Theo-Politische Implikationen christlicher Bildungspraxis

 

 

AntisemitismusAntiziganismusDiskriminierungRassismus

Beitrag erarbeitet für die Broschüre “Vor Gott sind alle Menschen gleich. Beiträge zu einer rassismuskritschen Religionspädagogik und Theologie“ herausgegeben von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus, der Ev. Akademie zu Berlin und Aktion Sühnezeichen Friedensdienste

Einleitung

Aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Christenmenschen nicht weniger gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit an den Tag legen als Nichtchrist*innen. Manche Umfragen ergeben sogar höhere Werte. Trotz dieses Befundes gibt es ein Theologiedefizit in der Bearbeitung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Eine weitergehende Bearbeitung dieses Defizites an Universitäten und in Ev. Akademien (et al) würde die selbstreflexive und selbstkritische Selbstverständigung von Gemeindegliedern, diakonisch Beschäftigten, Religionspädagog*innen, Pfarrer*innen, etc. erleichtern und die Position der Kirchen in der gesellschaftlichen Debatte schärfen. Es braucht also theologische Verständigung darüber, wie wir Ideologien der Ungleichwertigkeit adressieren und diese – seien sie auch noch so versteckt – bearbeiten.

Das Vorurteil ist kein Vorurteil, sondern Herrschaftspraxis

Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Feindlichkeit gegenüber Homosexuellen und auch Sexismus sind nicht im banalen umgangssprachlichen Sinne Vorurteile, sondern Abwertungen, die die (Höher)Wertigkeit des Eigenen existentiell absichern. Sie sind historisch gewachsen und tief verbunden mit der Etablierung und Reproduktion christlich europäischer Herrschaftspraxis. Der Überschuss über „Vorurteilsbildung“ zeigt sich am deutlichsten in Abwertungen, die in Welterklärungsmodellen münden. Der Antisemitismus ist ein solches wirkmächtiges Welterklärungsmodell, das „die Juden“ selbst in den Bereichen Ökonomie, Wissenschaft, Religion, Moral immer wieder zum feindlichen Anderen erklärt: „Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Ihr Gelüste ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis. Den Juden, mit dieser ihrer Schuld beladen, als Herrscher verhöhnt, schlagen sie ans Kreuz, endlos das Opfer wiederholend, an dessen Kraft sie nicht glauben können.“[1]

Adorno/Horkheimer zeigen hier den klassischen Projektions- und Delegationsmechanismus auf, der eigene Identität und Dominanz absichert. Das eigene Abgründige, Negative wird dem anderen zugeschrieben. Als hätte nicht gerade die Naziherrschaft nach Reichtum und Weltherrschaft gegiert. Stellvertretend für die eigene, abgespaltene Besitz- und Machtgier wird „der Jude“ ans Kreuz geschlagen. Darüber hinaus wird der christliche Unglauben thematisiert: die unverdiente Gnade der Schulbefreiung durch Christi Opfertod erscheint so unglaublich, das weiter Menschen zu Schuldigen erklärt und zu Opfern gemacht werden, denen die eigene „Sünde“ (nämlich die des Unglaubens) aufgeladen wird. So kommt es zum Zwecke der Selbstidealisierung, der Machtsicherung, der Sicherung des Eigenen (Identität, Glauben, etc.) zur Abwertung und Abwehr des eigenen Abgründigen im Anderen.

[1]    Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Elemente des Antisemitismus, in: Dialektik der Aufklärung, 1971, 151.

Identitätskonstruktion durch negative Zuschreibung und Delegation eigener Makel

Identitätskonstruktionen werden vornehmlich gebildet im Kontext negativer Gegenüberstellungen. So wird in den X-gida Formationen eine vermeintlich jüdisch-christlich-abendländische Identität im Gegenüber zu einer morgenländischen/islamischen Identität konstruiert. Ebenso selbstbezogen sind die Abgrenzungen der sog. Mehrheitsgesellschaft von der umfassenden „Frauenfeindlichkeit“ der „anderen“, insbesondere der Muslime nach den Übergriffen sexualisierter Gewalt in der Silvesternach 2015/16 in Köln. Interessant ist dabei, dass gerade bei der Aufladung der eigenen christlich-jüdisch-abendländischen Verwurzelung keine inhaltliche Füllung erfolgen kann. So wird hier am deutlichsten, dass diese identitäre Selbstzuschreibung nur der Abwertung des und der Anderen dient und durch das eigene Unwissen um die Inhalte dieser Verwurzelung das aggressive Potential nur noch stärker wird.

