Populismus und Radikalisierung

AntisemitismusAntiziganismusRassismus

Das christliche Abendland als populistisches und sich radikalisierendes Muster gesellschaftlicher Selbstbeschreibung und Versuche biblischer Gegenbilder

Wir bestehen alle nur aus
buntscheckigen Fetzen, die so locker
und lose aneinander hängen,
dass jeder von ihnen jeden
Augenblick flattert, wie er will;
daher gibt es ebenso viele Unterschiede
zwischen uns und uns selbst
wie zwischen uns und den anderen.

Montaigne, Essais, 2,1 [1]

[1]  Zitiert in: Identität. Biblische und theologische Erkundungen, Göttingen 2007. S. 5.

Das Problem

Wir sehen uns einer sich radikalisierenden rechtspopulistischen Welle gegenüber, die sich in wichtigen Teilen auf „bürgerliche christliche Werte“ beruft, wie sie in dem Begriff des Christlichen Abendlandes scheinbar zusammenschnurren. Wie diese Selbstzuschreibung in Anspruch genommen wird und welches Identitätskonzept mit welchen Exklusionsmechanismen und welcher Aufladung konstruiert wird, soll in diesem Artikel in seiner Komplexität immerhin angedeutet werden. Zudem soll es dann darum gehen, wie sich christliche Theologie und Kirche dazu verhalten könnte und welche theologischen Narrative, welche Glaubensbilder und nicht zuletzt welche Praxis dieser von mir als Instrumentalisierung beschriebenen Indienstnahme des Christlichen gewehrt werden kann. Damit wird bewusst darauf verzichtet, die Ursachen dieser Entwicklung in klassischer Weise (Globalisierungsängste, ökonomische Zentrifugalkräfte, Ängste und Sorgen) zu beschreiben, die in Teilen sicher ihr Recht haben. Aber hier soll es darum gehen, weniger wahrgenommene Perspektiven auf die Identitätskonstruktionen des Rechtspopulismus zu beschreiben.

Zur Lage

Die politische Lage in Europa bietet ein Bild rechtspopulistischer Strömungen, die an Einfluss gewinnen. Frankreich, Niederlande, Großbritannien, Polen, Ungarn, Tschechien zeigen sich verschieden aber doch in ähnlicher Richtung unterwegs antieuropäisch, xenophob, nationalistisch, antiliberal und antipluralistisch. Das Liberale und Pluralistische wird als Palaver, Handlungsunfähigkeit produzierend und gleichwohl meinungsdiktatorisch beschrieben.

Rechtspopulismus ist in seiner Grundstruktur nicht auf Konsistenz der Argumentation aufgebaut, sondern auf Emotionalisierung und Mobilisierung von Ängsten vor Unbekanntem, vor Anderen, vor Machtverlust und vor dem Verlust von Privilegien.  Seine Bestandteile sind antipluralistisch. Das Volk wird gedacht als homogenes Konstrukt, das mit einer Stimme spricht. Differenzen und deren Austragung gehören zum denunzierten repräsentativen parlamentarischen System. Ich erspare mir hier nicht den Hinweis darauf, dass Demokratie und gerade, wenn sie behauptet „alternativlose“ Politik zu machen, sicher massiv zu kritisieren ist, aber nicht wegen zu viel, sondern zu weniger ausgetragener Differenzen und ernsthafter Rede und ringender Gegenrede. Vox populi ist gerichtet gegen das wie auch immer zu beschreibende Establishment[1] – zu dem, wie nicht nur in den USA zu sehen ist sondern auch in Deutschland, viele der rechtspopulistischen Akteure selbst gehören. Denken wir z.B. an Thilo Sarrazin, der eine Million Bücher verkauft und von Tabu spricht und als Banker und Finanzsenator sicher zu den sehr einflussreichen Politkern gehört.

Zentraler ideologisch geladener Bezugspunkt dieser Bewegungen ist also das so gedachte einheitliche Volk mit einer nationalen Identität. „Der Geist der politischen Freiheit kann außerhalb des Körpers des Nationalstaates nicht gedeihen…Die nationale Identität bindet ein Individuum an ein Erbe, eine Tradition, eine Loyalität und eine Kultur.“[2] Victor Orban bindet nun diese nationale Identität an ihren christlichen Charakter, die jetzt in dieser Verbindung Verfassungsrang in Ungarn bekommen hat.

Schon hier entsteht ein logisches Problem, das aber nicht wahrgenommen wird. Christlichkeit nämlich wird historisch und schon gar biblisch theologisch nur schwer an eine Nation oder auch nur an Europa zu binden sein. Aber so wie die Nächstenliebe in dieser Logik nur den nächsten gilt, zuerst der Familie, dann dem Dorf, dann der Nation, so steht eben das tatsächlich alles nationale transzendierende Signum „christlich“ in diesem Weltbild  für die Grundierung des Nationalen.[3]

Nämliches gilt auch für die Wortverbindung „christliches Abendland“, das zunächst historisch nicht für die Sache der Nationen zu vereinnahmen ist.

