, das Partikulare und das Universale in der hebräischen und damit auch in der christlichen Bibel vorkommen? Stattdessen wird konstatiert, dass die eine Seite der Heiligen Schrift das Zentrale verkennt. Dass diese partikulare Tradition mörderisch sein soll, nimmt dann ein altes Feindmotiv wieder auf. Hier ließe sich des Weiteren auf Stimmen verweisen, die Israel vor sich selbst retten wollen, weil sie wie Jochen Vollmer Israel wahlweise die Bibel besser verstehen als sie sich selbst, so wie in dieser Tradition die christliche Interpretation des Alten Testamentes die wahre Auslegung jenes jüdischen Teiles der Heiligen Schrift darstellt.
Wichtig ist an dieser Stelle, aber auch bezogen auf fast alle Konflikte im Kontext antijüdischer Ressentiments wie z.B. der Beschneidungsdebatte, zu betonen, dass weite Teile der Kirchenleitungen in Deutschland sich gegen antijüdische theologische Positionen stellen. Wie schon erwähnt, heißt dies nicht viel bzw. nicht unbedingt Bestimmtes für die Positionierung der kirchlichen Basis und sicher nichts für das gesellschaftliche und kirchliche Bewusstsein für die christlich religiöse Grundierung antisemitischer Stereotypen.

Zusammenfassend lässt sich dieses Auseinanderdriften kirchlicher Basis und theologischer Grundlegungen der Landekirchen und der EKD konstatieren und als Aufgabe der Zukunft beschreiben. Zudem muss hier noch einmal auf die kirchliche Verantwortung für eben diese christliche Grundierung des Antisemitismus und dessen nachhaltige Verankerung im gesellschaftlichen Bewusstsein und die oft unverstandene Projektionsfigur verwiesen werden.  Pädagogische und politische sowie theologische Aufgabe bleibt, diese in den Blick und in Angriff zu nehmen. Über positive Annäherungen an den oder die Andere wird es nicht gehen, da nicht der oder die Andere sondern das Selbstbild und dessen Rettung oder Idealisierung als Religion, als Nation, als Mensch Gegenstand jener Negativität und jener Feindschaft ist. Und nicht zuletzt: Wer nichts von christlicher Judenfeindschaft versteht, versteht den Antisemitismus nicht.

[1] Jochen Vollmer , Der Israel-Palästina-Konflikt und die Befreiung der Theologie
Vom Nationalgott Jahwe zum Herrn der Welt und aller Völker Dt Pfarrerblat 8/2011, http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=3030, Abschnitt 5