Die existentielle Erfahrung, dass die Erlösung durch Christus Jesus für Christen oder die Welt erfolgt ist, machen die wenigsten Christenmenschen. Das kann eine produktive Spannung erzeugen – „die Welt ist nicht so, wie sie sein soll, also lasst uns sie stetig verbessern!“ Aber die Antwort auf die Zusage der Erlösung und die Erkenntnis des Ausstehenden und die daraus folgende Verunsicherung  ist nicht selten die Delegation des Zweifelns/Unglaubens an jenen erlösenden Messias und Gottessohn an die „geeignete“ Adresse: Die Juden als jene, die sich diesem Glauben an diesen Messias verweigern, ja ihn sogar angeblich umbringen.

Der biblische Einspruch einer Identität des Zukünftigen

Der Identitätsbegriff kann wirksam sein und war es in der aufklärerischen Tradition als wiederständiger Begriff individueller Autonomie, gegen die Fremddefinitionen feudaler institutioneller Herrschaft. Zudem gibt es eine produktive Funktion in Prozessen des Empowerments und der Selbstermächtigung von Minderheiten, deren „kulturelle Identitäten“ von Herrschaftsformen des Mainstreams unsichtbar gemacht oder zerstört wurden. So ist Identitätsbildung in Befreiungsprozessen wichtig und ist zugleich da zu befragen, wo sie der Selbstsicherung und Machtausübung dient.

Den Weg vom Sein ins werden öffnet die Heilige Schrift:

Biblisch-theologisch geht es jedoch nicht um das, was wir sind, und bleiben, sondern, was wir sind im Werden:

  • Wir sind immer unterwegs. Unterwegs mit denen, die vor uns unterwegs waren: Abraham und Sara, Jakob und Rebecca, Joseph, Ruth, Mirjam, Jesus.
  • Gott selbst wird sein, der er/sie sein wird (Ex 3,14) Es gilt das Bilderverbot. Dem Gedanken der Gottesebenbildlichkeit folgend steht dies auch uns Menschen zu. Und es steht uns an, gegen die Bilder davon, was genau ein Jude, ein Mann, eine Frau oder ein/e Christ_in sei zu protestieren.
  • Vor Gott sind alle Menschen gleich, aber ihre Verschiedenheit bleibt gewahrt.
    Die biblisch aufgerufene Aufhebung von Differenzen ist nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln: „Aufgehoben sind in Christus nicht die Stände unserer je verschiedenen Berufungen, sondern die Apartheiten, in denen wir uns gegeneinander verschlossen haben […] er hat die ‚Feindschaften‘ niedergekämpft zwischen Menschengruppen.“[1] Differenzen sind also zu bejahen, aber nicht mit Wertigkeiten zu verbinden. Sie sollen und dürfen gestaltet werden, da sie christologisch gerechtfertigt sind. Da die christliche Überzeugung und Vision von der Gleichheit aller Menschen und der damit implizit (!) einhergehenden Förderung von Differenz zentral sind für den christlichen Glauben, muss die Bearbeitung von Rassismus ein zentraler Inhalt theologischen Handelns sein.

[1]    Marquardt, 1988, 447.

Handlungsoptionen

Wir können unsere Identitätsfestungen verlassen: Sätzen wie: „Wir können erst in den interkulturellen, interreligiösen Dialog eintreten, wenn wir wissen, wer wir sind.“ können wir die talmudische Weisheit entgegenhalten: Die Wahrheit beginnt mit zwei! Nach dem Talmud gibt es 2 bis 77 dem Text entsprechende Auslegungen der Heiligen Schrift – d.h. die Wahrheit ist nie eindimensional. Ganz im Sinne des jüdisch-christlichen Dialoges wäre diese fundamentale Einsicht in christliche Anthropologie und Wahrheitsverständnis einzulesen. Biblisch liegt eine unglaubliche Kraft im Offenen, im Unabgeschlossenen. Wir sind zuhause in der Unvollkommenheit und Wandelbarkeit. Gerade der oft angeführten Unsicherheit von jungen Menschen könnte mit der Betonung dieser Offenheit begegnet werden. Es ist inspirierend und kreativ, sich nicht auf eine nun und für immer feststehende Identität als Christ_in oder Junge, Mann Mädchen, Frau, Tochter, Sohn, Hetero- oder Homosexuell festzulegen. Es lohnt sich, spielerisch das Zuhause im Unterwegs erfahrbar zu machen, die Lust an Grenzgängerei und Vielfältigkeit zu stärken, ohne unverbindlich und unernsthaft zu werden. Dies wäre ein erleben von Lebenskunst im wahrsten Sinne des Wortes.

Es gilt in Religionspädagogik und Theologie eher zu entdecken als zu „vermitteln“, dass Menschen nicht allein gelassen sind mit der Aggression der Mehrheitsgesellschaft aber auch nicht jene mit existentieller Verunsicherung.