Diese christliche Grundierung ist in rechtspopulistischen Bewegungen Europas umstritten. Einer der Väter rechtspopulistischer Theoriebildung, Alain de Benoist, sieht im Judäo-Christentum eine Wurzel allen Übels[4], während die rechtspopulistischen Parteien in Europa, wie auch die AFD in der Regel sich positiv auf das christliche Abendland beziehen. Deshalb soll es um diese Wortverbindung bzw. ihre Implikationen im Folgenden gehen.

[1]  Vgl. Andreas Lob-Hüdepohl, Demokratie stark machen gegen Rechtspopulismus – auch ein Beitrag der Kirchen, in Das Fremde akzeptieren, Freiburg 2017, S. 123-137, 123f.

[2]  Wilders, Geert: Rede in Berlin im September 2011, online unter: http://www.pi-news/berlin-rede-von-geert-wilders-im Wortlaut

[3]   Vgl. Viktor Orban in seiner Weihnachtsansprache am 23.12.2017, übersetzt von Prof. Adorjan F. Kovacs: www.freiewelt.net/blog/viktor-orban-wir-muessen-die-christliche-Kultur-verteidigen-10073116

[4]   Vgl. „Ich nenne hier – aus reiner Konvention – die Haltung rechts, die darin besteht, die Vielgestaltigkeit der Welt und folglich die relativen Ungleichheiten, die ihr notwendiges Ergebnis sind, als ein Gut und die fortschreitende Vereinheitlichung der Welt, die durch den Diskurs der egalitären Ideologie der seit zweitausend Jahren gepredigt und verwirklicht wird, als ein Übel anzusehen.“ Die letzten 2000 Jahre sind seine Chiffre für das judäo-christliche Zeitalter. Alain de Benoist, Kulturrevolution von rechts. Gramsci und die Nouvelle Droite. Krefeld 1985, S. 14.

Selbstbeschreibungen

Die Alternative für Deutschland bekennt sich zur deutschen Leitkultur, die sich im Wesentlichen aus drei Quellen speist: erstens der religiösen Überlieferung des Christentums, zweitens der wissenschaftlich-humanistischen Tradition, deren antike Wurzeln in Renaissance und Aufklärung erneuert wurden, und drittens dem römischen Recht, auf dem unser Rechtsstaat fußt. Gemeinsam liegen diese Traditionen nicht nur unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung zugrunde, sondern prägen auch den alltäglichen Umgang der Menschen miteinander, das Verhältnis der Geschlechter und das Verhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern. Die Ideologie des Multikulturalismus, die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert, betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit. Ihr gegenüber müssen der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche kulturelle Identität als Leitkultur selbstbewusst verteidigen.“[1]
Dieses Zitat aus dem Parteiprogramm der AFD macht zwei scheinbar gegenläufige Bewegungen deutlich: Erstens wird sehr nah an – im gefühlt besten Sinne – bürgerlich-christlichem Selbstverständnis formuliert. Das Christentum, das Römische Recht und die Aufklärung werden in dieser Tradition als Fundamente unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung beschrieben. Auch das – in Teilen – aufgeklärte Bürgertum folgte und folgt nicht selten dieser Linie, wie es zum Beispiel der Bundespräsident Theodor Heuss 1950 tat, als er sagte, die westliche Zivilisation sei (anders als der sozialistische Osten) begründet in Golgatha, Rom und der Akropolis.[2]

Diese drei historischen Formationen wandelten nicht nur sich ständig, sondern standen auch in bestimmten historischen Phasen gegeneinander.

Behauptet wird hier aber, dass diese drei nicht selten gegeneinander gerichteten Fundamente die gesellschaftliche Wirklichkeit von Geschlechter- und Generationenbeziehung auch im Alltag bestimmten. Dazu wird dann auch gleich ein Gegensatz, ein Feind definiert: der Multikulturalismus. Er wird angeklagt, die importierten – anderen/schlechteren –  Kulturen mit diesen unseren Alltag prägenden drei kulturellen Fundamenten, diese „ausverkaufend“ gleich zu stellen.

Dabei haben sich die Orientierung für die Beziehung zwischen Mann und Frau und Kind in diesen drei historisch und gesellschaftlich so verschiedenen Fundamenten, Kulturkreisen so sehr unterschieden. Das lässt die Annahme einer einheitlichen Prägung unseres Alltags mehr als fraglich scheinen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit dieser drei Säulen ist zudem gar nicht national zu verstehen (z. B. Athen und Rom sind zwei Weltreiche, die Aufklärung eine mehr als europaweite Geistesbewegung und das Christentum eine Weltkirche). Darüber hinaus sind sie von sehr viel mehr Multikulturalismus und in Teilen Liberalität zumindest bezogen auf Geschlechterbeziehungen gezeichnet. Grundsätzlich verfehlt eine so starre Vorstellung von Kultur ein zentrales Moment von gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung überhaupt: die Veränderung und Offenheit für neue Einflüsse von außen. Nur so wird Kultur, nämlich indem sie sich verändert, nicht abgeschottet von Außen- und Fremdwirkungen[3].

[1]   S. AFD Grundsatzprogramm, S.47, Stuttgart 2016

[2]  „Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat:
Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“ Theodor Heuss, Reden an die Jugend, Tübingen 1956, S. 32.

[3]     Francois Jullien, Es gibt keine kulturelle Identität, Frankfurt 2017/2, „Die Transformation ist der Ursprung des Kulturellen, und deshalb ist es unmöglich, kulturelle Charakteristiken zu fixieren“.

Anschlussfähigkeit

Soweit die eine Seite des Themas.

Die andere Seite ist die oben schon einmal erwähnte, nicht so gerne gesehene und schon gar nicht analysierte Anschlussfähigkeit solcher grundlegender Formulierungen an christlich bürgerliche Denk-und Gefühlswelten. Wie schnell verstehen wir christlich abendländische Kultur als wertehaltige gesellschaftliche Qualifizierung? Wie schnell wissen wir von „den Anderen“, dass sie die Aufklärung verpasst haben, der wir heute so viel Freiheitsrechte und eben Demokratie verdanken, die aber nun tatsächlich im 18. und 19. Jahrhundert eine nur schmale christliche Spur hatte?[1]

Mit diesen Fragen wollen wir darauf hinweisen, dass auch unsere – die wir uns als demokratisch gesinnte Anhänger*innen der christlichen Religion oder „Gebildete unter ihren Verächtern“ verstehen – Reaktionen auf gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen nicht selten auch Selbstidealisierungen[2] darstellen durch Romantisierung unseres Selbstbildes oder brutaler gesagt durch Exklusion der „Anderen“ und Reservierung des Guten für unser Selbstbild. Wir „Deutsche“ und „Christen“ seien frauenfreundlich, demokratisch, aufgeklärt, wüssten also, dass Religion und Politik zwei getrennte Felder im Staatswesen darstellen sollten, die Akzeptanz des und der anderen Religion, Nation, Kultur usw. unverbrüchliche Grundlinien einer Gesellschaft darstellen sollten. [3]

Hier lässt sich die Brücke rechtspopulistischer Denkweisen zu „ganz normalen“ Selbstbeschreibungen sehen, die uns besser machen sollen als jene, die nicht dieser christlichen „Wertegemeinschaft“ angehören.

Rechtspopulistisch wird allerdings die Gegnerschaft, also der oder die ANDERE sehr viel stärker direkt und aggressiver angegangen. Zudem werden aus dieser Selbstidealisierung und Abwertung der Anderen in politischem Sinne konkrete Forderungen nach auch körperlichem Ausschluss dieser „Fremden“ aus unseren Welten durch Abschiebung, oder dem gewaltsamen Verteidigen der europäischen Außengrenzen.

Aus christlich kirchlicher Perspektive scheint solche Anschlussfähigkeit manchen immer nahliegender, wohl weil wir Christenmenschen uns inzwischen selbst als Minderheit verstehen und uns immer stärker unter Druck zur Sicherung unserer Existenz auf ganz feste – im Ergebnis exklusive – Glaubens- und Lebensformen einigen zu müssen meinen. Das Lebendige und auf Veränderung angelegte des christlichen Glaubens kann da sehr schnell verloren gehen.

[1]     Vgl. Wilhelm Gräb, Ein anderer Kirchentag 2017, Interview, 5. Februar 2017, http://religionsphilosophischer-salon.de/8786_ein-anderer-kirchentag-2017-interview-mit-dem-theologen-prof-wilhelm-graeb_weiter-denken. „Aus der theologischen Lehre vom Priestertum aller Gläubigen folgen dann der demokratische Grundgedanke der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und ihr Recht auf Mitbestimmung in allen das Gemeinwesen bestimmenden Angelegenheiten. Dieses protestantische Prinzip ist zu Zeiten der Reformation weder kirchlich noch staatlich verwirklicht worden. Anpassung an obrigkeitsstaatliches Denken und Demokratieverachtung waren in der ganzen Geschichte auch des Protestantismus ganz überwiegend seine mehrheitskirchlichen Kennzeichen.“

[2]     Zum Gebrauch des Begriffs „Selbstidealisierung“ s. Birgit Rommelspacher, Ungebrochene Selbstidealisierung, taz 18.1.2010, S.4. „Wenn dies höchst zwiespältige europäische und deutsche Erbe nicht angenommen wird und man in einseitiger Selbstidealisierung verharrt, führt man letztlich den alten Machtanspruch fort. Adorno sagt dazu: „Nicht selten verwandelt sich der faschistische Nationalismus in einen gesamteuropäischen Chauvinismus. Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.““

[3]   Zuletzt wieder in diesem Duktus, der sehr stark auf grundgesetzliche Werte und sogar Dialog unterschiedlicher Wertesysteme setzt, Horst Seehofer. Summa: „Daher steht für mich im Mittelpunkt, dass das Menschenbild des aufgeklärten Christentums kulturgeschichtlich zu den Wurzeln Deutschlands zählt und unsere grundgesetzliche Werteordnung prägt.“ Faz, 30.4.2018, 6.  Hieran ist wieder auffällig wie ungebrochen das Narrativ des aufgeklärten Christentums erzählt wird. Gerade die sonst immer wieder mal betonte Gebrochenheit (Zivilisationsbruch) unserer Tradition, aus der etwas zu lernen wäre über Abgründe im Eigenen, bleibt unbeachtet.

Kulturelle Identitäten als Widerstand gegen Diskriminierung

Zwischenbemerkung

Und doch, weil kein Gedanke ohne sein Gegenteil richtig zu sein scheint, sieht die Frage nach der Identität aus einer diskriminierten Minderheitenperspektive anders aus. Ist eine solche Minderheit doch erstens kaum in der Lage, ihre kulturellen Präferenzen gegen andere mächtigere gesellschaftliche Gruppen durchzusetzen. Zweitens ist ihre/die der Minderheit Kultur in der Regel bedrohter als die unsere christliche im dem Sinne, dass eine machtvolle Mehrheit ihnen die Ausübung verwehrt oder sie kollektiv denunziert, wie es bei Sinti und Roma der Fall ist oder auch bei allen „People of colour“, wie wir heute für nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft Angehörigen sagen.

Kirchliche Wirklichkeiten

Für die Kirchen und ihre Mitglieder bleibt zentral und wird in diesen Zeiten immer wichtiger, dass sie erkennt, wie solche Konzepte der Selbstidealisierungen funktionieren. Sie vermeiden oder verteufeln die Spannungen, Abgründe und Ambivalenzen im eigenen Haus, um die die christliche Theologie sehr wohl wissen kann und mancherorts auch weiß. Allein der Begriff des gerechtfertigten Sünder oder der Sünderin weist recht fundamental auf diese notwendige und realistische Gebrochenheit des Selbstbildes eines Christenmenschen und seiner Institutionen.

Heute ziehen Menschen durch die Straßen als Verteidiger des christlichen Abendlandes, die diese so widersprüchliche Wirklichkeit und Geschichte, Gewalt und Caritas, aus Unterdrückung und Befreiung von diesen Ambivalenzen und Widersprüchen „zu reinigen“ streben und als Waffe gegen „das Fremde“ benutzen.

Identität und Identitätspolitik

Nun ist es kaum sinnvoll zu vermeiden oder zu kritisieren, dass Menschen Selbstbilder haben und diese auch sprachlich wie emotional zum Ausdruck bringen. Die Fragen, wer wir sind, wie wir geworden sind und wie wir sein wollen, sind uns nicht nur aber sehr deutlich in der modernen Welt fast aufgetragen zu bearbeiten. Das gilt auch für Gruppen von Menschen. Die Sprache, die wir sprechen, macht uns vielleicht noch nicht zu Deutschen, aber doch zu deutschsprachigen und bietet sicherlich einen wichtigen Bezugspunkt der Menschen, die diese Eigenschaft teilen. Das Geschlecht, das wir zu haben glauben, lässt uns als weiblich, männlich, trans- oder …sexuell beschreiben. Der Glaube, den wir haben, lässt uns als Christ*innen, Juden, Jüdinnen, Muslim*innen oder als Humanist*innen und vieles andere mögliche mehr und damit einer Gruppe zugehörig beschreiben. Gleichwohl schließt sich fast automatisch die Frage an: Wie lebst du dein Christsein, wie deine Mann/Frau/Transsein… weil keine dieser Bestimmungen weltweit gleiches oder gar dasselbe bedeuten. Solche Begriffe und Selbstbilder ordnen mich zwar ein in eine größere Gruppe und bezeichnen diese Gruppenzugehörigkeit als mir wichtig. Das bedeutet aber erstens nicht, dass alle diese Selbstbildpuzzleteile zu einem stimmigen Gesamtbild einer Identität zusammenkommen, weder in mir selbst noch in der Außenwahrnehmung und zweitens sagt es zunächst noch nichts über Abgrenzung von anderen, oder Selbstidealisierungen und deren Sicherung.

Weil er so wenig an Flexibilität und Offenheit, sondern eher Abgeschlossenheit und feste Zuschreibungen signalisiert, ist ein bestimmter nämlich der ausgrenzende Gebrauch des Begriffs Identität unter Kritik geraten am stärksten durch die Frauenbewegung. Ist doch bei den Geschlechterbildern so sehr deutlich spürbar, wie viel von ihnen je nach gesellschaftlicher, historischer, kultureller Situation anerzogen ist. Ein phantasierter vergleichender Blick in die Spielzeugwarenabteilung heute und vor 40 Jahren würde uns vor Augen führen, wie allein die Farbassoziationen (blau und rosa) zu den Geschlechtern sich dramatisch verfestigt haben.

Gerade in der Jugendsozialarbeit ist wegen der Untauglichkeit eines eindimensionalen, geschlossenen  Verständnisses von Identität die „Patchworkidentität“ aus der Taufe gehoben worden, die auch widerstreitende Teile einer Person als zusammengehörig bestehen lässt, also eben keine Geschlossenheit suggeriert, gar behauptet oder – noch ärger – fordert.[1] Fast schien es, dass diese geschlossene Form von Selbstbeschreibungen in den 80er Jahren an ihr Ende gekommen sei. In Deutschland markiert die Vereinigung 1989 hier eine Wende. Auch in anderen Ländern Europas feiert seither gerade auf dem Gebiet nationaler Selbstdefinitionen der Begriff der nationalen Identität, der Leitkultur, der Heimat, des christlichen Abendlandes fröhliche Urstände. Hier kommt ein gesellschaftliches Phänomen zur Geltung, das nie ganz verschwunden war, aber durch nachhaltige kritische Reflexion der Geschichte der so gewaltgeladenen nationalen Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts sehr kritisch gesehen wurde: Identitätspolitik, also das gezielte machtpolitische Einsetzen von geschlossenen, angeblich homogenen Selbstbildern in Abgrenzung von anderen, feindlichen angeblich homogenen Identitäten.

„Als Identitätspolitik von dominanten Gruppen bezeichnet man Vorstellungen zur Gestaltung der gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse, die die Subjekte auf die Verwirklichung einer vermeintlich in ihrem Wesen liegenden Norm verpflichtet. Als Normen in diesem Zusammenhang können z. B. gelten: Frau-sein, Deutsch-sein, Weiß-sein etc. Diese Festschreibung auf etwas konstruiert Wesentliches, die „Ontologisierung“ von bestimmten Eigenschaften sozialen Ursprungs, führt für Kritiker in letzter Konsequenz zu ausgrenzenden Weltanschauungen und Handlungsweisen.

Identitätspolitik ist also die Politisierung dieser komplizierten Prozesse der Selbstbeschreibung bei angeblicher Auflösung ihrer Widersprüchlichkeit und eines der Hauptanliegen rechtspopulistischer Denk- und Handlungswelten. Denn diese dient dem Ausschluss dessen, der oder die als Fremd gesehen wird und die nun über die Identitätspolitik als feindlich gegenüber dem Kollektiv des geschlossenen Weltbildes definiert wird.“[2]

Wegen dieser Geschlossenheit und ihrer aggressiven Seite können diese aus Identitätspolitik geschaffenen Identitätsbegriffe etwas poetisch aber treffend als Identitätsfestungen bezeichnet werden. Sie führen zu einem Verlust an eigener Freiheit bei gleichzeitig gefühltem Zuwachs an Sicherheit (auf Kosten der Sicherheit der Ausgeschlossenen!), und am Ende biblisch gesprochen zu Einschränkungen in der Wahrnehmung von Gottes im Antlitz der Anderen. Denn der Blick richtet sich immer wieder auf mich selbst als Nation, als Religion, als Ethnie und nicht auf den oder die anderen, geschweige denn dass diese Bewegung zu einer Hinwendung zu Gott und damit zur Relativierung des Eigenen führt.

Das ist nun, wie die Geschichte zeigt, hochbrisant und gefährlich bis hin zu mörderisch, denn manche identitätspolitisch aufgeladenen Selbstdefinitionen und Selbstidealisierungen führen zu gewaltsamen Angriffen auf jene gefühlten oder konstruierten Anderen. Deshalb lässt sich die Frage nach Identitätskonstruktionen nationaler, ethnischer, religiöser oder geschlechtlicher Art, um nur einige historisch wie gegenwärtig beliebte exklusive Konstruktionen und uns als phantasiert naturgegebene Zugehörigkeiten mit bestimmten Merkmalen versehene Möglichkeiten zu nennen, nicht von der Macht-und Gewaltfrage trennen.

Wie dramatisch die Lage an dieser – und ich sage bewusst – Front ist, lässt sich nicht nur im Ausland und nicht nur an islamistischen Kämpfer*innen sehen, sondern auch an den „Verteidiger*innen des christlichen Abendlandes“, den Antigenderisten, die auf festen Bildern und Hierarchien der Geschlechterverhältnisse aggressiv bestehen, und an allen, die weiße europäische Privilegien auf die eine oder andere Art, verteidigen. Identität ist in diesem politisierten Kontext also weder ein unschuldiger Begriff und noch ein christlicher/biblischer. Er ist ein Begriff der Unfreiheit und zwar der eigenen und der der als „Andere“ markierten. Er ist in dieser Fassung antiplural und eben rechtspopulistisch.

[1]     „Der Begriff der Patchwork-Identität steht heute als Kürzel für den Ansatz „alltäglicher Identitätsarbeit“, wie er u.a. von Heiner Keupp (2008 [1999]) formuliert worden ist. Wesentliche Kennzeichen sind die Identitätsarbeit in der gesellschaftlichen Situation der „zweiten Moderne“ (Beck & Bonß, 2001), das Insistieren auf ihre lebenslange Unabgeschlossenheit, die Betonung der Bedeutung von Sozialität und von innerer Kohärenz – und der Unmöglichkeit ihrer dauerhaften Sicherung, und schließlich der Verweis auf die wichtige Rolle von sozialen Netzwerken und Ressourcen für die Identitätskonstruktion.“ Wolfgang Kraus, [Forum Gemeindepsychologie, Jg. 15 (2010), Ausgabe 2], http://www.gemeindepsychologie.de/fg-2-2010_11.html

[2]     S. https://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4t

Biblisch theologische Inspirationen

Gegen diese selbstverordnete und andere bedrückende Unfreiheit und Selbstbeschränkung auf das „Hier und Jetzt“, richtet sich alles biblisch theologische Trachten. Dieses Trachten konkret, wenn auch nur sehr eklektisch ins Gespräch zu bringen mit alltagsweltlichen Erfahrungen und eben jenen unterkomplexen und auf Ungleichheit ausgerichteten Menschenbildern im wahrsten Sinne des Wortes die Stirn zu bieten, ist das Ansinnen des folgenden Abschnittes.

„…jede erreichte Stufe unserer Ich-Entwicklung (ist) immer nur ein Fragment aus Zukunft. Das Fragment trägt den Keim der Zeit in sich. Sein Wesen ist Sehnsucht. Es ist auf Zukunft aus. In ihm herrscht Mangel, das Fehlen der ihn vollendenden Gestaltung. Die Differenz, die das Fragment von seiner möglichen Vollendung trennt, wirkt nun nicht nur negativ, sondern verweist positiv nach vorn.“[1]

Das bedeutet, dass Glaubenspraxis sich nie als geschlossene verstehen kann. Weder erkennen wir uns selbst vollendet, sondern sind und werden erkannt. Auch ist unser Sehnsuchtsort nicht von dieser Welt, wenn auch in dieser Welt. Die Bitten und Forderungen, die Wegweiser, die Tora, wie die sie interpretierenden Evangelien und Briefe, z.B.  Bergpredigt weisen auf das Unterbrechen weltlicher herrschaftsförmiger Selbstbilder.

„Gebt unserm Gott, nicht uns die Ehre,… wer sich rühme, rühme sich des Herrn“, so heißt das für Selbstbilder zentrale Motiv. Glaubens-Praxis als „andere“ Selbstbeschreibung, die um ihren fragmentarischen Charakter weiß und um die offenen Enden des Eigenen zu den Anderen und der anderen zu den eigenen.

Welche Bilder könnten biblisch hier prominent über diese allgemeine Bestimmung hinaus von Bedeutung sein?

[1]     Henning Luther, Identität und Fragment, in Religion und Alltag, 160-182, Stuttgart 2014, 169.

Wir sind immer unterwegs

Wir sind unterwegs mit denen, die vor uns unterwegs waren: Abraham und Sara, Jakob und Rebecca, Joseph, Ruth, Mirjam, Jesus.

„In geradezu lakonischer Kürze fordert Gott Abram auf, all das zurückzulassen, was Identität vermitteln könnte: Vaterland, Heimat, Familie. Und in erneut äußerster Knappheit heißt es dann: „Da zog Abram aus, wie der Herr ihm gesagt hatte.“ (Gen 12,4) Wort und Antwort – so geht Abram den ersten Schritt in ein neues und einigermaßen unbehaustes Leben. Wer er ist, erfährt er nicht selbstreflexiv.“[1]

Dieser Ansatz, der biblisch vielfach belegt ist, sowohl im Hebräerbrief (Hebr. 11) oder auch in der Gewinnung der Jünger und Jüngerinnen durch Jesus. Auch sie wissen nicht worauf sie sich einlassen, wer sie wohl werden in diesem Prozess des Mitgehens und auch ist ihnen nicht Sicherheit versprochen.

[1]   S. Alexander Deeg, Leben auf der Grenze, in: Identität. Biblische und theologische Erkundungen, Göttingen 2007, S. 277-300, 287.

Gott selbst wird sein, der er/sie sein wird (Ex 3,14)

Es gilt das Bilderverbot. Dem Gedanken der Gottesebenbildlichkeit folgend steht dies auch uns Menschen zu. Und es steht uns wohl an, gegen die Bilder davon, was genau ein Jude, ein Mann, eine Frau oder ein/e Christ*in sei, zu protestieren. Natürlich werden wir diese Offenheit nicht permanent vollziehen können. Aber die Weisung, uns kein Bildnis zu machen, erinnert immer wieder daran, dass unsere Bilder von Gott und von den je anderen für neue Erfahrungen und damit für Veränderungen offen sein müssen. Keinesfalls aber können, dürfen, sollen solche Bilder aufgrund von Zugehörigkeiten kollektiv abwertende sein.

Vor Gott sind alle Menschen gleich, aber ihre Verschiedenheit bleibt gewahrt.

„Dennoch scheint mir dieses protestantische Prinzip, das jeden Menschen vor Gott gleichstellt, jedem Menschen einen unendlichen Wert zuspricht, die Arbeit für mehr Gerechtigkeit zur moralischen Pflicht zu machen und den Frieden zum Endzweck allen politischen Handelns zu erklären. Allein deshalb schon sollte es auch theologisch ins Zentrum des Reformationsgedenkens treten.“[1] Diese fundamental demokratische Perspektive Wilhelm Gräbs, die so selten in der Reformationsgeschichte Wirklichkeit geworden ist, muss ein zentrales Motiv in der Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus sein. Hier ist neben der versöhnten Vielfalt ein Zentrum biblisch-theologischer Argumentation zu suchen und zu finden.

Die biblisch aufgerufene Aufhebung von Differenzen ist gleichwohl nicht mit Beliebigkeit von Verschiedenheit oder gar Nivellierung jener wertvollen Perspektive der Einzigartigkeit jedes Menschen zu verwechseln: „Aufgehoben sind in Christus nicht die Stände unserer je verschiedenen Berufungen, sondern die Apartheiten, in denen wir uns gegeneinander verschlossen haben […] er hat die ‚Feindschaften‘ niedergekämpft zwischen Menschengruppen.“[2] Individuelle und auch gruppenbezogene Differenzen sind also zu bejahen, aber nicht mit Wertigkeiten zu verbinden. Sie sollen und dürfen gestaltet werden, da sie gerechtfertigt sind. Da die christliche Überzeugung und Vision von der Gleichheit aller Menschen und der damit implizit (!) einhergehenden Förderung von Differenz zentral sind für den christlichen Glauben, muss die kritische Bearbeitung von Selbstbildern, die andere ausgrenzen, wie im Antisemitismus und Rassismus oder auch im Sexismus ein zentraler Inhalt theologischen Handelns sein.

[1]   Vgl. Wilhelm Gräb, Ein anderer Kirchentag 2017, Interview, 5. Februar 2017, http://religionsphilosophischer-salon.de/8786_ein-anderer-kirchentag-2017-interview-mit-dem-theologen-prof-wilhelm-graeb_weiter-denken.

[2]     Friedrich-Wilhelm Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik. München 1988, 447.

Praktisch theologische Handlungsstrategien

Was kann vor diesem Hintergrund auf den unterschiedlichen kirchlichen Handlungsebenen getan werden, wenn wir versuchsweise die Aufgabe folgendermaßen bestimmen: Es geht um die Öffnung enger Identitätsbegriffe mit Hilfe von Kategorien biblisch theologischer Biographien und Praxis.

Aus dem vorhergesagten ergibt sich diese Querschnittsaufgabe praktisch theologischen Handelns, die das Selbstverständliche und das Eingefahrene befragt, ohne es zu denunzieren, sowie Unsicherheiten in Glaubens- und Weltfragen, nicht zuletzt in Selbstbeschreibungen aushält und aufnimmt.

Wahlweise ließe sich schon hier eine Praxisform gleichsam organisch und nahtlos anschließen. Könnte nicht eine Gemeinde mit ihren Haupt- und ehrenamtlichen Engagierten sich anhand dieses (oder auch anderer nachdenklichen und streitbaren Texte) Textes überlegen, an welchen Stellen er Inspiration für ihre Arbeit hat?

Dann wäre schon das meiste gewonnen. Trotzdem soll hier in Stichpunkten kurz angedeutet werden, in welche Richtung aus meiner Sicht weiter zu denken und zu handeln wäre.
Zunächst aber sei noch einmal unterstrichen, dass jeder Lebensübergang nicht nur der zur Adoleszenz, sondern auch der ins Berufsleben, in verbindliche Beziehungsformen oder aus ihnen heraus, in den Ruhestand,… jene Qualität einer möglichen persönlichen Veränderung und von Unruhe, von Brüchen also Momenten der Diskontinuität in Biographie und damit auch Selbstbildern in sich trägt, die biblisch unbedingt als Teil des Menschseins verstanden werden. Daraus ergibt sich eine sehr unterstützende Art des pastoralen Zugangs in der Begleitung, die nicht Kontinuität suggeriert oder das Verlorene heim zu holen helfen will, sondern bewusst diesen Zwischenraum rituell und seelsorgerlich zu gestalten sucht, um nicht zu schnell ins Neue sich einzugliedern und auch nicht zu sehr dem alten Zustand nachzuhängen. Viel mehr ginge es einer offenen Bestimmung der Identität folgend darum,  die Mehrdeutigkeit und Mehrmöglichkeit des Ich oder des Wir mit Hilfe eigener und biblischer Bilder auszuloten. Hier bietet sich die Abrahamsgeschichte als Paradigma an. Er zieht aus, ohne anzukommen und der Weg also jener Schwebezustand des dazwischen ist Teil des verheißenen Weges. Diese Geschichte atmet Ermutigung für eine so ausgerichtete pastorale Arbeit in allen Lebensphasen und Arbeitsbereichen.

Sehr konkret ließe sich dieses Offene erkunden mit Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Gerade an Schüler*innen lässt sich beobachten mit wieviel innerer Differenz sie umgehen müssen oder dürfen. Sie sind als Kind ihrer Eltern anders als als Schüler*innen – daher nicht selten der völlig verschiedene Blick von Lehrer*innen und Eltern auf ihren Schüler/ihr Kind. Sie sind als Freund*in jenes Freundes anders als in einem anderen Freundeskreis, sind mal geschlechtsbewusst mal unsicher, mal ganz „typisch“ männlich/weiblich, mal bewusst oder unbewusst sich dieser Zuschreibung widersetzend, mal als ganz „normale“ Christ*in, mal rebellisch und widerständig. Hier gälte es in der Begleitung, also den religionspädagogischen Handlungsfeldern eher Ermutigung als Besorgtheit für diese Wechsel, für dieses Schweben auszudrücken und methodische Wege zu finden, das Schweben in den jeweiligen Gruppen zu üben, wie auch in den Gemeinden dafür zu werben, dass solche Praxis Lebendigkeit und Veränderung in die ganze Gemeinde tragen kann.

Solches Einüben wäre einerseits ein Ernstnehmen biblischer Botschaft der Erziehung zur Zartheit und könnte andererseits die oben erwähnte Brücke zu hermetischen und politisierten Identitätsfestungen sehr viel unbegehbarer machen. Zudem würde solches pastorales Handeln die Kritikfähigkeit der Gemeindeglieder an Konzepten, die sich angeblich auf christliche oder wahlweise auf die schlechteren christlichen Traditionen beziehen, stärken.

Zudem könnte solches Handeln auch die Gesamtgemeinde orientieren in der Phase des Übergangs in dem wir als Kirchen uns befinden und damit auch ein anderes gesellschaftliches Paradigma bieten als die Ängstlichkeit und Sorge vor der Veränderung des Selbstbildes und des gesellschaftlichen Umfeldes sowie der steigenden Komplexität gesellschaftlicher Prozesse. Offensiv diese Zwischenphase mit Glauben, Zuversicht, Zweifeln, Ängsten und mit dem Bewusstsein, dass der Ausgang offen ist, zu gestalten, wäre ein gewichtiger Beitrag der Kirchen zur Gestaltung von Gesellschaft in dieser Phase durchaus dramatischer Angefochtenheit demokratischer Grundkonsense in ganz Europa.

Bezogen auf den Ort solcher Ermutigung und das dazu nötige Kommunikationsklima ist nun wiederum wohl Verschiedenes zu sagen. In Zeiten politischer Polarisierung, die an Pfarr- und Kirchengemeinden nicht spurlos vorbeigeht, wäre es naiv, offene Foren zu Bildern der Gemeindezukunft „Wer sind wir, wie sind wir geworden, wie wollen wir sein?“, also im besten Sinne Identität diskutierende Foren zu veranstalten. Bedrohtheitsgefühle geraten schnell unter andere Einflüsse und dynamisieren sich – wie bei verschiedenen Diskussionen um Flüchtlingsheime erfahren – in offenen Gruppen, bei unbestimmter Zielgruppe und Moderation. Zu unterscheiden sind interne nicht-öffentliche, von halböffentlichen und öffentlichen Veranstaltungen. Etwas grob eingeteilt ließe sich sagen bei den internen Veranstaltungen  sind alle Äußerungen erlaubt, auch wenn es wichtig ist, darauf hin zu weisen, – wie in allen pastoralen Handlungsformen – dass die Gemeindeglieder davon absehen sollten, gleich Schuldige ihrer „Sorgen und Nöte“ auszumachen. Bei halböffentlichen sollten mehr Regeln bezogen auf „Hassäußerungen“ und bei öffentlichen recht strikten Regeln zur Abwehr von abwertenden Äußerungen über andere Gruppen aufgerichtet werden. Das Gebot, du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten, sollte allerdings in allen Veranstaltungsformen wegweisend sein, wenn auch wie gesagt in unterschiedlicher Strenge angewandt.

Aber dem Populismus und dem darin mitgesetzten Anti-Pluralismus werden wir nur begegnen können, wenn die Streitkultur in unseren Gemeinden und auch in den Gremien bis hin zur Synode sich verbessert und wir die offensive Gestalt des Immer-auch-Unbehaustseins leben. Kommt ins Offene, Freund*innen.[1]

[1]     Friedrich Hölderlin, Der Gang aufs Land. An Landauer. http://www.zeno.org/Literatur/M/H%C3%B6lderlin,+Friedrich/Gedichte/Gedichte+1800-1804/%5BElegien%5D/Der+Gang+aufs+Land